Abstract: Die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Theorien ist ein zentraler Lehrinhalt im Rahmen des Lehramtsstudiums an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien, insbesondere zur sozialen Ungleichheit, stellt eine Grundlage dar, um Fragen von Bildungsungleichheit und deren Reproduktion durch Schule und Unterricht in ihren Ursachen verstehen zu können – und sich im Kontext von Seminaren und Vorlesungen zu reflektieren.
Stichworte: Rollenspiel; Hochschuldidaktik; Kapital; Bourdieu
Inhaltsverzeichnis
Die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Theorien ist ein zentraler Lehrinhalt im Rahmen des Lehramtsstudiums an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien, insbesondere zur sozialen Ungleichheit, stellt eine Grundlage dar, um Fragen von Bildungsungleichheit und deren Reproduktion durch Schule und Unterricht in ihren Ursachen verstehen zu können – und sich im Kontext von Seminaren und Vorlesungen zu reflektieren. Dass auch Lehrpersonen durch ihre schulischen und v.a. unterrichtlichen Handlungen an der Tradierung sozialer Ungleichheit beteiligt sind, ist ein Fakt, den Studierende häufig nur ungern bzw. schwer akzeptieren; steht er doch im Widerspruch zu ihrem Bemühen, allen Kindern und Jugendlichen Lern- und Bildungsmöglichkeiten sowohl differenziert als auch gerecht zukommen zu lassen und zu eröffnen.
Im Kontext des Lehramtsstudiums wird die Auseinandersetzung mit soziologischen Theoriezugängen an den Zielen orientiert, Schule als Organisation im Kontext der Gesellschaft zu betrachten und ein theoretisch begründetes Verständnis dafür zu entwickeln, wie soziale Ungleichheit in Gesellschaft und Schule (re)produziert wird. Dieses Wissen dient als Reflexionsfolie, um die schulischen und unterrichtlichen Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Studierenden, als angehende Lehrpersonen, mit ihnen zu reflektieren und ist mit dem Vorhaben verknüpft, v.a. jene schulischen und unterrichtlichen Strukturen und Praktiken zu erkennen und zu hinterfragen, die zur Reproduktion von sozialer und Bildungsungleichheit in Schule und Unterricht beitragen (vgl. Sturm 2013: 128ff.).
Vor diesem Hintergrund sind Lehre und Hochschuldidaktik herausgefordert, Studierenden Möglichkeiten zu eröffnen, sich mit soziologischen Theorien auseinanderzusetzen und deren Reflexionspotenziale für didaktische Handlungen im Kontext Schule kennen zu lernen. Zugleich ist es Aufgabe der Lehrenden, den Studierenden verschiedene Lernzugänge zu Inhalten zu eröffnen. Dies – und die Tatsache, dass diese Thematik bei uns in den ersten Semestern vorgesehen ist, in denen viele Studierende hochschulische Lehr-Lernformen gegenüber denen der Schule noch nicht verinnerlicht haben – hat uns veranlasst, neben der Lektüre und Diskussion von Texten, nach alternativen Möglichkeiten der Vermittlung soziologischer Grundlagen zu suchen.
An unserer Hochschule, der PH FHNW, obliegt uns die Gestaltung der Modulgruppe „Inklusive Bildung“, die in den Lehramtsstudiengängen Vor- und Primarstufe, Primarstufe und Sekundarstufe 1 ausgebracht wird. Neben einer einführenden Vorlesung in das Thema in den ersten Studiensemestern besteht die Modulgruppe aus zwei Seminaren und einem Leistungsnachweis. Die als Einführung konzipierte Vorlesung trägt den Titel ‚Gesellschaft, Schule und Inklusion’ und umfasst u.a. die Kompetenzziele ‚Schule und Gesellschaft als Behinderung hervorbringend erkennen’ und ‚Behinderung verstehen’. Für die Vorlesung, die von bis zu 100 Studierenden besucht wird, haben wir ein Simulationsspiel entwickelt, das den Studierenden den Zugang zu Bourdieus (2005, 2001; Bourdieu & Passeron 1971) theoretischen Überlegungen zur ‚Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule’ in handelnder und affektiver Hinsicht eröffnen soll. Das Simulationsspiel ersetzt die Lektüre der entsprechenden Fachliteratur nicht, kann aber den Auftakt der Auseinandersetzung mit ihr darstellen. In diesem Sinn soll das Spiel für die Themen sozialer und Bildungsungleichheit sowie den Zusammenhang von Bildung und Ungleichheit sensibilisieren und die Studierenden anregen, Fragen und Interesse an diesem Themenkomplex zu entwickeln, die im Verlauf der Lehrveranstaltung diskutiert und bearbeitet werden können. Ziel unseres Beitrags ist es, das von uns konzipierte Simulationsspiel entlang seiner theoretischen Implikationen sowie seines Aufbaus und Verlaufs vorzustellen (Abschnitte 2 bis 4); diese werden angereichert und illustriert mit Erfahrungen von Studierenden und Lehrenden (Abschnitt 5). Der Beitrag endet mit Perspektiven für Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Simulationsspielen zur Vermittlung soziologischer Theorien als hochschuldidaktisches Medium im Kontext tertiärer Bildungsorganisationen (Abschnitte 6 und 7).
Der Einsatz von Simulationsspielen, die im deutschsprachigen Raum häufig synonym zu Planspielen verwendet werden, hat im Kontext von (hochschulischer) Bildung zwar eine Tradition, allerdings im Bereich strategischer Planungen und Entscheidungen. Simulationsspiele werden vielfach eingesetzt, um politische, gesellschaftliche und/oder historische Prozesse bewusst zu machen, schwierige Entscheidungs- und Konfliktsituationen zu simulieren, um den Spielenden die Möglichkeit zu eröffnen, unterschiedliche Lösungsvarianten durchzuspielen, zu erproben und zu vergleichen (vgl. Geuting 2000: 16). Der Einsatz und die Konstruktion von Simulationsspielen im Kontext der Vermittlung soziologischer Theorie in sozialwissenschaftlichen oder erziehungswissenschaftlichen Studiengänge ist mithin eine Besonderheit, die, wie zu zeigen sein wird, einige Anpassungen und Reflexionen erfordert.
Simulationsspiele sind eine Mischform aus den drei Komponenten Simulation, Rollen- und Regelspiel, die einander überformen. Simulation verweist auf das konstruierte Modell eines Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, mit seinen Akteur/-innen, Organisationen und wechselnden Situationen. Diese Simulation stellt die „Bühne der Spielhandlung“ (Geuting 2000: 16) dar. Trotz der Realitätsreduktion, die ein Spiel mit sich bringt, erscheint die Situation realistisch. Für die Konstruktion von Spielen bedeutet dies, dass hypothetische Annahmen sozialer Zusammenhänge zugrunde gelegt werden. Dies ist ein Aspekt, der es erschwert, und der mit den Studierenden zu reflektieren ist, soziale Zusammenhänge nicht als deterministisch zu verstehen. Durch die Rollen, in denen die Spielenden agieren, werden Entscheidungen und Handlungen in der Lebenswelt der Akteur/-innen simuliert. Für letzteres eröffnet sich die Möglichkeit, den jeweiligen sozialen Wirklichkeitsausschnitt nicht nur aus der Distanz oder als theoretische Option zu betrachten, sondern sich auch affektiv auseinanderzusetzen. Regelspielkomponenten überformen das Simulationsspiel z.B. in Form von Spielrunden und Spielzügen sowie Entscheidungszwängen. Ein viertes Charakteristikum von Simulationsspielen ist deren Medialisierung, die sich durch konkrete, anschauliche Materialien auszeichnet. Dabei stellen Simulationsspiele idealisierte Modelle dar, die sich durch deduktive Ableitungen hypothetischer Annahmen einerseits und konkrete Fallbeispiele anderseits auszeichnen. Beide eröffnen für sich und in ihrer Verbindung Ansatzpunkte für Lern- und Reflexionsmöglichkeiten im Kontext der Hochschullehre (vgl. Geuting 2000: 16ff.).
Simulationsspiele werden vielfach in Verbindung mit dem didaktischen Ziel der Erweiterung reflexiver Handlungskompetenzen und theoretischer Kenntnisse eingesetzt. Sie sollen komplexe Handlungen und komplizierte Entscheidungszusammenhänge erfahrbar machen. Auch wenn sie Realerfahrungen nicht ersetzen können, eröffnen sie durch die Handlungssimulation eine Auseinandersetzung mit diesen. Die Konzeption von Planspielen erfordert die Eröffnung eines Handlungsrahmens, der den Spielenden sowohl Einschränkungen ihrer Handlungsoptionen, durch die Regeln, als auch Entscheidungsräume eröffnet. Mit anderen Worten, die Spielenden sollen eine Balance von Freiheit und Begrenzung entlang der Rollen erfahren können. Der Spielcharakter trägt zumeist dazu bei, dass die Spielenden eine größere Risikobereitschaft für Lösungen an den Tag legen, als es im Alltag der Fall wäre, da sie keine (benachteiligenden) Folgen über das Spiel hinaus zu erwarten haben. Simulationsspiele sollen somit nicht nur rationale, sondern auch emotionale Begründungen für Spielzüge, die an unterschiedliche soziale Normen ausgerichtet sind, eröffnen (vgl. Geuting 2000: 35ff.).
Drei Phasen kennzeichnen Simulationsspiele: Vorbereitung, Durchführung und Auswertung, von denen sich die letzte in zwei Unterphasen gliedert, eine Spielanalyse und eine kritische Auseinandersetzung. Letztere umfasst die Prüfung der Gültigkeit und damit auch ein Abgleich des Spielergebnisses mit Theorien sowie deren Übertragbarkeit und Anwendung gegenüber der erfahrenen Praxis auf die Realität (vgl. Geuting 2000: 39). Im hochschulischen und universitären Kontext stellt der letztgenannte Bereich den Kern des Einsatzes von Simulationsspielen dar, der zugleich als Ausgangspunkt für die weitere Bearbeitung des Themas herangezogen werden kann. Zugleich eröffnet sie dem/der Dozierende/n einen diagnostischen Blick auf die Auseinandersetzung der Studierenden mit dem im Spiel bearbeiteten Ausschnitt sozialer Wirklichkeit und ihrem theoretischen Verständnissen.
Es gibt nur wenige Simulationsspiele, die, ähnlich dem unsrigen Interesse, konzipiert wurden, um in der Hochschullehre soziologische Zusammenhänge zu vermitteln (vgl. Norris 2013; Übersicht: Geuting 2000: 25ff). Vergleichbar unserem Vorgehen konzipiert Norris (2013) ein Simulationsspiel, mit dem Ziel, Studierende für die gesellschaftlichen Ursachen sozialer Ungleichheit zu sensibilisieren.
Eine zentrale, theoretisch fundierte, Aussage Bourdieus (2001: 25) lautet, dass die Konstitution des Schulsystems ein wirksamer Faktor zur Aufrechterhaltung und Legitimation sozialer Ungleichheit darstellt. Das Schulsystem trägt also dazu bei, die bestehende soziale Ordnung, die gesellschaftliche Stratifikation, aufrecht zu erhalten; und zwar, indem bildungspolitisch ein formales Verständnis von schulischer Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit geltend gemacht wird. Dieses Prinzip, das die gleichen Chancen für alle durch den Besuch der gleichen Schule vorsieht, verschleiert den Blick auf soziale bzw. kulturelle Ungleichheiten der Schüler/-innen (vgl. ebd.: 38ff.). Die Verschleierungsmechanismen sieht Bourdieu (2001:25) in einem komplexen Gefüge gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken verankert.
In dem konzipierten Simulationsspiel sind Bourdieus theoretische Überlegungen zu Habitus, sozialen Klassen, Kapital und sozialen Feldern zentral. Der Habitus stellt die einverleibten, gesellschaftlichen Strukturen dar, die in (je unterschiedlichen) sozialen Feldern und ihren historisch-kulturell je spezifischen Bedingungen, erworben und verinnerlicht werden. Als Produkt des Handelns stellt der Habitus das Erzeugungs- und Ordnungsprinzip dar, mit dem auf die Welt geblickt wird und in ihr gehandelt wird. Dabei wird der Habitus von den sozialen Feldern, in denen sich die Akteur/-innen bewegen, geprägt, die er seinerseits prägt. Dies gilt auch für gesellschaftliche Organisationen, wie z.B. Schulen oder das Feld schulischer Bildung (vgl. Bourdieu 1987, 97ff.).
Soziale Klassen zeichnen sich durch unterschiedliche Positionen im sozialen Raum aus. Letztgenannter stellt einen Raum dar, in dem v.a. entlang viel/wenig Anteil am kulturellen und ökonomischen Gesamtkapital grob vier unterschiedliche Positionen – soziale Klassen – zu unterscheiden sind: z.B. die Position, die sich durch wenig ökonomisches und viel kulturelles Kapital auszeichnet, zu der Bourdieu (1998: 19) u.a. Volksschullehrer/-innen zählt. Die Akteur/-innen einer sozialen Klasse verfügen über gleiche bzw. vergleichbare Mengen und Umfang an Kapital. Da die sozialen Lebensumstände die „Wahrnehmung-, Denk- und Handlungsschemata“ (ebd. 1987: 101) der Menschen prägen, sind diese bei den Personen, mit vergleichbaren Kapitalien (ökonomisch, kulturell, sozial, symbolisch) ähnlich.
Ökonomische Kapitalien stellen all jene Gegenstände oder Materialien dar, die sich direkt in Geld tauschen lassen, wie z.B. Immobilien oder Aktien (vgl. Bourdieu 2005: 52).
Mit Bourdieu sind drei Formen kulturellen Kapitals zu unterscheiden: inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes. Erstgenanntes stellt jenes Kapital dar, das sich Personen ‚einverleiben’, wie z.B. die Beherrschung einer oder mehrerer Sprachen; es kann auch als Bildungskapital bezeichnet werden. Inkorporiertes kulturelles Kapital kann nicht unmittelbar von einer Generation an die nächste vererbt werden, sondern ist individuell zu erwerben. Anders ist dies beim objektivierten Kulturkapital, zu dem Bilder, Bücher und Instrumente zählen. Als Wertgegenstände können sie von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, sie zu verstehen und/oder nutzen zu können, jedoch nicht. Das institutionalisierte Kulturkapital stellt Zertifikate, Zeugnisse oder Titel dar, die von Bildungsorganisationen verliehen werden (vgl. Bourdieu 2005: 52ff.).
Die Gesamtheit der Beziehungen einer Person und die mit ihnen verbundenen Ressourcen in Form von Kredit, z.B. Familien- oder Parteizugehörigkeit, werden als soziales Kapital bezeichnet (vgl. ebd.: 63).
Im Gegensatz zu den drei anderen Kapitalsorten stellt das symbolische Kapital eine Art „Metakapital“ (Lorenz & Lépine 2014: 46) dar. Die anderen drei Kapitalsorten ‚funktionieren’ nur dadurch, dass sie als wertvoll angesehen werden (vgl. Bourdieu 1987: 205ff.). So konstatierte Gogolin (2008) der deutschen Schule einen ‚monolingualen Habitus’, die die Mehrsprachigkeit eines Großteils ihrer Schülerschaft nicht als Kapital anerkennt.
Kapital stellt akkumulierte Arbeit dar, die entweder von einem selbst in Form von Zeit aufgewendet wurde oder (familiär) vererbt wird bzw. werden kann. Kapital kann durch (Transformations-)Arbeit in materieller oder korporierter Form angeeignet werden. Transformationen verweisen darauf, dass Personen Kapital einer Sorte einsetzen, um das einer anderen zu erwerben, z.B. können Zeit und Geld für ein Bildungszertifikat investiert werden, um es anschließend in eine Anstellung ‚zu verwandeln’, die ihrerseits ökonomisches Kapital einbringt (vgl. Bourdieu 2005: 49). Diese Transformationsarbeit ist mit Risiken verbunden, da der Erwerb eines Bildungszertifikats nicht notwendigerweise in eine Anstellung münden muss.
Soziale Felder stellen, Bourdieu (1982: 164) folgend, Spielfelder dar, in denen die Akteur/-innen um die beste Position bzw. um die herrschende Position kämpfen. Das, was in einem Feld als Kapital anerkannt wird, unterscheidet sich ebenso wie die Sache, um die gerungen wird. Die Wissenschaft, die Kunst oder auch die Schule sind Beispiele sozialer Felder. Im Feld der Schule bestimmen die schulischen ‚Spielregeln’, die in Schulgesetzen, Versetzungsregeln etc. festgehalten sind, und die Habitus der Lehrpersonen, die in Deutschland wie auch in der Schweiz überwiegend aus der Mittelschicht rekrutiert werden, und deren habituelle Vorstellungen schulischer Erwartungen, welche Kapitalien Anerkennung finden und welche nicht (vgl. Bourdieu 2001: 39). So können Schüler/-innen aus privilegierten sozialen Klassen jene Gewohnheiten und Kenntnisse, die sie in ihren Familien kennen lernen und erwerben, unmittelbar in der Schule anwenden und in Bildungskapital umwandeln. Dies kann sich z.B. auf das inkorporierte Verständnis der Sinnhaftigkeit von Lerninhalten respektive „zweckfreier Bildung“ beziehen, die sich z.B. in der Art und Weise, wie über Schule gesprochen wird, zeigt (vgl. ebd.: 30ff.; auch z.B.: Jünger 2008).
Anders als in den skizzierten Überlegungen Bourdieus wird im Schulsystem Schulerfolg ebenso wie Misserfolg meist als ‚natürliche Begabung’ und nicht als Frage der Passung zwischen Erwartungen und Anforderungen erklärt (vgl. Bourdieu 2001: 39).
Ein Spiel kann von 4 bis 6 Spielenden gespielt werden, die insofern keine Gruppen sind, als sie gemeinsame Entscheidungen treffen, sondern die Einzelnen spielen in den Rollen unterschiedlicher Schüler/-innen einer Schulklasse.
In materieller Hinsicht besteht das Spiel aus unterschiedlichen Spielkarten mit verschiedenen Funktionen: Personenkarten, Merkmalskarten, lokale und globale Ereigniskarten und Kapitaljetons.
Mit Personen- und Merkmalskarten werden zu Beginn des Spiels die (sozialen) Rollen der Spielenden festgelegt. Alle Mitspielenden erhalten eine Personenkarte mit einem Vornamen, über den auch ein Geschlecht zugewiesen wird. Durch Ziehen einer entsprechenden Karte erfahren die Spielenden, ob sie zur ‚herrschenden Klasse’, zur ‚Mittelklasse’ oder zur ‚Volksklasse’ (vgl. Bourdieu 1982: 174ff.) gehören. Diese Rollen werden anhand weiterer sozialer Merkmale (Klassenzugehörigkeit, Familienstand, Berufe der Eltern, Wohnverhältnisse, Behinderung(-sart)/Nicht-Behinderung, Herkunft; siehe Abb. 1) differenziert. Dabei ziehen die Spielenden die Merkmale aus ‚klassenspezifischen’ Vorauswahlen. So ist es in der Volksklasse unwahrscheinlicher, das Merkmal ‚in einem Einfamilienhaus lebend’ zugeteilt zu bekommen, als in der herrschenden Klasse, da die Merkmale in der Vorauswahl unterschiedlich häufig enthalten sind. Die Merkmale orientieren sich an jenen Merkmalen, die sowohl von Bourdieu (1982) als auch in den PISA-Studien (Baumert et al. 2001) als für Schule relevante in Bezug auf soziale Ungleichheit herangezogen wurden.
Abbildung 1: Beispiel Personenkarte mit aufgelegten Merkmalskarten
Daran anschließend erhalten die Spielenden auf Grundlage ihrer Personen- und Merkmalskarte eine je von ihrer Statuskombination abhängige Anzahl an Kapitaljetons (kulturell, ökonomisch, symbolisch, sozial), die während des Spiels eingesetzt respektive getauscht werden können.
Verlauf und Ziel des Spiels sind daran orientiert, einerseits so viele Runden wie möglich zu spielen, das symbolisiert den Verbleib und Aufstieg im Schulsystem, andererseits so viel ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital wie möglich anzureichern.
Das Spiel wird durch lokale und globale Ereigniskarten strukturiert und ist in Runden aufgeteilt. In einer Runde ziehen alle Spielenden nacheinander lokale Ereigniskarten. Nachdem alle Spielenden an der Reihe waren, wird eine globale Ereigniskarte gespielt. Die Runde endet mit der Verteilung neuen Kapitals. Die lokalen Ereigniskarten, die sich an einzelne Spielende richten, stellen Aufgaben an die Spielenden, die sie herausfordern, Kapital einzusetzen, um etwas anderes zu erreichen, z.B. ökonomisches Kapital für Nachhilfeunterricht – durch das sich in der Folge das kulturelle Kapital erhöht (siehe Abb. 2).
Die globalen Ereigniskarten richten sich an alle Spielenden, also die ganze ‚Schulklasse’, und stellen Ereignisse dar, die alle – individuell – auffordern, zu handeln (z.B. Test in Mathematik, Sportfest der Schule, bildungspolitische Veränderungen, siehe Abb. 2). Für die optionalen Handlungen erhalten die Spielenden je nach Klassenzugehörigkeit und Aufgabe Kapital und/oder verlieren welches.
Abbildung 2: Beispiel einer lokalen und einer globalen Ereigniskarte
Bourdieu (1982: 164) folgend, verfügen die Akteur/-innen unterschiedlicher sozialer Klassen über einen unterschiedlichen Kapitalumfang. Damit ist der Einsatz von Kapital für jene, die über weniger verfügen als andere mit größeren Risiken verbunden. Dies spitzt sich dadurch zu, dass der Einsatz von Kapital es nicht garantiert, das avisierte Ziel auch zu erreichen. So stellt der Einsatz von ökonomischem Kapital (für Nachhilfe) keine Garantie dafür dar, in der nächsten Klassenarbeit erfolgreich zu sein. Dies wird simuliert, indem z.B. die lokale Ereigniskarte Nachhilfe (siehe Abb. 2) zwar allen die gleiche Möglichkeit eröffnet, sich für Nachhilfeunterricht zu entscheiden (Einsatz ökonomischen Kapitals) und in der Folge kulturelles Kapital zu erhalten. Die Höhe des Ertrages an kulturellem Kapital unterscheidet sich jedoch je nach Klassenzugehörigkeit und simuliert auf diese Art und Weise differente familiäre Voraussetzungen.
Die globalen Ereigniskarten betreffen alle Schüler/-innen, also den ‚Klassenverband’ oder die Region. Diese Karten greifen Bourdieus (2001: 38ff.) Ausführungen zu formaler schulischer Gleichheit auf, indem sie z.B. kulturelles Kapital für Klassenarbeiten fordern. Alle müssen eine gleiche Anzahl an Kapitaljetons abgeben, um daran teilhaben zu können.
Am Ende einer Spielrunde erhalten alle Spielenden neue Kapitaljetons (‚Rundenkapital’), die je nach sozialer Klassenzugehörigkeit unterschiedlich hoch sind. Dies soll außerschulische Kapitalanreicherungen verdeutlichen, wie z.B. die finanzielle Situation der Eltern.
Nach jeder dritten Runde besteht die Möglichkeit, eine Klassenstufe abzuschließen; Voraussetzung hierfür ist der Besitz einer vorgegebenen Anzahl kulturellen Kapitals (Jetons). Kann die Anzahl der Jetons nicht aufgebracht werden, so endet das Spiel für diese/-n Spielende/-n.
Ebenso endet das Spiel für jene, die mit ihrem Kapital nicht mehr auf die globalen Ereignisse reagieren können. Folglich sind sie Spielenden aufgefordert, strategisch zu spielen und die notwendige Menge an Kapital anzureichern, um im Spiel zu bleiben.
Die Spielenden können festlegen, wie viele Klassenstufen bzw. wie viele Runden sie spielen. Beenden mehrere Spielende das Spiel nach abgesprochener Rundenanzahl (vorzeitig), kann das Kapitalvolumen zusammengerechnet und mit dem der anderen verglichen und damit zur Reflexion übergeleitet werden. Alle bisherigen Spielvariationen zeigen, wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen, dass die Schüler/-innen der ‚Volksklasse’ das Spiel verlieren, während die der ‚herrschenden Klasse’ gewinnen.
In universitären und hochschulischen Kontexten, in denen Simulationsspiele als didaktische Medien eingesetzt werden, stellt die Auswertung und Reflexion des Spiels und seines Verlaufs einen Kernbestandteil dar. Dies orientiert sich an zweierlei Zielen: Es sollen zum einen Ergebnisse, Eindrücke und Zusammenhänge mit Theorien verglichen und zum anderen die Übertragbarkeit der Spielzusammenhänge und Ergebnisse auf reale gesellschaftliche, und in unserem Fall schulische und unterrichtliche, Zusammenhänge diskutiert werden (vgl. Geuting 2000: 39).
Folglich ist es nicht Anspruch des Spiels, die theoretischen Ausführungen Bourdieus eins zu eins abzubilden oder widerspruchsfrei darzulegen. Vielmehr ist es daran orientiert, die Studierenden anzuregen, sich mit der Theorie zum einen und schulischer Reproduktion sozialer Ungleichheit zum anderen vertieft und reflektiert auseinanderzusetzen.
Bevor die Auseinandersetzung auf Basis von Texten erfolgt, bieten sich unmittelbar nach dem Spiel folgende Reflexionsfragen an, die zwischen einer eher fallbezogenen Individualebene und einer systemischen, schulischen unterscheiden:
Fallbezogene Individualebene
Ebene der Schule und des Schulsystems
Eine weitere Reflexionsmöglichkeit direkt nach Abschluss des Spiels besteht darin, die Studierenden zu bitten, Regelveränderungen für das Spiel zu formulieren, die notwendig wären, um die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule zu unterbrechen. Dies gibt Anlass für die Auseinandersetzung mit Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit im Kontext von Schule und Unterricht sowie der Gesellschaft; die Veränderungsvorschläge können einzelne lokale oder globale Ereigniskarten betreffen oder das Spiel insgesamt.
Während diese ersten Reflexionsüberlegungen v.a. den affektiven Zugang zum Spiel insbesondere gegenüber den sozialen Rollen fokussieren, sollte der Vergleich mit den theoretischen Überlegungen Bourdieus Fragen der Übertragbarkeit der Spielergebnisse und Zusammenhänge auf die Realität umfassen. Wir haben uns bislang v.a. auf die Texte bzw. Textausschnitte „Die konservative Schule“ (Bourdieu 2005) und „Ökonomisches Kapitel – kulturelles Kapital – soziales Kapital“ (Bourdieu 2001, S. 49ff.) bezogen.
Zentral ist dabei, die Diskrepanzen zwischen einem Spiel, für das Regeln konstituiert wurden, die die Komplexität menschlicher Erfahrungs- und Entscheidungszusammenhänge reduzieren, und dem realen Leben und seiner Komplexität zu thematisieren. Während das Spiel den Verdacht deterministischer „Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987: 101) nahelegt und das Risiko birgt, dass Studierende Stereotype aufbauen oder verfestigen, widersprechen Bourdieus Überlegungen genau dieser Perspektive, ohne dabei die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge zu reduzieren. Dieser Aspekt, so unsere Erfahrung und Empfehlung, ist mit den Studierenden zu diskutieren. Mit anderen Worten, die Reflexion eines Idealmodells, welches das Spiel prinzipiell nahe legt, ist mit der Realität einerseits und der Theorie andererseits zu vergleichen. Dies ist in unserem Fall von doppelter Bedeutung, da Bourdieus Überlegungen ja gerade daran orientiert sind, die Komplexität sozialer Zusammenhänge begrifflich fassbar zu machen.
Das Simulationsspiel, das wir in mehrfacher Ausführung erstellt und vorliegen haben, so dass mehrere Gruppen von Studierenden parallel spielen können, konnten wir schon vielfach in unseren Lehrveranstaltungen einsetzen. Über die Diskussionen im Rahmen der Lehrveranstaltungen hinaus haben wir die Studierenden gebeten, nach dem Spielen und der Diskussion der Texte ihre Erfahrungen in einem offenen Fragebogen festzuhalten. Eine große Mehrheit der Studierenden teilt den Eindruck, dass ihnen zentrale Aspekte von Bourdieus Theorien, die sie im Anschluss im Rahmen der Lehrveranstaltung gelesen und vertieft diskutiert haben, zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Spielerlebnis erfahrbar wurden und sie angeregt wurden, sich vertiefter mit Fragen sozialer Ungleichheit auseinanderzusetzen.
Neben Antworten, die die empathische Ebene, die eng in Bezug an die jeweils eingenommene soziale Rolle im Spiel gesehen wird, betreffen, beziehen sich die Gedanken der Studierenden auf Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung, die – über alle Studierenden hinweg – am Ziel des Abbaus der Ungleichheit sowie deren schulische Reproduktion orientiert ist.
Indem schulbezogene Ereignisse im Spiel unmittelbar in Ungleichheiten mündeten, konnten Benachteiligung und Bevorzugung spezifischer Rollen von den Studierenden im Spielkontext persönlich erfahren werden. Einige berichteten, sie hätten erst durch das Spiel richtig wahrgenommen, wie unabdingbar soziales und ökonomisches Kapital für die Anhäufung von kulturellem Kapital sei. Nicht wenige geben an, sie hätten die Benachteiligung der Volksschicht als ‚zu krass’ wahrgenommen. Diese Aussagen decken sich teilweise mit den Ergebnissen der erwähnten US-amerikanischen Studie (Norris 2013), bei der die simulierte Ungerechtigkeit bei den Spielenden auf Unglauben und Widerstand stießen. Eine unserer Studentinnen schreibt, dass sie durch das Spiel angeregt wurde, ihre Erfahrungen bzw. ihren Lebensweg zu reflektieren und sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen und zu reflektieren.
Schließlich fühlte sich eine Mehrheit der Studierenden durch das Spiel angeregt, zu reflektieren, wie sie als künftige Lehrperson sozialen Ungleichheit und damit einhergehende Benachteiligungen von Schüler/-innen begegnen könnten. Sie seien durch die Erfahrungen im Spiel sensibilisiert worden, den Blick für die sozioökonomische Herkunft der Schülerschaft zu schärfen, sich eigene Vorurteile bewusst zu machen und dies im Kontext der Unterrichtsgestaltung zu reflektieren. Die Herausforderungen, die mit dem Thema sozialer Ungleichheit im Kontext von Schule verbunden sind, reflektiert ein Student wie folgt: „Ich finde es sehr schwierig, angemessen mit sozialer Ungleichheit umzugehen. Das Planspiel hat mich auf jeden Fall angeregt, dieses Thema immer wieder aufzugreifen und v.a. bei der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen.“
Neben diesen Eindrücken zeigen die Antworten der Studierenden ebenso wie unsere Erfahrungen als Lehrende, dass die Studierenden zentrale Fachbegriffe der Theorie Bourdieus im Spiel kennen gelernt haben und diese sicher in Diskussionen anwenden können, z.B. die unterschiedlichen Kapitalien. Weiter wird eine Empathie gegenüber den Kindern/Jugendlichen der sogenannten ‚Volksklasse’ deutlich, deren Erfahrungen werden als ‚schmerzlich’ oder gar ‚hoffnungslos’ beschrieben. Eine Lehrende berichtete, „dass den Studierenden deutlich erfahrbar gemacht werden konnte, wie sich Klassenzugehörigkeit bzw. Herkunftsfamilie auf den Schulerfolg auswirken können“.
Auch war zu beobachten, dass die Studierenden Bourdieus Ausführungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Schule und Unterricht erfahren und dabei soziale Verständnisse von Behinderung heranziehen. Dies stellt ein zentrales Ziel unserer Lehrveranstaltungen dar.
Die Ausführungen zum Spiel und die Erfahrungen seines Einsatzes im Kontext von Lehrveranstaltungen „Inklusiver Bildung“ in Regelstudiengängen bestätigen uns in vielerlei Hinsicht, dass sich das Simulationsspiel eignet, um Studierende für eine Auseinandersetzung mit Fragen sozialer Ungleichheit und deren Reproduktion im Kontext von Schule zu interessieren und zu sensibilisieren. Dies bezieht auch theoretische Fragen der Auseinandersetzung ein. Wir konnten ein Medium entwickeln, das einer heterogenen Studierendenschaft (z.B. theoretisches Vorwissen, Interesse am Thema, biografische Erfahrungen) Zugang zu einem komplexen und zugleich wichtigen Lehrinhalt eröffnet.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Notwendigkeit der reflexiven Einbettung des Spiels in den Kontext der Lehrveranstaltung. Es kann Ausgangspunkt für Themen und Fragen sein, die Lehramtsstudierende sich stellen und die im Rahmen der konkreten Lehrveranstaltung und/oder des Studiums aufgegriffen werden können. Im Zusammenhang unserer Lehre sind es Fragen zum Thema schulischer und unterrichtlicher Inklusion. Dies kann am Spiel direkt, aber auch wiederkehrend in der Lehrveranstaltung aufgegriffen werden, z.B. wenn der Index für Inklusion (vgl. Booth & Ainscow 2011; Hinz & Boban 2003) als Schulentwicklungsinstrument verhandelt und diskutiert wird. So kann gefragt werden, welche Spielregeln sich ändern, wenn eine Schule ihren Entwicklungsprozess an dem Instrument orientiert. Auch kann das Spiel genutzt werden, um Ideen der Studierenden zu simulieren, wie Schule und Unterricht zu gestalten wären, um weniger als aktuell die Reproduktion sozialer Ungleichheit zu fördern. Die Studierenden können überlegen, welche Regeln geändert werden müssten, um dies zu erreichen und das Spiel anschließend nach diesen Regeln spielen. Das kann dann wiederum entlang weiterer theoretischer Überlegungen reflektiert werden. Auch kann das Spiel die Studierenden dazu anregen, Simulationsspiele für andere komplexe, soziologische Theorien zu erstellen.
Bezogen auf Fragen schulischer Inklusion, die in unseren Lehrveranstaltungen im Zentrum stehen, eröffnet das Spiel die Perspektive auf ein soziales Verständnis von Behinderung, wie es sich in der UN-BRK (2006; 2008) findet (vgl. Bielefeldt 2009) und in der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskussion ebenfalls geltend gemacht wird (vgl. z.B. Tervooren 2000; Wagner-Willi & Sturm 2012). Solche Perspektiven werden veranschaulicht und erfahrbar gemacht. Dies beinhaltet den Abbau eines essentialistischen oder ontologischen Verständnisses von Behinderung (vgl. kritisch: Weisser 2007), das vielfach alltagssprachlich zu finden ist, aber auch in bildungspolitischen und schulischen Dokumenten.
Hier finden Sie die benötigten Materialien des Spiels zum Download.