Sven Bärmig: Theoretische Perspektiven auf Sonderpädagogik und Inklusion

Abstract: Das Verhältnis von allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik ist noch immer ungeklärt und so ist auch die Frage der Inklusion weiterhin schwer zu verorten. Der Beitrag zeigt die bildungstheoretische Option (Moser) als Möglichkeit, über Inklusion nachzudenken. Die begriffliche Verankerung mit Elementen kritischer (Bildungs-)Theorie ist als Grundlage einer Annäherung zu verstehen.

Stichworte: Bildung; Theorie der Inklusion; kritische Theorie

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Wissenschaftstheorie
  3. Inklusion/Exklusion
  4. Schule
  5. Bildung
  6. Didaktik
  7. Fazit: Dialektik der Inklusion
  8. Literatur

 

1 Einleitung

Ausgangspunkt für diesen Text war die Diskussion um oder über Theorie auf der IFO-Tagung 2016 in Bielefeld, bei der ein doch überraschend großes Interesse an theoretischen Inhalten zu bemerken war. Und doch trifft das nur zum Teil zu, denn auf der anderen Seite scheint ‚Theoriefeindschaft‘ trotz allem verbreitet. Was das für den Kontext der Sonderpädagogik heißt, wird deutlich, wenn man zwei Texte mit dem gleichen Gegenstand gegeneinander hält. Gemeint ist zum einen Hillenbrands (2016) Stichworttext zur Wissenschaftstheorie im Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik und zum anderen Jantzens (2010) Einführungstext zur Systematik des Fachs im Band 1 des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik, das sich der Wissenschaftstheorie widmet. Es geht  hier nicht darum, die beiden Texte zu referieren, sondern um ihren Aussagegehalt. Am erstaunlichsten ist dabei das von Hillenbrand benannte Fazit. Verstehe ich ihn richtig, wirft er nämlich die Frage auf, ob sich die Beschäftigung mit (Wissenschafts-)Theorie überhaupt lohne. Dem steht (nicht ausschließlich, aber hier beispielhaft) die umfangreiche Darstellung des Handbuchs als ein Versuch gegenüber, eine fundierte sozialwissenschaftliche Theorie zu entwerfen. Damit bin ich bei der Frage der Theorie. Gegenüber dem Versuch mit einer synthetischen Humanwissenschaft (Jantzen) dem komplexen Gegenstand des Mensch-Seins in der Menschheit eine entsprechende Theorie an die Seite zu stellen, ist der Versuch, weitgehend auf Theorie zu verzichten, reduktionistisch und entspricht einer fragwürdigen Sicht auf das professionelle Selbstverständnis.
So möchte ich zunächst mit einer Verortung von Theorie innerhalb der Wissenschaft beginnen, wobei ich kurz anreißen möchte, was mit der Idee einer kritischen Theorie verbunden werden kann. Anschließend stelle ich für den Gegenstand der Inklusion im Verhältnis der Sonderpädagogik zur Allgemeinen Pädagogik einen Vorschlag von Vera Moser in den Mittelpunkt, der meines Erachtens helfen kann, den Fokus weg vom metaphorischen hin zur grundlagentheoretischen Verankerung von Inklusion vorzunehmen.

 

 

2 Wissenschaftstheorie

Im Sinne kritischer Theorie[1] ist festzuhalten, dass Gesellschaft der wesentliche Bezugspunkt jeglicher Theorie sein muss. Eine bestimmte Gesellschaft in einer bestimmten historischen Epoche bringt bestimmte Formen der Auseinandersetzung mit der natürlichen und sozialen Welt hervor. Dies trifft auf Wissenschaft als einer spezifischen Weise der Auseinandersetzung ebenso zu. Kennzeichnend für Wissenschaft ist, vereinfacht gesprochen, eine Beschreibung des jeweiligen spezifischen Gegenstandes mittels Modellen und Begriffen, die es ermöglichen sollen,  genauer und gezielter Phänomene der Welt zu analysieren und Hypothesen und Schlussfolgerungen zu ziehen.[2] Wie ich mich den Problemen und Phänomen nähere, welche Methoden ich zur Erkenntnisgewinnung anwende und welche Hypothesen überprüft werden, ist bereits voraussetzungsvoll. Hier öffnet sich der Graben zwischen traditioneller und kritischer Theorie (der Sozialwissenschaften), denn kritisches Denken bedeutet zum einen, sich weniger mit Fakten in die bestehende Ordnung einzufügen, als neben der Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Stellung die Idee einer anderen Gesellschaft wenigstens mitdenken zu können (Horkheimer 1970, Jantzen 2010).
Wissenschaft ist Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, ihre gesellschaftliche Funktion ist zu reflektieren. Zu beachten ist dabei der Fokus auf Wahrheit und Vernunft, die in einer irrationalen Gesellschaft nicht einfach angenommen werden können. Hier ist der Hinweis von Bedeutung, Theorie auch danach zu beurteilen, ob sie Dimensionen der Vernunft ausreichend analysiert, oder ob sie nicht an ihrer Instrumentalisierung mitarbeitet. Im Denken über den Menschen – in den Sozialwissenschaften ein zentraler Aspekt – klaffen Subjekt und Objekt auseinander. Die Identität der Gesellschaft als deren Grundlage liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart, gerade weil die Erkenntnis innerhalb irrationaler Strukturen geschieht. Kritisches Denken ist durch den Versuch motiviert „über die Spannung real hinauszugelangen, den Gegensatz zwischen der im Individuum angelegten Zielbewusstheit, Spontaneität, Vernünftigkeit und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses aufzuheben. Das kritische Denken enthält einen Begriff des Menschen, der sich selbst widerstreitet, solange diese Identität nicht hergestellt ist. Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis von Herrschaft, welche das Dasein der Individuen bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht“ (Horkheimer 1970, 159). Kritisches Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt, es ist weder Funktion eines isolierten Individuums noch eine der Allgemeinheit von Individuen. „Es hat vielmehr bewusst ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen und Gruppen, in seiner Auseinandersetzung mit einer bestimmten Klasse und schließlich in der so vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur zum Subjekt“ (Horkheimer 1970,159f).
Besonders hilfreich ist dabei eine dialektische Sichtweise, die bestehende gesellschaftliche Dynamiken in der Theorie nachvollzieht oder sie vorantreibt. Die Dialektik des kritischen Denkens gilt entsprechend auch für die Intellektuellen, die in ihrem Denken den Zwiespalt aufheben müssen, damit der zeitweilige Gegensatz zu den Massen, diese nicht „blinder“ macht, als sie sein müssen. Besteht kritische Theorie lediglich in der Formulierung der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen der eigenen Klasse, existiert auch keine strukturelle Differenz gegenüber der eigenen Fachwissenschaft. Zum anderen heißt kritisches Denken, Theorie praktisch zu wenden, Erkanntes auch praktisch zu verwirklichen, ohne in die Illusion einer vollen Praktizierbarkeit zu verfallen. Dialektik in der Theorie bedeutet, dass sowohl die Ursprungsidee, die verloren gegangen ist, als auch die teleologische Sicht, dass alles zu einem Ende (Ideal) hinführt, zu Irrationalität und Verkennung führen (Adorno, 2015). Dialektik bedeutet weiterhin, dass weniger die Anschauungen von außen an den Gegenstand herangetragen, sondern die immanenten Problematiken herausgearbeitet werden. Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind miteinander zu verbinden, als miteinander vermittelt zu begreifen. Der Erkenntnisgegenstand selbst, über den man sich zu verständigen hat, ist widersprüchlich, insbesondere in der Komplexität des sozialen Zusammenhangs. Ein Grund liegt auch in der Schwierigkeit des erkenntnistheoretischen Zugangs über Begriffe und Definitionen, die selbst nie mit der sie beschreibenden Realität in eins gesetzt werden können. „Das dialektische Denken als ein Denken in Widerspruch und Umschlag ist als solches der Vorstellung einer geradlinigen Entwicklung, einer unmittelbar kontinuierlich verlaufenden Entwicklung notwendig entgegengesetzt. Dass die Prozesse – und hier handelt es sich vor allem um die geschichtlichen Prozesse – in sich selbst widerspruchsvolle Prozesse sind, dass sie geradezu in der Entfaltung von Widersprüchen bestehen, das schließt von vornherein die Idee eines geradlinigen ungebrochenen Fortschritts ebenso aus, wie es umgekehrt die Vorstellung einer gesellschaftlichen Statik und Invarianz ausschließt“ (Adorno, 2015, 204). Dies betrifft Inklusion, ihre Entwicklung als schulische innerhalb eines umkämpften Bildungs- und Erziehungssystems im Verhältnis von Sonderpädagogik und Allgemeiner Pädagogik ebenso wie als außerschulische Variante gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse. Der Überhöhung der Inklusion entspricht auf der Gegenseite ihre konsequente Ablehnung. Mit Ritserts Verweis auf Probleme und Interessen in der gesellschaftlichen Vermittlung verbindet sich die Hoffnung über spezifische „Konstellationen“ zwischen subjektiven Antrieben einzelner und der objektiven Lage im gesellschaftlichen Zusammenhang einen Ausgleich zu finden. Dabei gibt es keine fertigen Schemata oder Formeln in der Bearbeitung dieser Probleme, sondern dies muss, durchaus auch im Sinne von „trial and error“, immer wieder neu gefunden werden. Basis ist jedoch die Übereinkunft in Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit (Ritsert 2004).
Wesentliche Einsichten in die Widersprüche gesellschaftlicher Entwicklung, die Differenz von Theorie und Praxis bilden die Ausgangslage der Beschäftigung mit theoretischen Elementen auch für die Sonderpädagogik als Handlungswissenschaft (Gröschke 2007). Feindschaft gegenüber Theorie, gegen das Theoretische an sich, richtet sich nach Horkheimer gegen die verändernde Aktivität, die mit kritischem Denken verbunden ist. In der Verkürzung auf Empirie oder reine Anschauung wird sie zur Ideologie. „Die undifferenzierte Feindschaft gegen die Theorie bedeutet daher ein Hemmnis. Wird die theoretische Anstrengung, die im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet und anhand der in den Fachwissenschaften ausgebildeten traditionellen Theorien konstruiert, nicht fortgesetzt, so ist der Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern, der Boden entzogen“ (Horkheimer, 1970, 181). Wie zu sehen ist, gilt die Ideologieanfälligkeit auch für die reine Anschauung im theoretischen Denken. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung mit kritischer Theorie produktiv, weil sie immer wieder auch das Verhältnis von Theorie und Praxis neu bestimmt. Kritik in den Sozialwissenschaften ist nicht lediglich Selbstkritik als Reflexion über ihre Sätze, Theoreme und Begriffsapparaturen, sie ist zunächst Kritik an der mit ihr zusammenhängenden organisierten Wissenschaft (Adorno 2003c). Bei Adorno taucht auch eine Idee auf, die innerhalb der Soziologie diskutiert wurde: Theorie und Empirie zu trennen, was zu einer empirischen Soziologie und einer theoretischen Sozialphilosophie führen soll. „Demgegenüber kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, dass es bei dem Streit nicht um empirische Forschung oder deren Unterbleiben geht, sondern um ihre Interpretation, um die Stellung, die ihr innerhalb der Soziologie zugewiesen wird“ (Adorno 2003d, 539). Kein/e besonnene/r Sozialwissenschaftler/in kann der empirischen Forschung entraten. Ziel kann nicht sein, ein Ja oder Nein zur Empirie zu behaupten, sondern die Interpretation von Empirie selbst und ihrer Methoden. „Der Empirismus ebenso wie die Dialektik ist einmal Philosophie gewesen. Gesteht man das jedoch zu, so verliert das Wort ‚Philosophie‘, das man uns entgegenhält, als wäre es eine Schande, seinen Schrecken und enthüllt sich als Bedingung ebenso wie als Ziel einer Wissenschaft, die mehr sein will denn bloße Technik und die technokratischer Herrschaft nicht sich beugt“ (Adorno 2003d, 546).[3] An anderer Stelle schreibt Adorno zum Verhältnis von Theorie und Praxis, dass deren Verhältnis als Einheit durchaus zu einer „Art Zensur der Theorie durch die Praxis führt“ (Adorno 2003e, 579). Dadurch unterbleibt die für eine sinnvolle Praxis notwendige gesellschaftliche Analyse. Als Konsequenz benennt Adorno gleichfalls, „dass man, wenn man in einem beschränkten sogenannten konkreten Bereich – und wer möchte heutzutage nicht konkret sein – etwas zu ändern versucht, fast mit abstrakter Notwendigkeit, mit einer Regelhaftigkeit, die den Charakter der lähmenden Stereotypie hat, auf Grenzen einer solchen partikularen Praxis stößt“ (Adorno 2003e, 579). Die unmittelbar verknüpfte Einsicht betrifft die Bestimmung des Lebens der Menschen, die als vermittelt in den und durch die Institutionen betrachtet werden muss. Aufgabe einer aktuellen Soziologie wäre nach Adorno, diese Vermitteltheit anzuerkennen und zu übersetzen. Besonders das Fehlen der Unmittelbarkeit führt zur terminologischen Ungenauigkeit und damit zur Verwässerung der schwieriger gewordenen Situation und Analyse. In diesem Sinne gilt es die Begriffe „subjektiv“ und „objektiv“ genau zu umreissen. „Objektiv“ meint die Erkenntnis der Strukturen von Gesellschaft, die ihr selbst entnommen sind und nicht einem szientifischen Bedürfnis des Soziologen oder den Ordnungsschemata der szientifischen Organisation der Soziologie entspringen. „Subjektivität“ als szientifische Kategorie bedeutet die Ordnungsschemata der klassifikatorischen Wissenschaft als Medien der Erkenntnis und die subjektiven Daten, die für einzelne Bereiche gewonnen werden, als Widerspiegelung der objektiven Tatsachen zu betrachten. Sowohl der theoretische Begriff als auch die empirischen Daten sprechen nicht für sich allein. Einzeltatsachen sind mit dem Strukturzusammenhang, mit der Gesellschaft als solcher, zusammenzubringen (Adorno 2003e).
Auch wenn Adorno dies für die Soziologie beschreibt, ist zu erkennen, was das für beispielsweise (Sonder)Pädagogik heißen kann. Geht es darum, Programme zu entwickeln, wie sich Schülerinnen und Schüler besser in die bestehenden Strukturen des Bildungssystems integrieren können oder steht nicht auch die Frage auf dem Spiel, was denn das Bildungssystem leistet oder leisten soll. Legt man Inklusion als normativen Wertmaßstab an, sind Fragen von Gerechtigkeit im Bildungssystem zu stellen. Und: dies betrifft die Diskussion um Inklusion/Exklusion als theoretische Bezugspunkte ebenfalls. Dann reicht es nicht, die Begrifflichkeiten terminologisch mit wenigen Verweisen auf aktuelle Literatur festzulegen, sondern es ist angezeigt, im Sinne der dialektischen Gestalt von Theorie den analytischen Gehalt der Begriffe darzulegen und zu prüfen, ob sie die Phänomene des Bildungssystems tatsächlich zum Sprechen bringen.[4]
Ohne einen historischen Exkurs zu unternehmen, aber den Gedankengang dennoch an dieser Stelle abzuschließen, wäre eine Ausgangsposition zu bestimmen für das Verhältnis der Wissenschaftsdisziplinen Pädagogik, Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik zu Inklusion und Exklusion. Ricken (2010) spricht von einer ambivalenten Situation der Allgemeinen Pädagogik, da es kein verbindliches Fundament gibt, um die kategorialen Verwirrungen und unterschiedlichen grundlagentheoretischen Forschungen wieder aufzunehmen. „Für Aufbrüche dieser Art aber scheint der Titel ‚Allgemeine Pädagogik‘ – auch und gerade wegen seiner Erblast – nicht mehr angemessen zu sein; die Aufgabe der ‚Allgemeinen Pädagogik‘ jedoch, eine ‚Landkarte‘ (Herbart) pädagogischer Problemstellungen zu skizzieren, derer der pädagogisch-reflexiv Tätige wie Forschende – wenn auch unterschiedlich – für sich bedarf, ist damit jedoch keineswegs abgegolten oder gar erledigt“ (Ricken, 2010, 15f). Zu erklären ist diese eigenartige Situation durch die disziplinäre Differenzierung, die als Erblast auch auf die Sonderpädagogik zurückwirkt (Dammer 2012). Denn ob Inklusion als besonderes Merkmal der Sonderpädagogik gilt oder ob Inklusion als pädagogische Problemstellung einer Allgemeinen Pädagogik auf der Landkarte erscheint, ist dann doch ein Unterschied, auch wenn Dammer ebenfalls die Frage aufwirft, ob ein Allgemeines der Pädagogik überhaupt bestimmbar ist (Dammer 2012, 353).
Für die Sonderpädagogik stellt sich die Frage nach einer ‚Selbstaufklärung‘ auf neue Art , „und zwar hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung und damit auch ihrer Platzierung als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, sowie ihres Anschlusses an die funktionale Ausrichtung des Erziehungssystems, also dessen Relevanz im Kontext anderer gesellschaftlicher Teilsysteme“ (Moser, 2003, 8). Vera Moser hat in einer der differenziertesten Darstellungen zur Systematik des Fachs zwei Vorschläge dieser Platzierung gemacht, eine bildungstheoretische und eine handlungstheoretische, die ich hier näher ausformulieren möchte. Sie hat zu Recht problematisiert, dass die Orientierung an Behinderung als Leitkategorie diese Spaltung von Allgemeinem und Besonderen immer wieder aufs Neue hervorbringt.
Ihr Vorschlag mit Hilfe der zwei Optionen Inklusion zu verankern, ist in der allgemeinen Diskussion um Inklusion untergegangen[5]. Ihre Thematisierung von Inklusion hat mehrere Vorteile. Erstens wird nicht weiterhin auf der unklaren Analysebasis des Inklusionsbegriffs argumentiert, sondern dessen Einordnung in die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung erfolgt über zentrale Begriffe des Bildungssystems. Zweitens ergeben sich mit dieser Einordnung die notwendigen Verknüpfungen mit anderen Nachbardisziplinen bzw. der Allgemeinen Pädagogik. Drittens ist diese Vorgehensweise thematisch offen. Das heißt, sie ist in ihrer Anlage nicht auf einzelne theoretische Konzepte beschränkt, auch wenn die Arbeit selbst einen systemtheoretischen Fokus enthält. Ich verfolge hier zunächst nur die bildungstheoretische Option, die Moser (2003) für die Disziplin vorschlägt[6], weil der Fokus zunächst auch hier auf Schule liegt. Sie hat jedoch Auswirkungen auf das Bildungssystem, denn wenn Schule auf Autonomie und Mündigkeit abzielt und dies für alle anstrebt, hat dies auch außerschulisch Folgen für die autonome Aneignung der gesellschaftlichen Strukturen.

3 Inklusion/Exklusion

Da Moser die Zielperspektive der Inklusion in den Mittelpunkt stellt, ist es notwendig die Diskussion zur Inklusion wenigstens anzureißen. Kronauer (2013) skizziert zwei getrennte Debatten um Inklusion als Ausdruck für die Veränderung ausgrenzender Verhältnisse innerhalb tendenziell zur Schließung[7] neigender Institutionen und zur Exklusion als gesellschaftliches Problem der gesellschaftlichen Spaltung. Kronauer verweist auf die soziologische Theorie der sozialen Schließung, die es ermöglicht, unterschiedliche Institutionen und Organisationen mit Kriterien wie Durchlässigkeit, Zugangsvoraussetzungen, Formalisierung, Zeit und Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse Inklusion und Exklusion zu analysieren (Kronauer 2012).
Allerdings ist die Diskussion zum Begriff der Inklusion nahezu unüberschaubar, da er als Containerbegriff für gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre ebenso herhalten muss wie als utopisches Konstrukt einer erst zu verwirklichenden (schulischen oder gesellschaftlichen?) Entwicklung. Dabei bleibt er analytisch oftmals sehr unbestimmt, Realität und Anspruch verschwimmen. Ganz aktuell beschreibt Harant (2016) dies als Postulatepädagogik mit soziologischer Abstinenz, die oftmals einen Gemeinschaftsbezug herstellt, der den unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und damit bestehenden Herrschaftsformen lediglich durch eine idealistische Vorstellung gesellschaftlicher Harmonie begegnet. Zum anderen geraten in der Pädagogik der De-Kategorisierung ebenso schnell die Herrschafts- und Normalisierungsprozesse aus dem Blick. Seine eigene Verortung benennt er als ein idealistisch-prinzipienorientiertes „Mindset“, in dem sich in der Orientierung an Bildsamkeit und Vernunft Reflexionsbegriffe finden lassen. Allerdings versäumt er, dies dann gleich selbst mit der Bildungsidee ins Verhältnis zu setzen, was seinem Anspruch einer materialistischen Verankerung in die Erziehungswissenschaft sehr nahe kommen würde.[8]
Mit Stichweh (2013) ist allgemein zunächst auf die hierarchische Opposition beider Begriffe und damit auf etwas hinzuweisen, was Ritsert (2004) als Statik (Reproduktion von Prozessen) und Dynamik (Veränderung) von Gesellschaft zugleich beschreibt. Der Verweis auf den Unterschied von Systemintegration oder Sozialintegration als soziologische Kategorien, die helfen, Institutionen oder Teilbereiche der Gesellschaft in ihrer unterschiedlichen Gestalt zu unterscheiden, erfolgt nur selten (Kastl 2012). Ebenso wenig wird auf den Komplementärbegriff der Exklusion verwiesen, für den Castel (2012) zeigt, dass auch hier eine genaue Analyse wichtig ist, um den Gegenstand nicht zu verkennen. An Hand dessen lassen sich jedoch auch die Schwierigkeiten aufzeigen, wenn der Gegenstandsbereich nicht klar ist und der nach Kronauer doch besser die Problematik veranschaulicht (Kronauer 2013). Der Exklusionsbegriff hat analytische Unschärfen, weil er in allgemeiner Weise sehr heterogene Prozesse beschreibt[9]. Ob man damit die Lage eines arbeitslos gewordenen Mannes beschreiben möchte oder die von bestimmten Jugendlichen, ist ein beträchtlicher Unterschied. Denn beide „haben weder denselben Lebensweg noch dasselbe Erleben, weder denselben Weltbezug noch die dieselbe Zukunft. Vielleicht kann man sie ‚Ausgeschlossene‘ nennen, wenn man unbedingt will, aber was ist damit an Verständnis gewonnen“ (Castel 2012, 277)? Nicht jedes soziale Problem ist gleich und dies mit dem Begriff (Ausschluss) als Alarmsignal zu beschreiben, lässt den Gesamtkomplex der „sozialen Frage“ verschwimmen und bekämpft anschließend meist die Phänomene statt die Ursachen. Die Folge ist eine Bekämpfung der Individuen statt der strukturellen Bedingungen, weil dies den verfügbaren Mitteln des Sozialstaates entspricht. Betroffene können als Zielgruppen bestimmt und Wiedereingliederungsprogramme entworfen werden. Dies mag auch der Grund für die Popularität des Begriffs sein, er lässt sich gut mit alten Programmen füllen. Denn in der individualistischen Zuschreibung von Ursachen wird die Vermittlung im sozialen Zusammenhang geleugnet. An dieser Stelle hat Analyse einzusetzen und wie diese erfolgt, ist wesentliche Voraussetzung für die Sicht auf den Menschen. Dabei gibt es verschiedene Gruppen wie Irre/Kranke, Verfolgte, Landstreicher, Behinderte und verschiedene Grade des Ausschlusses von völliger Ausgrenzung über Ausgrenzung in von der Gemeinschaft abgetrennte Räume bis zur Zuweisung eines Sonderstatus. „Exklusion erfolgt also weder willkürlich noch zufällig. Sie unterliegt einer Ordnung verkündeter Gründe. (…) Exklusion im eigentlichen Sinne ist also, ob total oder partiell, endgültig oder vorübergehend, stets Resultat amtlicher Prozeduren und stellt einen regelrechten Status dar. Sie ist eine Form negativer Diskriminierung, die strengen Regeln gehorcht“ (Castel 2012, 289). Dies gilt es auf jeden Fall zu beachten, denn hieraus ergeben sich spezifische Schlussfolgerungen für die Frage der Teilhabe bzw. der Inklusion. Auch da stellen sich ganz unterschiedliche Aufgaben und ob ich die Qualität der Teilhabe innerhalb der Sekundarstufe II verfolge oder im Bereich des Wohnens, ist allein schon hinsichtlich der Kategorie Behinderung unterschiedlich. Solche Maßnahmen werfen darüber hinaus die Frage auf, ob sie wirksam sind im Hinblick auf die Integration in die Gesamtgesellschaft[10]. Castel beschreibt dabei einen Diskurs, der seit den 1980er Jahren einen Zwiespalt eröffnet, welcher die ständige Flexibilisierung und Ausrichtung am Marktgeschehen propagiert und gleichzeitig die Notwendigkeit der Mildtätigkeit gegenüber den dort Ausgeschlossenen aufzeigt. Wichtig ist die Analyse der sozialen Faktoren, die dem Ausschluss vorausgehen, um etwa zu erkennen, wie Wirtschaft oder Schule funktionieren, ob und wie sich Solidaritäten auflösen und welchen Anteil daran bspw. auch die sozialen Sicherungssysteme haben.[11]
Ritsert hat darauf hingewiesen, dass Gleichheit als gesamtgesellschaftliche Kategorie mit der Frage zusammenhängt, wann individuelle Unterschiede sozial relevant werden und dass sie in vielen sozialen Gruppen und Institutionen zu Ungleichheiten führen. Sind jedoch Herrschaftsprozesse und ungleiche Machtverteilung sowie fehlender Einfluss auf den sozialen Zusammenhang die Gründe oder wird der „stumme Zwang der Verhältnisse“ nicht mehr reflektiert, dann wird Kritik notwendig (Ritsert 2004).[12]
Ich halte diese Beschreibung deshalb für anschaulich, weil viele der Prozesse, die in der Frage der Inklusion eine Rolle spielen, auf diese Gesamtstruktur der Gesellschaft in einer globalisierten Welt hinweisen. Kapitalistische Marktwirtschaft, die den Nationalstaat überschreitet, hat Auswirkungen auf die Produktionsverhältnisse, die Struktur der Arbeitsbedingungen, auf die Gestaltung des Sozialsystems wie auch des Bildungssystems. Immer wiederkehrende Tests der PISA-Studie in den Schulen sind keine Idee der Bundesländer, sondern ausgehend von der OECD als gesamteuropäische Institution. Und sie hat Folgen für das Bildungssystem der einzelnen Länder bis hin zu den einzelnen Schulen, die den Test mitmachen oder auch auf die Gesetzgebung, die unmittelbar Schlüsse aus dem Abschneiden der Getesteten ziehen. Ähnliches gilt für die Frage unterschiedlicher Gewichtung der Bildungsabschlüsse, wie auch Kompetenzorientierung ein solcher Effekt ist. Forderungen in dieser Weise werden sehr pragmatisch verstanden, immer wieder von Seiten der Wirtschaft eingeklagt, wenn sie sich darüber beschwert, dass Schulabsolventen nicht die nötigen Voraussetzungen für Berufsausbildung mitbringen. Dies führt so weit, dass bspw. Schulabschlüsse entwertet werden, indem das Abitur stillschweigend als Voraussetzung gesetzt wird oder dazu, dass man mit Förderschülern eine sehr gezielte Berufsvorbereitung innerhalb der Schule macht, obwohl sie kaum Möglichkeiten einer Erwerbsarbeit nachgehen werden. Bezogen ist dies alles weiterhin auf eine Gesellschaft und damit auch auf eine Schule, die sich am Arbeitsideal ausrichtet, während viele der Tätigkeiten zunehmend flexibilisiert sind und nebenbei zu einer Prekarisierung führen, weil die Konkurrenz um das knapper werdende „Normalarbeitsverhältnis“ immer größer wird (Nachtwey 2016).[13]
An den gesellschaftlichen Arbeitsverhältnissen ist auch die Sozialpolitik ausgerichtet, in dem die Leistungen, die gewährt werden, mit bestimmten Anforderungen verknüpft („Fördern und Fordern“) sind, obwohl sie eigentlich als Rechtsanspruch gelten. Trotz allem muss festgehalten werden, dass Sozialleistungen in aller Regel die Armut begrenzen, sie also extreme Varianten der Ausschließung verhindern. Sie bestimmen auf der anderen Seite allerdings auch spezifische Lebensverläufe sehr rigide. Für die Personen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ergeben sich bspw. sehr eingeschränkte Möglichkeiten, vom drohenden Risiko der Armut angefangen, über die reduzierten Möglichkeiten der Aneignung gesellschaftlicher Errungenschaften im Bildungssystem, bis hin zur Diskriminierung bzw. Vorenthaltung von Bürgerrechten durch Verweigerung der üblichen Formen den Lebensunterhalt zu sichern. Diese „Institution Geistigbehindertsein“ (Niedecken) hat vielfältige Formen struktureller und personaler Gewalt, die in der Umgestaltung der Lebensverhältnisse in langen und schwierigen Prozessen erst aufgearbeitet werden müssen (Jantzen 2010; Niedecken 2009). Ersichtlich wird hier, dass für die Idee der Inklusion bspw. die Veränderung des Zugangs zu Arbeitsmöglichkeiten ebenso wichtig ist wie die Veränderung des Bildungssystems. Und: die Problematik verweist auf den gesamtgesellschaftlichen Charakter. Behinderung ist eine Kategorie, mit Hilfe der typische Prozesse der Gesamtstruktur gezeigt werden können, wie auch spezifische kategoriale. Aber es hat eben auch Auswirkungen auf die Vorstellung von Bildung, denn Flexibilität heißt nicht, dass die einzelnen mit einer Basis an Kompetenzen die Schule beenden, sondern vielmehr darauf hingezielt wird, beständig umzulernen, was als „Lebenslanges Lernen“ behauptet wird. Bildung und vor allem Zertifikate werden zu einem Instrument der Inklusion, ihr Fehlen zur Exklusion. Ersichtlich dabei wird auch die schichtabhängige Struktur der Gesellschaft, weil die Bildungsinstitutionen bestimmten Gruppen entgegenkommen, während sie für andere sehr schwer zu durchlaufen sind. Darüber hinaus ist die unterstellte Leistungsideologie ausgerichtet an einem spezifischen Ideal des Gymnasiums, welches wiederum bestimmten Vorstellungen von Arbeit und Wissen entspricht.
In der historischen Erforschung oder Analyse der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft unter dem Fokus von Behinderung lassen sich die gesellschaftlichen Modelle vom Individuum ablesen (Dörner 1998, Moser 1998, Ellger-Rüttgardt 2008, Möckel 2007). Sie wird, so Jantzen, als Erfolgsgeschichte der zunehmenden Humanisierung dargestellt (Jantzen 2010; dazu auch Moser 2012). Als Arbeitsgrundlage will ich mit Jantzen festhalten: „Konstituierendes Verhältnis sozialer Realität ist die menschliche Arbeit, verbunden mit Sprache und sozialem Verkehr. Da menschliche Existenz auf Vermittlung mit anderen Menschen angelegt ist, Bindung, Dialog, Kommunikation, sozialer Verkehr, Anerkennung usw. kennzeichnen diese Dimension, stellt sich die Frage, welche Auswirkung die Zerstörung dieses Bands zwischen Individuum und Kultur auf die Entwicklung der Persönlichkeit hat“ (Jantzen 2010, 20). Die materialistische Behindertenpädagogik beschreibt diesen Prozess als Isolation im zweifachen Sinne. Isolation ist das Zusammenwirken von persönlichen, biologischen Voraussetzungen (behindert sein) und den sozialen und natürlichen Bedingungen (behindert werden), die den Grad der Persönlichkeitsentwicklung bestimmen, die individuelle Autonomie in freiheitlicher Inklusion als Prozess der Entwicklung, individueller wie gesellschaftlicher (Jantzen 2010, Feuser 2016). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Humanität der Gesellschaft bestimmen. Mit kritischer Theorie formuliert: Die Gesellschaft wird an ihren Möglichkeiten gemessen, angefangen von den technischen und technologischen Möglichkeiten der Arbeitserleichterung über mögliche technische Hilfen für bestimmte Notlagen bis hin zur Interaktion zwischen den Menschen. Dies gilt auch oder besonders für die Schule. „Die Unmenschlichkeit, um die es geht, ist gerade die, dass die Menschen in ihrem lebendigen Schicksal zu Objekten geworden sind, und es ist nicht die Unmenschlichkeit der Soziologie, die versucht, dies auszusprechen“ (Adorno 2003j: 582). Dies gilt auch für die Pädagogik, die kritisch auf die Vermittlung von Bildung und Autonomie innerhalb des Bildungssystems allgemein und die Stellung der Sonderpädagogik im Besonderen blickt (Jantzen 2102).

4 Schule

„Dass der Mensch nur ‚Mensch’ werden kann durch Erziehung, dass damit die Bestimmung des Menschen in dessen eigene Hand gelegt wird, dass dies eine Verpflichtung für den Umgang mit der nachwachsenden Generation darstellt – eine solche Perspektive verweist auf ein begründbares und damit verantwortliches Handeln der Erzieher“ (Schäfer 2005, S.129). Wenn eine institutionelle Verankerung notwendig erscheint und es darum geht, wer welche Mündigkeit erreicht, ist aus einer emanzipatorischen Richtung aus gesprochen die Prämisse zu veranschlagen „allen alles zu lehren“ um individuelle Freiheit durch Beteiligung aller an Gesellschaft möglich zu machen. Dazu gehört zunächst auch, dass Pädagogik als Vermittlungsinstanz überall gefragt ist, sie mit der Universalisierung aber auch entwertet wird (Winkler 1999). Überall entstehen Beratungs- und Fortbildungsinstitute über Nachhilfeorganisationen bis hin zur Hundepädagogik, während gleichzeitig bestimmte Bildungsabschlüsse entwertet werden. Darüber hinaus ermöglicht die technische Entwicklung die individuelle Verfügbarkeit über Wissen und Informationen und setzt die althergebrachten Lehr- und Lernmethoden unter Druck. Aber gerade in diesem Moment versucht Pädagogik sich als bessere Instanz dieser technischen Entwicklung zu präsentieren. Dabei wäre gerade das Gegenteil angesagt. Wie Gernot Böhme (1999) darlegt, steht es der Pädagogik gut an, historisches Wissen zu bewahren und genau nicht mit dem Alltag in Konkurrenz zu treten. Mit dieser Illusion verschärft man die Problematik einer Halbbildung noch, die, wie Adorno zeigt, keine Vorform der Bildung ist, sondern ihr Zerrbild. Ob man also innerhalb des Bildungssystems epochaltypische Schlüsselprobleme vermittelt, wie Klafki dies nannte, ist vor dem Hintergrund der Ideologie des „Lebenslangen Lernens“ eine zu diskutierende Frage, insbesondere wenn festgelegt werden muss, wer diese Schlüsselprobleme als solche ausweist. Dabei erscheint mir Klafkis Idee bereits ein Element der Anpassung an das Alltagsbewusstsein zu enthalten. Böhme hat in seinem klugen Aufsatz weiterhin angemerkt, dass die Frage der Zeitspanne, sich mit den Dingen zu beschäftigen, ebenso zu diskutieren ist. Wieso also, für die Schule formuliert, muss innerhalb von vier Schuljahren eine Entscheidung über den Lebensweg getroffen werden, die Freiheit für eine große Zahl an Kindern beschneidet. Kompetenzentwicklung ist nach Böhme (1999) nur Anpassung. Bildung wird nicht mehr als Vorbereitung auf das Leben, sondern als das Leben verstanden. Und gerade in einer Zeit, in der beständiges Umlernen propagiert wird, werden Studierende oder Schüler*innen dazu gedrängt, die Bildungsinstitutionen möglichst schnell zu durchlaufen oder sie in bestimmten Formen festzuhalten. Auch für Böhme ist Bildung und mit ihr der Aufenthalt in Bildungsinstitutionen anerkannte Zugehörigkeit zu Gesellschaft, praktisch eine Frage der Inklusion und seine Konsequenz mehr als berechtigt: „Was soll das? In der Wissensgesellschaft eine Bildungspolitik, die krampfhaft an der Idee der Arbeitsgesellschaft festhält?“ (Böhme 1999). Nimmt man die Einwände ernst – und der Titel „Bildung als Widerstand“ sagt bereits sehr viel – dann ist Bildung in erster Linie gerade nicht bloße Vermittlung von Kultur, sondern Zeitbegriff[14]. Bildung ist der Zeitraum den der Einzelne zur Entfaltung seiner Beziehung zur Gesellschaft benötigt. Wird diese Beziehung zu früh verfestigt, wird der Mensch zu Funktionen abgerichtet, aber nicht gebildet (Becker 2004, 236). Bezogen auf die Institution Schule könnte das die vollkommene Loslösung von Leistungsmessung und Ranglisten bedeuten, weil Leistung im Sinne des Ausfüllens einer Funktion nicht mehr zur Persönlichkeitsentwicklung nötig ist. Die gesellschaftlichen Möglichkeiten in ihrer Arbeitsteilung und die technischen Errungenschaften ermöglichen auch ein Leben ohne Zwang. Man könnte dies als Auftrag an die Erziehung verstehen, wenn diese die institutionellen, strukturellen Voraussetzungen schaffen soll, sich zu bilden. In seiner radikalen Variante ist auf Adornos Verdikt zu verweisen: Das „Auschwitz nicht noch einmal sei“ ist der erste Auftrag an Erziehung um Ausschluss zu vermeiden. Und mit Behrens ist zu ergänzen, „wohlgemerkt an Erziehung, nicht an Bildung“ (Behrens 2010). Es geht damit um die Strukturen nicht um das Persönliche, es „geht um die Angabe von Bedingungen, die einen Prozess der Selbstbildung möglich machen sollen“ (Schäfer 2005, S.154). Gefragt wird damit nach den optimalen (gesellschaftlichen) Voraussetzungen, die Personwerdung (Mündigkeit) bleibt an das „sich bildende Selbst“ gebunden. Bildung ist keine ausschließliche Aufgabe der Pädagogik in dem Sinne, dass sie möglichst perfekt und zwingend zu gestalten ist, sondern reflexiv, denn die Beschäftigung mit der Welt, den Menschen und den Dingen ist unmittelbar mit Erfahrungen verknüpft. Dafür sind die Dinge erfahrend zu durchdringen, vom Lernenden selbst und in der je individuellen Weise. Bildung glückt dort, wo die individuelle zur allgemeinen Kultur beiträgt.

5 Bildung

Mündigkeit als individuelles Prinzip der Bildungsidee war schon immer widersprüchlich. Erst mit der Entwicklung des Bürgertums wird sie jedoch vorwiegend mit einer Institution verknüpft. Dies gibt der Bildungsinstitution (der Schule als allgemeinem Prinzip) ein Gewicht, das ihr bis dahin nicht zukam, denn sie wird selbst zum geschichtlichen Moment wo sich Mündigkeit verwirklicht. Damit wird aber der widersprüchliche Charakter der Mündigkeit aufgehoben, geht verloren, besser: wird verdrängt. Das Problem dabei ist, das Bürgertum versteht sich als Sachwalter aller Menschen, es repräsentiert jedoch nur eine eigene Klasse und schränkt damit die Möglichkeit der Mündigkeit immer wieder ein. Denn das große Versprechen war darauf gerichtet, ein gemeinsames Werk zu sein und wird nun zum Klassenprinzip als Persönlichkeitsbildung. „Der Einzelne ist auserwählt mündig zu sein, nicht alle; dies setzt ökonomische Freiheit voraus als historische Bedingung der Freiheit“ (Heydorn 1972, 19). Was aber, wenn diese ökonomische Freiheit durch Bildung erworben wird, während die Idee der gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Sicherung der Freiheit Aller keine Rolle mehr spielt (als Emanzipation von der Arbeit bspw.).
Bildung ist gesellschaftliche Notwendigkeit von Mündigkeit, wenn die überlieferten Mittel der Organisation nicht mehr ausreichen, der fortgeschrittenen Sachrationalität nicht mehr standhalten. Damit kommt die Antithese, die von Beginn an in ihr liegt, zur Geltung, denn alle Institution ist Herrschaft, die Mündigkeit verhindert. Bildung wird zum Instrument der Erhaltung bestehender Ordnung, zur Anpassung oder Einpassung der Individuen in soziale Verhältnisse. Die Bildungsabhängigkeit verstärkt sich, es werden Grenzen gezogen, die eine Spaltung in jene, die es schaffen und jene, die es nicht schaffen, befördert, siehe die Verläufe innerhalb des Schulsystems. Die Individualisierung unter Marktförmigkeit bringt tendenziell eine Anpassung hervor, sie verliert ihren emanzipatorischen Charakter. Dabei werden auch die Mittel der Unterwerfung sublimer, sie kleiden sich in den Mantel der Mündigkeit. Damit, mit dem Beharren auf der Frage der Mündigkeit als normative Größe, wird die Chance eröffnet, die Institution der Kritik auszusetzen. „Der formale Stand der Bildung gibt nur den Grad an, von dem Mündigkeit ihren Ausgang nehmen muß, zeigt die Reife der Entwicklung, weist die Elemente der bestehenden Verfassung auf und ihren Nachdruck im Bewusstsein“ (Heydorn 1972, 16). Hier wird offensichtlich, was Horkheimer und Adorno mit ihrem Fokus auf Gesellschaft meinen. Nur wenn die Institutionen die Vernunft als etwas Normatives setzen, was nicht instrumentalisiert wird, sondern immer wieder neu ausgehandelt, dann kann individuelle und soziale Freiheit zusammengedacht werden. Mündigkeit und Autonomie waren Kampfbegriffe eines Bürgertums, dessen Angehöre tatsächlich bspw. wirtschaftlich selbstständig waren, durch Grund und Boden oder Geld-Kapital, ihr eigenes Leben besorgten und das der Gesellschaft ebenso. Durch die Auflösung dieser Schicht, kleines und mittleres Eigentum verschwand bzw. wurde bedeutungslos, veränderten sich gleichzeitig die Begriffe. Damit ist Emanzipation zu einem „utopischen“ Begriff geworden, der sich nur noch negativ formulieren lässt. „Unter verschiedenartigen Sozialverhältnissen zielt die Emanzipationsforderung in jeweils bestimmter Negation auf die institutionalisierten Formen von Unmündigkeit, die noch als Selbstverständlichkeiten im Schatten bereits errungener Mündigkeiten fortexistieren. Emanzipation richtet sich auf die jeweils vorenthaltene Mündigkeit“ (Dahmer 1973: 181). Noch etwas ist wichtig: äußere Emanzipation verschränkt sich mit innerer. Nur durch erstere kann auch zweitere gelingen, Angstschranken, die das Bewusstsein bestimmen, erschweren die rationale Prüfung innerer wie äußerer Realität. Bildung, so Nachtwey in seiner klugen Darstellung zur Entwicklung der modernen Gesellschaft, die Heydorns Gedanken widerspiegeln, ohne dass dieser erwähnt wird, soll das Schmiermittel des sozialen Aufstiegs sein. Auch das ist widersprüchlich, wie bereits zu sehen war. Die Bildungsexpansion, es machen mehr Schüler*innen Abitur, es studieren mehr, führt aber unter dem meritokratischen Leistungs- und Konkurrenzprinzip zu einer Entwertung der Bildungstitel. Betroffen davon sind alle Schichten, weil ein höherer Bildungsabschluss nicht gleich bedeutend mit dem Zugang zu einer höheren Schicht ist. Bildung ist somit weiterhin ein Mittel der Selektion, die sozio-ökonomische Bindung bleibt trotz allem bestehen, da die herrschenden Schichten einen kulturellen Vorsprung haben, der verinnerlicht wurde und die Bildungsinstitutionen diesem entgegenkommen. „Im Ausgang war bestimmend, dass das Individuum nur mit allen oder überhaupt nicht mündig werden kann“ (Heydorn 1972, 18). Der Kapitalismus zerstört das geschichtliche Bewusstsein, seine Herkunft ist ihm egal. Kritische Theorie und die Idee der Emanzipation ist seitdem auf die Zukunft verwiesen, im abstrakten Sinne auf Utopie. Und je länger die Herrschaftsprozesse dauern oder je statischer sie sind, umso mehr geht dies ebenso vergessen. „Es bleibt der Versuch, neue, kollektive Mündigkeit zu begründen mit dem abhanden gekommenen Menschen, den Widerspruch revolutionär aufzulösen“ (Heydorn 1972, 20). Doch das unbefreite Leben ist nicht verbal aufzuheben, erst die befreite Gesellschaft, die Praxis und Theorie versöhnt, nimmt Bildung in ihr eigenes Sein zurück. Grundlage dafür wäre die Abschaffung der Institution. Dies wiederum hat unmittelbar Auswirkungen auf die Frage der Aneignung von Welt als Bildungsprozess.
„Eine inhaltliche Bestimmung dessen, was Bildung sein kann, wäre allerdings abzulösen von der Produktion ‚Gebildeter‘ hin zur Bewerkstelligung von Inklusion als gesellschaftlicher Aufgabe. Dadurch verkehrt sich in gewisser Weise die klassische Bildungskonzeption, nach welcher Bildung den Zugang zu weiteren gesellschaftlichen Inklusion ermöglicht oder zumindest verbessert hin zur Bestimmung von Bildung als dauerhafter Bearbeitung von Inklusion“ (Moser, 2003, 149, siehe auch Nachtwey 2016). Mit dieser Bildungskonzeption soll ein „Leerraum“ gefüllt werden, der im Sozialen liegt und Abschied nimmt von der personalen anthropologischen Zuschreibung von Fähigkeiten (und Behinderung)[15]. Weiterhin verweist Vera Moser auf das schwierige Verhältnis von allgemeiner Bestimmung und Interaktionsprozessen, die zwar wichtig sind, jedoch schnell wiederum zu einer Personalisierung des Vermittlungsproblems zwischen Gesellschaft und Individuum führen. Ähnlich verhält sich dies mit der Frage der Differenz. Zum einen, weil Differenz als das anthropologische Grundmerkmal in den Sozialbeziehungen angesehen wird und zum anderen die Frage der Gleichheit ihm gegenüber die Vermittlung bestimmt. Einen Ausgleich zu finden ist Aufgabe der Inklusion als sozialphilosophischer Grundidee und in der Gestaltung der strukturellen Bedingungen von Gesellschaft. „Wenn innerhalb der früheren Entwürfe Anerkennung von Differenz, die als sozial erzeugt zu begreifen ist, zu einem interaktionistischen – und mithin anthropologischen – Kern gewendet wird, kann dies als Neuauflage einer Individualisierung sozialer Probleme gesehen werden, und zwar solcher Probleme, die institutionelle Relevanz haben, weil ja erst die postulierte Gleichheit einer Schulklasse die Systemleistung Selektion ermöglicht und insofern auf diese personale Zuschneidung von Differenz zurückgreift“ (Moser, 2003, 150). Es droht sozusagen immer ein Rückfall hinter die eigenen Ansprüche. Homogenität ist nach Moser organisatorische Notwendigkeit vor deren Hintergrund die Differenzen erscheinen und gestaltet werden können. Die „Bearbeitung auf anthropologischer oder interaktioneller Ebene ist gewissermaßen ein Fehlschluss“ (Moser 2003, 152), denn die Bearbeitung kann dann als naturgegeben ausgewiesen werden: sowohl in der Ursache wie der Wirkung, denn dann liegt es ja an den einzelnen Personen nicht am System[16]. Ist Bildung das Mittel, um sich über die Funktionalität des Bildungssystems klar zu werden, dann bleibt erkennbar, dass dies nicht am Individuum abgelagert wird. Mit kritischer Pädagogik oder kritischer Bildungstheorie könnte man dann etwas vereinfacht aufzeigen, dass Bildung als normative Größe genau den Stand der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum anzeigt. Dies betrifft als zentrale Institution die Schule und deren methodologische Gestaltung.

6 Didaktik

Didaktik, die als pädagogisches Hilfsmittel zur Aneignung von Welt fungiert, hat ebenfalls eine universelle Bedeutung gewonnen, denn erst „mit Didaktik werden viele Gegenstände möglicher Erfahrung den Schülern bekannt, ohne sie werden sie nicht als Wissen Fertigkeiten und Orientierungen übernommen und verinnerlicht“ (Gruschka 2002: 94). Gruschka verweist auf Alltagsprozesse, wo viele Handlungsanweisungen als didaktische (Rezepte ebenso wie Bastel- oder Bauanleitungen) angesehen werden können. Einen Lehrer gibt es dabei jedoch nicht, denn mit der Schule hat sich das Weltverhältnis der Menschen verändert, wird Schule als ausschließliche Bildungsstätte zu einer Lehranstalt der planmäßigen Belehrung (Gronemeyer 1997). Gehe ich vom Anspruch aus „Verstehen“ zu lehren (Gruschka 2015, 2011), dann ist dies unabhängig von der Leistungszuordnung zu einer bestimmten Kategorie. Wenn ich weiterhin die Sicht teile, dass Didaktik davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche lernen wollen und der Stoff sie erreicht, dann bedeutet dies nichts anderes als ein inklusiver Anspruch. Die einzelnen Fachdidaktiken sind dabei nicht mehr aber auch nicht weniger als der Bereich, der es Lehrer*innen ermöglicht, allen alles zu lehren. (Das ist der alte uneingelöste Anspruch der Didaktik seit Comenius und kann sogar mit einer üblichen Leistungsbewertung wie Noten zusammengedacht werden.) Formuliert man dies genauer aus, dann bietet sich folgendes an: Unter der Leitfrage „Was ist die Sache und wie stellt sie sich dar?“ kann man nach Klafkis Vorstellung der wechselseitigen Erschließung der Sache für den Schüler und des Schülers für die Sache unterschiedliche Ebenen des Zugangs entwickeln. Dies erlaubt allen Kindern und Jugendlichen auf Ihrem entsprechenden Niveau sich die Sache anzueignen. Setzt man dies als Grund, erkennt man m.E. schnell die Nähe zu Feusers gemeinsamem Gegenstand (Feuser 1995, vgl. auch die Idee kulturhistorischer Didaktik Jantzen (Hrsg.) 2012), beide betonen den entwicklungspsychologischen Aspekt besonders, der in Gruschkas Darstellung nicht explizit erörtert wird.). Dies ist auch dann gültig, wenn man Gruschkas Einwände gegen die Didaktik als verkürzter Zugang zur Sache berücksichtigt. Die Lerngegenstände sind oftmals nicht mehr die Sachen an sich, sondern bereits von den Lehrer*innen oder vom Lehrplan verkürzte Gegenstände. Dann wäre immer noch gut, wenn der Schüler versteht, was der Lehrer mit der Sache gemacht hat (Gruschka 2014a), ohne dass dieser über sie verfügt. Die Repräsentation müsste der Weise entsprechen, mit der das Wissen als noch nicht Verfügtes, aber als Zugängliches strukturiert ist. Gruschka bezieht sich in seiner umfassenden Analyse der Didaktik auf Jürgen Diederich, der nicht zeigt, wie das, was man für pädagogisch richtig hält, realisiert, sondern was unter den systematischen Bedingungen des Unterrichts und der Klasse als sozialem System real stattfindet und wie es besser funktioniert, wenn man es reflektiert. „Anstatt sich in der altehrwürdigen geisteswissenschaftlichen Tradition um die Bestimmung des Bildungsgehaltes der Sache zu kümmern, fragt er danach, welches die drängenden Aufgabenstellungen des Lehrers sind, deren Bewältigung darüber entscheiden, in welchem Maße es überhaupt zur Vermittlung des Wissens kommen kann“ (Gruschka 2002: 228). Didaktische Modelle und Konzepte postulieren, Unterricht als Prozess sei vollständig zu gestalten, zu steuern und damit durchzusetzen. Solche Vorstellungen ignorieren aber die Grenzen des Lehrens und Lernens, die durch keine didaktische Kunst überspielt werden können (Gruschka 2015), weil der Inhalt primär entscheidend ist, an dem man sich bildet. Ob ein Sportspiel erlernt werden soll oder eine Sprache ist ein Unterschied und damit ergeben sich auch unterschiedliche Methoden des Zugangs. Diederichs Sicht, so Gruschka, fordert zu einem Perspektivenwechsel auf: Nicht mehr geht es darum, Unterricht zu entwerfen, in dem es keine Vermittlungsprobleme mehr gibt, sondern darum, im Bewusstsein um mögliche Störungen und Behinderungen des Lehrens und Lernens Fehler zu vermeiden, Unsicherheiten zu reduzieren usf. „Didaktische Konzepte gehen gemeinhin von dreierlei aus, nämlich
­            dass Schüler grundsätzlich lernen können, was sie lernen sollen;
­            ass sie durch die richtige Ansprache zum Lernen motiviert werden können,
­            und dass ihr Unterrichtsverhalten bei richtiger Steuerung immer konzentriert auf das          Lernen gerichtet ist (Diederich in Gruschka 2002: 228f).
Diederich hält die Vorstellungen der in Anspruch genommenen Lerntheorien, Motivationspsychologie und die Vorstellungen von sozialer Interaktion im Unterricht für naiv, weil sie die natürlichen Limitierungen des Lernens, der Motivation und der Disziplin ignoriert werden. Es wird vielfach anders gelernt als angeleitet. Der Lehrer kann nicht genau angeben, wann Nichtwissen zu Wissen übergeht. „Das heißt: Unterricht unterliegt nicht einer mechanischen Herstellungslogik von Wissen und Fertigkeiten. Lernen ist unsicher wie Lehren: ein anstrengendes Suchen nach Wegen, die häufig in die Irre führen“ (Gruschka 2002: 229). Nach Gruschka ist Diederichs Blick sehr hilfreich, weil er sich nicht mit Absichten beschäftigt, als wären sie schon Wirkungen, sondern auf Wirkungen blickt, ganz unabhängig von den Absichten der Lehrpersonen. Die Frage, was Unterricht ausmacht, wird darauf gerichtet, welche Funktion er in der Gesellschaft hat. Das Bildungssystem ist nicht deshalb so, weil dort das gemacht wird, was gemacht werden soll oder nicht, sondern weil es die dargestellte Funktion für die Gesellschaft erfüllt, selbst wenn Lehrkräfte die Aufgabe nur unzureichend erfüllen. Didaktik ist nicht verantwortlich für ihre unzureichende Komplexität, für die mangelnde Intelligenz der Personen, für fehlende Motivation oder mangelnde Disziplin. „Didaktik trägt die Folgen der ‚misslungenen Zivilisationsform Unterricht‘ (Rauschenberger)“ (Gruschka 2002: 233). Schule und Unterricht sind erst dann zureichend analysiert, wenn die widersprüchliche Einheit von Norm und Funktion (Mündigkeit oder Bildung) betrachtet wird und wie sich diese Widersprüchlichkeit reproduziert. Unweigerlich geht es dann um die Funktion der Selektion, die Gruschka folgendermaßen beschreibt: „Die Pädagogik kann gar nicht neutral gegenüber der Selektion auftreten. Sie kann es nicht, weil sie sich mit dem für ihre Identität wesentlichen Rückgriff auf die ‚europäische Bildungstradition‘ (Blankertz) nicht zum Büttel fremder Interessen machen darf, sondern stellvertretend die Interessen der Kinder gegen die gesellschaftlichen Gruppeninteressen verteidigen muss, und weil sie gleichzeitig für Chancengleichheit einzutreten hat, die zunächst die Förderung aller statt Auslese weniger bedeutet. Es ist nicht ‚ihre Sympathie‘ für positive Pädagogik oder ‚Reformreflexion‘, die sie zu Kritikern der Selektion werden lässt, sondern ihre Pflicht. Aber diese steht in der Tat in einem strukturellen Widerspruch zu gleichzeitig verordneten der Selektion. Denn so wenig wie der Lehrer offensiv früh selektieren darf, so wenig ist es ihm erlaubt, extensiv zu fördern“ (Gruschka 2002: 235). Der Blick muss sich entsprechend auf beide Seiten, Subjekt und System richten und den Widerspruch zwischen Schutz und Funktionalisierung der Schüler vermitteln, der als struktureller zu kennzeichnen ist. Selektion wir problematisch, die ausschließlich auf Leistung ohne Ansehen der Person schaut, wie sie willkürlich ist, wenn sie nicht auf Leistung schaut. Die Lehrer müssen diese strukturellen Bedingungen gestalten und aushalten. Allzu oft führt dies zur Produktion von „Halbbildung“ (Adorno).
Schule anders gedacht, losgelöst von der strengen Funktionalisierung, insbesondere der Selektion, könnte ein Ort der Verschiedenheit, der Überraschung, der Gastfreundschaft, des Denkens und Fragens sein, wie Marianne Gronemeyer scheibt, denn erst ein Ort der Freundschaft lässt Einsichten entstehen, die Konkurrenz nicht ermöglicht. Da kann man nur siegen. Schule könnte immer noch Teilhabe gewährleisten auch im angemerkten Sinne von Böhme, sie wäre ein Ort der die Verschiedenheit der Gesellschaft abbildet, ermöglicht es sich mit den anderen Menschen in Beziehung zu und mit der Welt auseinanderzusetzen (Gronemeyer 2006). Eine „Freie Schule“ ist dann eine freie Schule, schreibt Behrens, wenn sie sich eben von diesen pädagogischen Ziel-bestimmungen falscher Vergesellschaftung freimacht. „Freie Schule hat zum Ziel die freie Gesellschaft, nicht die freie Schule als Insel inmitten sozialer Unfreiheit. Insofern ist der schulpädagogische Beitrag der Freien Schule sehr bescheiden, wenn auch umfassend: In einer üblen Welt ist die Schule ein Übel; sie ist aber kein notwendiges Übel“ (Behrens 2013).
Dies hat bei gesetzlicher Verankerung einer Schule für Alle, ganz gleich wie viele Jahre gemeinsamer Unterricht dabei herauskommen, unmittelbare Auswirkungen bis hinunter zu den einzelnen Lehrkräften. Denn wenn Schüler*innen nicht mehr an eine andere Schule delegiert werden können, müssen die Lehrer*innen und mit ihnen die Schule/n Wege entwickeln, wie man mit den dann möglicherweise auftretenden Problemen umgeht. Es ist durchaus plausibel, dass hier  Lösungen entstehen, von denen alle innerhalb des Kollegiums profitieren. Wie dies im einzelnen Unterricht im einzelnen Fach oder fächerübergreifend, fächerverbindend, in beidem oder wie auch immer gemacht wird, ist der Kreativität und dem Können der Lehrer*innen überlassen. Sie sollten in einem solchen Umfeld genug Anlässe finden, Leistungen vielfältig zu messen, zu reflektieren und Anerkennung zu zollen. Wenn auch in einer wenig aktuellen Sprache wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Fokus auf der Arbeitsgesellschaft und den Auswirkungen auf gesellschaftliche Teilbereiche von Negt/Kluge hier nochmals benannt. „Emanzipation gebietet also, diese Einheit der gesellschaftlichen Arbeitsvermögen aufzulösen und die Realisierung der Arbeitskraft, sofern sie ausschließlich unter Bedingungen der Kommandogewalt des Kapitals besteht, aus den Kategorien der Kapitallogik zu befreien“ (Negt/Kluge, 1992, 110).

7 Fazit: Dialektik der Inklusion

Folge ich Adornos Vorstellung von Dialektik (Adorno 2015), ergibt sich die Notwendigkeit, die Widersprüche in der Sache aufzunehmen und bearbeitbar zu machen. In der theoretischen Fassung weisen Begriffe in einem Netz aufeinander und es ist Aufgabe des Wissenschaftlers, diesen Zusammenhang als Bestandteil im Verhältnis von Theorie und Praxis herzustellen. Beschreibungs-, Erklärungs- und Reflexionswissen (Jantzen) bilden die Einheit einer Theorie und erfordern deren Vermittlung. Vermittlung heißt nicht Auflösung in die eine oder andere Richtung, es gibt dabei keine mengenlogische Mitte als Schnittpunkt, sondern die Aufhebung auf ein höheres Niveau. Entscheidend ist die Analyse und genaue Bestimmung des Gegenstands.
Bei der Frage der Inklusion geht es um die gesellschaftlichen Grundlagen von Bildungs- und Erziehungsprozessen, ihre Gestaltung in den einzelnen Institutionen bzw. Organisationen und deren Auswirkungen auf die Individuen. Inklusion als pädagogischer Gegenstand bedeutet: Ermöglichung des Weltzugangs als Bildungsaufgabe auf die unterschiedlichste Weise, da Menschen individuell verschieden sind; innerhalb eines Schulsystems, das demokratisch gestaltet ist und Teilhabe qualitativ zu gestalten weiß. Der Anspruch als normative Kategorie wäre Comenius Idee „allen Alles zu lehren“ und Pädagogik dabei Aufgabe zu reflektieren, welche Bedingungen diese Norm unterminieren oder begünstigen (Erziehungsaspekt bzw.) und ob Kinder/Jugendliche an den Aufgaben gebildet werden oder nicht. Schultheorie als allgemeiner soziologischer Bezugspunkt und damit theoretisch aus dem Blick von Sonderpädagogik ist ebenso notwendig wie der Bezug auf Intersektionalität, weil innerhalb des Schulsystems soziale Ungleichheiten bearbeitet oder gar befördert werden. Sonderpädagogik kann und soll Wissen bereitstellen, die mitunter sehr spezifischen individuellen Bedürfnisse der einzelnen Individuen innerhalb der Institutionen zu sichern. Inklusion wäre dann bildungstheoretisch an die Allgemeine Pädagogik angeschlossen (Moser), deren Umsetzung ist eine Frage der Didaktik, Allgemeiner Didaktik wie auch der Fachdidaktik. Darüber hinaus ist zu diskutieren, wie sehr der Leistungsaspekt in den Vordergrund gestellt wird oder der Bildungsaspekt in der Auseinandersetzung mit den Sachen (epochaltypische Schlüsselphänomene) eine Rolle spielt. Auf jeden Fall bietet sich hier die Möglichkeit den Inklusionsbegriff an pädagogische Begriffe anzubinden. Versteht man das Bildungssystem als ein Teilsystem, welches gesellschaftliche Inklusion vermittelt, dann sind Autonomie und Mündigkeit ebenso Kategorien, die für die gesellschaftliche Entwicklung bestimmend sein können. Das würde auch das Bildungssystem entlasten, könnte kollektive Mündigkeit ermöglichen. Aber: „Die Antworten auf diese Fragen bleiben in letzter Instanz allerdings von den gegenwärtigen Möglichkeiten der Geschichte abhängig, und das heißt, von der Bereitschaft der Menschen, sich für eine Veränderung im Sinne dieser Möglichkeiten des realen Humanismus einzusetzen. Darin besteht die Wahrheit, die in der Praxis erst noch zu erweisen sein wird“ (Behrens, 2007, 63).

8 Literatur

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Sven Bärmig, arbeitet als LfbA an der Universität Leipzig und lehrt in Modulen zur Allgemeinen Sonderpädagogik


[1] Kritische Theorie bezieht sich nicht allein auf die sogenannte „Frankfurter Schule“, sondern hat vielmehr „Erkenntnisgewinn als Naivitätsverlust“ (Steinert) zum Ziel. Sie wird deshalb an vielen Stellen klein geschrieben.

[2] Ich möchte dabei nicht auf die Frage der Wahrheit und der Erkenntnis abheben, aber diese Diskussion gehört in diesen Kontext. Damit wäre u.a. auch zu problematisieren, dass Hillenbrand in besagtem Text eine Beschäftigung mit Wissenschaftstheorie auch deshalb abzulehnen scheint, weil ein Paradigmenwechsel nach Kuhn in der Sonderpädagogik nicht stattgefunden hat. Dass er selbst dabei eine Rolle spielt, die auch darin liegt, dass eine Entgegensetzung von Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften durchaus problematisch sein kann, wird leicht übersehen. Zumal Erkenntnis vor allem bedeutet, dass man sich irren kann (Schnädelbach 2010).

[3] Was das in Fragen pädagogischer Forschung heißen kann, lässt sich bspw. bei Schlömerkemper (2010) nachlesen.

[4] Als Bsp. will ich auf Grosche (2015) verweisen, der behauptet zu erklären, was Inklusion sei, ohne auch nur den Bezug zu soziologischen Fragen herzustellen oder gar den Gegenstand innerhalb der Sonderpädagogik wirklich zu bestimmen. Ich betone, dies kann man so machen, dann aber sollte man auch von der Behauptung „das sei Inklusion“ Abstand nehmen.

[5] Zu erkennen ist dies meines Erachtens z.B. an einer fehlenden Rezension bei socialnet.

[6] Die handlungstheoretische Option soll in einem anderen Beitrag dargestellt werden.

[7]Zur sozialen Schließung siehe Mackert 2004.

[8]Mein Vorschlag ist, dies in dialektischer Entschlüsselung beständig zu reflektieren. Damit gewinne ich Anschluss sowohl an kritische Theorie und deren Reflexion auf das Verhältnis von Theorie und Praxis als auch an eine materialistische Behindertenpädagogik, wo es neben der „Rehistorisierenden Diagnostik“ vor allem um Entwicklungsprozesse als individuelle Phylogenese innerhalb gesellschaftlicher Ontogenese zu verstehen und zu gestalten gilt. Spannungsfelder, Antinomien und Paradoxien sind Gegenstand der jeweiligen Felder (Katzenbach 2004, Ketelhut 2006, Rock 2001, Loeken 2000, Prengel 1993).

[9] Ebenso wie das Kastl (2012) für Inklusion schreibt.

[10] Dabei geht es weniger darum, dies als gegeben anzusehen oder nicht, eher in einem soziologischen Sinne als kategoriale Bestimmung von System- oder Sozialintegration. Kronauer (2010) verweist in diesem Zusammenhang auf die soziale Schließung von Teilsystemen oder Institutionen, die es ermöglicht, beide Ebenen zu betrachten und damit auch die Verantwortlichkeiten zu klären. Eine „Schule für Alle“ wäre eine Konsequenz auf Systemebene, wie dies in den einzelnen Schulen aussieht, bleibt eine Frage der Umsetzung u.a. durch die Lehrer*innen.

[11] Begreife ich die Lebenslagen bspw. erwachsener Personen, die als geistig behindert bezeichnet werden, als Folge der gesellschaftlichen Bedingungen, ist zu sehen, dass sie mehr als andere Gruppen der Bevölkerung ausgeschlossen, marginalisiert und diskriminiert werden (Maschke 2007, Rohrmann 2014). Dies meint so unterschiedliche Dinge wie bestimmte Schulformen, in denen ihre angeblich verminderte Leistungsfähigkeit besonders gefördert wird, spezifische Institutionen für Arbeit oder Wohnen, Freizeit oder Pflege, beschränkten Zugang zu vielen Einrichtungen der Gesellschaft oder die Verweigerung der Bürgerrechte.

[12] Veranschaulichung bzw. ein Gradmesser für die emanzipatorische Gestalt der Gesellschaft ist vielleicht die Tatsache, dass die sogenannten Unproduktiven wie Hartz IV Empfänger, aber durchaus auch die Behinderten, wieder als Schmarotzer oder gar Feinde gesehen werden (Nachtwey 2016).

[13] Ausnahme scheint der Dienstleistungssektor zu sein, wobei auch zu erkennen ist, dass bestimmte Tätigkeiten wesentlich besser entlohnt werden als andere und damit bestimmte Werthaltungen der Gesellschaft offensichtlich werden.

[14]Wunderbar hat dies der Kabarettist Hagen Rether formuliert, der in seinem Programm davon spricht, weshalb junge Leute mit 17 die Schule verlassen sollen und dann noch ein soziales, ein ökologisches Jahr ranhängen, weil sie sich noch nicht entscheiden können, was sie tun sollen. Wieso sollen sie nicht erst mit 24 die Schule beenden? Der Stress wäre geringer. Interessant dabei: scuola, schòle ist etymologisch von Muse, Ruhe, Inne halten abgeleitet, sehr wohl etwas zeitliches. Für die vielfachen Bezüge, die der Dimension der Zeit zu Grunde liegen ist auf Jantzen (2004a) zu verweisen. Es ist sicher sehr lohnenswert, dies nochmals genauer auszuführen.

[15] Robert Schneider hat in diversen Veröffentlichungen diese anthropologische Basis als Formbarkeit und mit ihr die prinzipielle Offenheit wunderbar beschrieben. Siehe dazu seinen Text im demnächst erscheinenden Tagungsband zur IFO-Tagung in Bielefeld (Moser/Schneider 2015).

[16] Dies ist einer der wichtigsten Grundsätze der Sozialpsychiatrie. Personenänderung geht nur über Kontextänderung, weil alles andere in gewaltförmige Prozesse umschlägt oder wie etwa in der Psychotherapie eine sehr langwierige Geschichte ist.