Abstract: Das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik ist sicherlich mit Attributen wie demokratisch, weltoffen, sozial und aufgeklärt zu bezeichnen. Dies gilt grundsätzlich auch für die Strukturen des Sports. In diesem Beitrag soll anhand eines Einzelbeispiels – meines eigenen – gezeigt werden, dass diese Grundsätze im Bereich des Sports bisweilen allerdings nur eingeschränkt gelten oder bewusst missachtet werden. Ich bin körperbehindert. Ich bin Sportlehrer. Beide Sätze treffen zu und sind richtig. Gleichfalls ist es Realität, dass ich auf dem Weg zu meiner Profession darin behindert wurde, diese zu erlangen. Fragen nach der Sicherheits- und Hilfestellung im Turnen und der Demonstrationsfähigkeit, um nur zwei Beispiele für schwer überwindbare Barrieren zu nennen, traten auf den Plan. In diesem Beitrag will ich versuchen, Gründen für dieses paradoxe Verhalten, das letztlich darauf ausgerichtet war, meine Teilhabe im Berufsfeld Sport zu verhindern, nachzuspüren.
Stichwörter: Körperbehinderung; Sportlehrer; Diskriminierung; Disability Studies; Sportunterricht
Inhaltsverzeichnis
Die folgenden Ausführungen sind meine Perspektive auf die Thematik Inklusion im Schulsport. Betrachten Sie diese als einen subjektiven Erfahrungsbericht. Nach meiner Kenntnis bin ich der einzige Sportlehrer mit einer angeborenen Körperbehinderung.[1] Hinsichtlich der Frage nach der wissenschaftlichen Relevanz meiner Erfahrungen stelle ich hier illustrativ mehrere Aussagen gegenüber – entscheiden Sie selbst.
„Autobiographische Erfahrungen, literarische Anekdoten oder ungeprüfte Selbstberichte sind eine Möglichkeit, das Phänomen der Behinderung aus der Innenperspektive abzubilden. Allerdings haben diese Aussagen wissenschaftlich nur einen begrenzten Wert, da sie in ihrer Subjektivität und Beliebigkeit in erster Linie Meinungen und subjektive Theorien abbilden und nicht nach kontrollierten wissenschaftlichen Kriterien einzuordnen sind (Wegner, 2001, S. 18).“
In Bezug auf die Veränderungsmöglichkeiten der sozialen Reaktion von Nichtbehinderten auf Menschen mit Behinderungen ist bei Wegner nach Cloerkes auch diese Äußerung zu finden:
„Eine günstigere Wirkung entsteht durch die Ergänzung der Information durch zusätzlichen Kontakt, bspw. die Präsentation der Informationen durch Betroffene selbst.“ (Ebd., S. 63).
Dieses aufnehmend und im Sinne der Disability Studies (Giese, 2016) fortgeführt sei noch Ingrid Müller-Münch zitiert:
„Erkundigt Euch doch mal bei uns, wie wir eigentlich leben möchten!“ (Mürner & Sierck, 2013, S. 100).
Ich bin körperbehindert. Zumeist lasse ich sogar das ‚Körper’ in meinem Sprachgebrauch weg und sage nur: „Ich bin behindert“. Begegne ich Menschen zum ersten Mal und das Situationssetting ist dergestalt, dass man meine Behinderung nicht adhoc wahrnehmen kann, dann benutze ich die Formulierung: „Ich habe eine Körperbehinderung“. Wenn diese Aussage einen verwundert wie fragenden Gesichtsausdruck bei meinem Gegenüber erzeugt, dann füge ich eine kurze Beschreibung an, wie sich die Körperbehinderung ausgestaltet: seit meiner Geburt; diverse Deformationen ab den Knien abwärts, beidseitig. Konkret heißt das, es ist eine Längendifferenz der Unterschenkel, links 15 cm verkürzt zu rechts, vorhanden. Operativ wurden meine Sprunggelenke versteift: links in einer Spitzfußstellung, rechts in einem Winkel von 90 Grad, da die Sehnen- und Bänderstruktur um die Sprunggelenke herum dysfunktional d.h. nicht vollständig ausgebildet war. Und an beiden Füßen sind nur vier Zehen vorhanden: der zweite Zeh neben der Großzehe ist nicht entwickelt.
Sitze ich an einem Tisch mit den Beinen darunter, ist das alles nicht wahrzunehmen. Geht jemand mich begleitend neben mir, fällt es vielleicht auf, da die Person ihren gewohnten Schritt drosseln muss. Erst wenn man mich aus der Entfernung gehen sieht, ich kurze Hosen trage oder beim Schwimmen, wo ich meine orthopädischen Maßschuhe ausziehe, fällt dem Betrachter auf, dass mein Gehapparat nicht die Gestalt und Funktionalität besitzt, wie es „normal“ ist – jedoch, für mich ist das normal. Es war nie anders.
Dass es dennoch das Andere gibt, habe ich ebenfalls seit meiner Kindheit erfahren und wahrnehmen können, da ich mit einem eineinhalb Jahre jüngeren, nicht-behinderten Bruder aufgewachsen bin. Der optisch wahrnehmbare Unterschied war immer vorhanden, jedoch nie mit einer Wertung verbunden. ‚Deine Füße sind anders als meine, spielen können wir dennoch miteinander‘.
Ich bin Sportlehrer. Die vollkommen legitime Frage, wie es denn funktioniert, mit einer solchen körperlichen Beeinträchtigung Sportwissenschaften zu studieren, das Referendariat zu absolvieren und als Sportlehrer zu arbeiten, beinhaltet mehrere Dimensionen. Da ist die Frage nach der Differenz der Voraussetzungen. Scheinbar nicht vorhandene körperliche Voraussetzungen, die physische Deformation des Geh- und Laufapparates, konnten es doch gar nicht zulassen, dass ich die vielfältigen motorischen Anforderungen eines sportwissenschaftlichen Studiums bewältigte, so lautet das fortwährende Ressentiment (vornehmlich während meiner Ausbildung). Doch meine Beine können mehr, als man ihnen optisch zutraut. In den spezifischen Bereichen des Springens ist deren Leistungsfähigkeit zwar nur minimal, jedoch muss in den verschiedensten Sportarten weitaus weniger gesprungen werden, als dies die landläufige Annahme ist. Und ja, meine läuferische Ausdauer ist sehr gering. Jedoch erfordert das Gros der Sportarten und Sportspiele mehrheitlich keine läuferische Ausdauer. Sieht man von den leichtathletischen Laufdisziplinen jenseits der 200m bis hin zum Marathon ab, sind die Distanzen für mich bewältigbar. Häufig sogar, zumeist in den Sportspielen, zur Verwunderung meiner Gegenspieler. Ich bin sprintstark. Eine weitere für die Sportspiele recht nützliche Fähigkeit ist meine Furchtlosigkeit in Zweikampfsituationen, denn Angst davor, mich zu verletzen, muss ich nicht haben. Meine Sprunggelenke und Unterschenkel werden in hohen Karbon-Schaftstiefeln gegen Schläge und Tritte geschützt und meine Kreuzbänder können nicht kaputt gehen, denn ich habe keine.
Weiterhin ist da diese Frage, die mir auch heute immer wieder gestellt wird: „Aber muss man nicht alle Sportarten können?“ In der fortgeführten Erweiterung der Frage nach den Voraussetzungen ist dies die fachspezifische Frage nach meiner Demonstrationsfähigkeit. Sie impliziert die Vorstellung, dass ein Sportstudium eine sportartenübergreifende athletische Ausbildung beinhaltet, welche dazu befähigt, alle Sportarten des schulischen Sportkanons, demonstrieren zu können. Ich antworte auf dieses Paradigma immer mit einer Rückfrage: „Welcher Deiner Sportlehrer oder Sportlehrerinnen fortgeschrittenen Alters oder nahe der Pensionsgrenze hat Dir noch den Aufschwung am Reck oder den Kreuzhang an den Ringen vorgeführt?“
Meine Handlungsfähigkeit im Rahmen der Anforderungen des Berufsfeldes sind nicht durch meine Körperbehinderung determiniert. Die im Verlauf meiner Ausbildung zum Sportlehrer mir unterstellte Diskrepanz zwischen meinen körperlichen Voraussetzungen und den Inhalten des Sportunterrichtes ist somit nur eine scheinbare. Vielmehr entspricht das vorhandene Bild des Sportunterrichtes – häufig auch von Seiten der Sportlehrer (vgl. Ruin & Meier, 2015) – nicht seiner zeitgemäßen fachdidaktischen Auslegung. Eine mehrperspektivische Erziehung durch und zum Sport im Sinne eines erziehenden Sportunterrichts (vgl. Stibbe, 2013) hat weniger mit den Demonstrationsfertigkeiten der lehrenden Person zu tun, als vielmehr damit, dass zur Auseinandersetzung mit dem Facettenreichtum des Faches und der eigenen Persönlichkeit (allgemein und im Sport) anzuregen ist.
Eine weitere Dimension eröffnet sich durch diejenige Frage, die mir permanent gestellt wird: diejenige, wie ich auf die Idee gekommen sei, Sportlehrer werden zu wollen. Aufgrund welcher Basis an Fähigkeiten entscheidet sich ein Mensch mit Behinderung für den Beruf des Sportlehrers?[2] Diese Frage ist schnell und einfach beantwortet: Meine Eltern hatten mich als Kind – aus ganz pragmatischen Gründen – in einem Schwimmverein angemeldet, auf Anraten der mich behandelnden Ärzte, die sich davon eine bessere Belastbarkeit meines Herz-Kreislauf-Systems versprachen und weil Sportarten wie Turnen, Leichtathletik oder Fußball irgendwie unlogisch erschienen. Der Pragmatismus meiner Eltern wurde von den mich unterrichtenden Schwimmlehrern und Trainern erwiedert. Ich lernte Schwimmen und war in meinen Trainingsgruppen weder herausgehoben besonders noch verschämt geduldet. Ich war einfach Teil der Mannschaft. Mit dem Einsetzen der Pubertät entwickelten sich meine Trainingskameraden körperlich dergestalt weiter, dass ich meine biomechanischen Defizite auch nicht mehr durch Technik oder Kraftausdauer ausgleichen konnte. Folglich drohte zu diesem Zeitpunkt mein sportlicher Dropout. Das Gegenteil trat ein. Da ich in meiner Trainingsgruppe einer der wenigen Schwimmer war, der technisch sauber – weil langsam –schwimmen konnte, wurde ich als Assistenz im Bereich des Schwimmenlernens eingesetzt. Ich war für die Nicht- und Anfängerschwimmerkinder das Demonstrationsobjekt.
Im Rahmen dieser Tätigkeit erlebte ich mich kompetent – nicht nur in der Demonstration, sondern im Laufe der Zeit auch in Bereichen der Empathie, Bewegungsbeschreibung, -vermittlung und Strukturierung der Lernprozesse zur Entwicklung der Schwimmfähigkeit. Die logische Folge war, dass ich noch vor dem Abitur eine B-Trainer-Ausbildung absolvierte und in meinem Schwimmverein das Schwimmen Lernen und Nachwuchstraining betreute. Aus dieser Erfahrung heraus war es dann nur noch ein kleiner Schritt, mir die Frage zu stellen: „Wenn ich Schwimmen unterrichten kann, kann ich dann nicht auch alle anderen Sportarten unterrichten?“
Mit dieser Frage suchte ich das Gespräch mit der damaligen Leitung des Fachbereiches Sportwissenschaften an der Universität meiner Heimatstadt. Ich kann nur noch sinngemäß die Antwort auf meine Frage wiedergeben: „Herr Sauerbier, wir erlauben es uns in Bezug auf die sportpädagogische Ausbildung unserer Studierenden die Haltung einzunehmen, dass wir nicht Sportler zu noch besseren Sportlern machen, die dann in der Schule den besten Sport vormachen können. Wir bilden Menschen aus, die in der Schule zum Sporttreiben anregen. Somit sind ihre körperlichen Defizite zunächst einmal nicht von Belang und sofern Sie alle Zulassungsvoraussetzungen erfüllen – warum nicht?“
Ich möchte es bei diesen exemplarischen Begründungsdimensionen belassen und zusammenfassend sagen, dass meine Entscheidung, Sportlehrer zu werden, aus der Wirkung meines sozialen Umfelds während meiner Jugendzeit resultierte, welches Inklusion gewährleistete, lange bevor dieser Begriff auf die Agenda der pädagogischen Kriterien gesetzt wurde. Charakteristisch für dieses inklusionsförderliche Umfeld war ein Pragmatismus in der Haltung, Offenheit in der Kommunikation und eine Zugewandheit für meine besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten.
Während ich heute feststellen kann, dass ich in einem inkludierenden sozialen Umfeld aufwuchs, so stelle ich ebenso fest, dass dies ab dem Zeitpunkt meines Studiengang- und Studienortswechsels nicht mehr galt. Hatte ich zunächst die Fächer Sport und Geschichte auf das Lehramt Sekundarstufe II studiert, so war es doch auch immer mein Wunsch, das Fach Kunst zu studieren. Diese Chance eröffnete sich nach meinem 8. Semester, jedoch musste ich dafür die Universität (und das Bundesland) wechseln.[3] Damit verbunden war das Wagnis, die für mich notwendigen sozialen Konstrukte an demokratischem Pragmatismus, Weltoffenheit und sozialer Empathie zu verlassen und anderenorts ggf. auf Hemmnisse, Barrieren und diskriminierendes Verhalten zu treffen. Eine Befürchtung, die sich in Bezug auf den Sportfachbereich der „neuen“ Universität nicht bewahrheitete. Dies galt allerdings nur für den Sportfachbereich.
Die für die Anerkennung meiner bisherigen Studienleistungen zuständige Behörde zeigte eine vollkommen andere Haltung. Man war irritiert darüber, dass meine erbrachten Studiennachweise keine Benotung aufwiesen und schlussfolgerte, dass ich somit aufgrund meiner Behinderung an der zuvor besuchten Universität nur Teilnahmebescheinigungen erhalten hätte, jedoch keine qualifizierten Studiennachweise. Der Anerkennungsbescheid verzeichnete daher keine Studienleistungen im Fach Sport und ich hätte mein Sportstudium vollständig von Neuem beginnen müssen. In einem sich über zwei Jahre dahinquälenden Wechselspiel von Widersprüchen, Nachbenotungen, erneuten Ablehnungsbescheiden fanden mehrfach persönliche Gespräche mit den entscheidungsbeteiligten Personen statt. Immer wieder verwies ich darauf, dass die Nichtbenotung von Scheinen an meinem vorigen Studienort ein Spezifikum des dortigen Fachbereiches gewesen sei und nichts mit meiner Körperbehinderung oder einer nur bedingten Eignung zu tun habe. Und das dies doch wohl recht einfach und unkompliziert mittels einer direkten Nachfrage vor Ort zu klären sei. Mir selbst war in diesem Prozess nur mittelbar bewusst, dass die Frage nach der Benotung offenbar gar nicht Kern des Problems war, sondern vielmehr generell meine Eignung für eine Tätigkeit im Berufsfeld Sportlehrer an Gymnasien aufgrund meiner Behinderung infrage gestellt wurde.
Dieser Sachverhalt wurde mir erst bewusst, als ich, nachdem ich alle Studiennachweise – von meinen ehemaligen Dozenten nachbenotet – wieder vorlegte, folgendes zu hören bekam: „Herr Sauerbier, wir werden diese Unterlagen prüfen. Jedoch möchte ich Ihnen nahelegen, Ihre Studienwahl nochmals zu überdenken. Ich bin selbst Sportlehrer und die Belastungen im Berufsalltag im Fach Sport sind so immens hoch, dass selbst gesunde Menschen nicht ohne Verschleißerscheinungen bis zur Pension gelangen. Eine Prognose über die Dauer Ihrer Berufsfähigkeit ist für uns auch zu berücksichtigen. Und Sie tun sich ja auch selbst damit keinen Gefallen, wenn sie zwar das Studium abschließen, aber nach ein paar Jahren im Dienst dann verschlissen aus dem Dienst ausscheiden. Da müssen Sie zu sich selbst ehrlich sein und Ihre Behinderung als Einschränkung annehmen“[4]. Warum diese Aussagen mir bis zum heutigen Tag im Bewusstsein geblieben sind und welche Charakteristik von Diskriminierung sich hier eröffnet hat, möchte ich erst nach einem weiteren Beispiel ausführen. Zur Vollständigkeit bleibt zu sagen, dass die Anerkennung der Studienleistungen in vollem Umfang erst nach Weitergabe an die zentrale Landesbehörde stattfand.
Nach dem Studienabschluss begann ich das Lehramtsreferendariat am Studienseminar Hannover II. Damit verbunden war die Hoffnung, dass die im Studium erfahrene Diskriminierung ein einmaliges Ereignis gewesen wäre. Schließlich hatte ich aufgrund meines Studienabschlusses nachgewiesen, dass ich die Eignung zum Sportlehrer besaß. Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Jede fortan erlebte und diskriminierende Einzelheit des Verhaltens seitens meiner Seminarleiter/-innen lässt sich hier nicht darstellen, da sie den Rahmen sprengen würden. Dennoch hatte ich in einer ersten Version dieses Beitrages mehrere exemplarische Diskriminierungsereignisse aufgelistet. Während dieser Arbeit und in der Reflexion über das Geschriebene ist mir jedoch aufgefallen, wie stark mich diese Ereignisse noch heute belasten, mit welcher Wucht sie mich zurück katapultieren in Hilflosigkeit, Nichtwahrnehmung, Aggression und die dadurch entstandene Depression.
Ich lasse daher die Einzelheiten weg und stelle hier verdichtet die juristisch belegbaren Fakten dar: Die dort gültige Ausbildungsverordnung für den Vorbereitungsdienst im Lehramt Niedersachsens sieht vor, dass die Ausbildungsinstitution zu Beginn der Ausbildung eines Menschen mit Behinderung die Vertrauensperson für Menschen mit Behinderung der Behörde hinzuzieht. Dies geschah in meinem Fall nicht. Diese Fehlhandlung ist erst im Widerspruchsverfahren gegen das erste Nichtbestehen in der Zweiten Staatsprüfung aufgefallen. Einen Tag vor der Wiederholungsprüfung wurde der erste Prüfungsversuch aufgrund eines Antrages meines Rechtsbeistands an den Petitionsausschuss des Landtages durch das zuständige Kultusministerium annulliert. Am Folgetag bestand ich den – nunmehr wieder ersten – Prüfungsversuch wiederum nicht. Nebenbei bemerkt war es ein Prüfungsunterricht im Fach Sport in der Sportart Schwimmen. Die Vertrauensperson für Menschen mit Behinderung war von dieser Prüfung erst am Vortag von der Seminarleitung informiert worden, konnte aber aufgrund des geringen zeitlichen Vorlaufes nicht mehr zur Prüfung hinzukommen und somit in das Verfahren eingreifen. In der Folge kam es zu einer erneuten juristischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Obliegenschaft der Informationsverpflichtung des Studienseminars an die Vertrauensperson für Menschen mit Behinderung mir zugeordnet wurde. Eine Sichtweise, die am zuständigen Verwaltungsgericht ihre Bestätigung erfuhr. Erst eine zweitinstanzliche Ebene, das Oberverwaltungsgericht, stimmte meiner Sichtweise zu und der zuständige Richter leitete über persönliche Telefonate mit meinem Anwalt und dem Landeslehrerprüfungsamt einen Vergleich ein. Das Ergebnis war die Annullierung aller bisherigen Prüfungen, ein Wechsel des Studienseminars und die Verlängerung der Ausbildungszeit um ein halbes Jahr sowie die Auflage der unbedingten Beteiligung der Vertrauensperson für Menschen mit Behinderung in allen weiteren Ausbildungsschritten. Zusammengefasst dauerte mein Referendariat vier Jahre, ich bestand es im juristisch ersten Prüfungsversuch, mit der Gesamtnote 4,4.
Worin bestand nun die Diskriminierung? In erster Linie in der Sprachlosigkeit der die jeweiligen Institutionen repräsentierenden Personen – Behördenleiter, Sachbearbeiter, Ausbilder. Das von ihnen an den Tag gelegte Verhalten im Umgang mit mir zeigte dabei die klassischen Dispositionen. Während des Studiums versuchte das für die Leistungsanerkennung zuständige Prüfungsamt am zweiten Studienort über eine gut gemeinte Fürsorglichkeit die Differenzen auszugleichen. Ich habe dafür den Begriff der ‚vorauseilenden Fürsorge’. Obwohl die beteiligten Personen mich nie dazu befragten, welche Auswirkung meine Beeinträchtigung hat und welche Fähigkeiten ich besitze, waren sie der festen Überzeugung, dass meine Berufswahl für mich ungeeignet wäre. Im weitestgehenden Kontext stellt sich mir die Frage, mit welchem Recht eine Behörde die Freiheit der Berufswahl einschränkt.
Die Handlungen des Studienseminars Hannover II während des Referendariats repräsentiert den entgegengesetzten Pol im von mir erfahrenen diskriminierenden Verhaltensspektrum: dem Ignorieren der Behinderung. Dies zeigte sich – neben vielen Einzelheiten – am deutlichsten, als mir die Verantwortung für die Einbeziehung und Beteiligung der Vertrauenspersonen für Menschen mit Behinderung stillschweigend übereignet wurde. Fachpersonal, das eine Sensibilität für Diskriminierungsmechanismen besitzt, wurde entgegen klarer Verordnungsnormen nicht hinzugezogen. Mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates ist dieses Verhalten nicht vereinbar.[5]
Zusammengefasst zeigen diese beiden Beispiele, dass diskriminierendes Verhalten aus einem Übermaß an Fürsorge, welches ich als ‚vorauseilende Fürsorge’ bezeichne oder Ignoranz für die Notwendigkeit von Fürsorge entsteht.
Der Begriff Diskriminierung ist in seiner gesamten wissenschaftlichen Breite im Rahmen dieses Artikels nicht darstellbar. Dennoch will ich meine Sichtweise in der Weiterführung des oben Gesagten hier ausführen. Ich nehme diskriminierendes Verhalten zumeist dann wahr, wenn es mir aufgrund der Situation oder Hierarchie nicht möglich ist, die Diskriminierung sachlich deklarieren zu können. Ich als Mensch mit einer Behinderung muss einem Nichtbehinderten sagen, dass seine Wortwahl, sein Verhalten, seine Handlung mich herabsetzt oder entwürdigt. Das ist häufig sehr schwierig und diffizil, da die qualitative Beurteilung des Verhaltens nur mir als dem behinderten und rezipierenden Subjekt vorbehalten ist. Anders ausgedrückt: Ob Sie sich diskriminierend verhalten, entscheiden nicht Sie als Verfasser und Sender einer Aussage oder Handlung, sondern der Mensch mit einer Behinderung, die Frau, die Person einer Ethnie, Religion etc.[6] Diskriminierung beginnt nach meiner Erfahrung mit einer gestörten Kommunikation über die Konnotationshoheit von Verhalten und Handlungen. Dabei findet eine Entkopplung von der Sachebene statt, dennoch bleibt alles in der Form an Personen gebunden und mündet in einer appellartigen oder apodiktischen Diktion.
Dem gegenüber steht, dass es normal ist, zu diskriminieren. Die menschliche Wahrnehmung beruht auf der Diskriminierung von Informationen, würden wir ständig alles gleichgewichtig wahrnehmen, könnten wir der Flut an Informationen nicht Herr werden.[7] Es entspricht also unserem menschlichen (Wahrnehmungs-)Charakter, zu diskriminieren. Verknüpft man diese Grundannahme mit der Systematik der Entwicklungspsychologie, dann wird klar, warum Kinder in der Interaktion mit Menschen mit Behinderung weniger diskriminierend/herabwürdigend vorgehen als Erwachsene und Institutionen. Kinder nehmen das Ereignis ‚Behinderung‘ wahr und operationalisieren es konkret, sodass die Bewältigung der aktuellen Situation pragmatisch im Fokus steht – „Was hast Du da?“, „Tut das weh?“, „Kannst Du dies? Kannst Du das?“, „Wenn Du das nicht kannst, kannst Du dann vielleicht das? Damit wir zusammen dieses oder jenes tun können.“[8]
Erwachsene Menschen und Institutionen operationalisieren eine Behinderung häufig formal. Die 'was-wäre-wenn-Frage’ tritt in den Vordergrund und verhindert die Lösung der konkreten Situation. Es ist ein fortwährendes externes Prognostizieren, das im Kontext der Selbstbestimmung nicht zulässig ist. Spätestens, wenn zu diesem Prognostizieren noch Generalisierungen hinzutreten, ist die Grenze zur Diskriminierung überschritten. Es gilt hierbei jedoch auch festzuhalten, dass Prognosen über Verhaltensmöglichkeiten, Entwicklungsverläufe und Gefahren für sich allein nicht negativ sind. Sicherlich macht es den Menschen sogar bis zu einem gewissen Maße auch aus, dass er dies kann. Ebenso sind Generalisierungen im Sinne von Kategorien Teil unserer täglichen Existenz. In sozialen Situationen mit vielen Faktoren (Beteiligten) bedarf es solcher allgemeinen Strukturierungen, da die Masse an individuellen Eigenschaften und Informationen ansonsten nicht verarbeitet werden kann. Im Kontext von Menschen mit Behinderungen ist jedoch die Kombination aus externer Prognose und generalisierter Kategorie kontraproduktiv und führt in den meisten Fällen zu diskriminierendem Verhalten. Denn ein Mensch mit einer Behinderung ist in seiner Eigenschaft ein Einzelfall, eine Ausnahme von der Kategorie. Er bedarf daher einer individuellen Prognose.
Komme ich zurück auf die Thematik der Diskriminierung, dann ist die eben benannte notwendige Individualisierung für behördliche Institutionen aufgrund der erwähnten Fülle an subjektiven Faktoren ein Problem. Hinzu kommt das juristisch-moralische Verbot der Diskriminierung. Beides führt zu einer Angst, diskriminierend zu handeln (vgl. Wegner, 2001, S. 54 ff.). Das Produkt: eine self-defeating prophecy. Wir diskriminieren nicht, weil wir darauf achten, nicht zu diskriminieren.
In meinem sozialen Umfeld sind diskriminierende Verhaltensweisen alltäglich und normal existent, jedoch habe ich in diesem Rahmen die Hoheit über ihre Auswirkungen und kann selbstbestimmt entscheiden, inwieweit ich eine Beeinflussung zulasse oder nicht. Die häufigste Form der alltäglichen Diskriminierung ist die oben benannte vorauseilende Fürsorge, die in abgeschwächter Version eine gut gemeinte positive Bestärkung der behinderten Person beabsichtigt. Dieses Verhalten wird als positive Diskriminierung benannt. Die kleinwüchsige Bloggerin Ninia Binias, alias Ninia LaGrande, hat am 23.6.2012 auf dem Blog leidmedien.de dazu – sehr treffend – folgendes geschrieben:
„Es gibt für mich nichts Schlimmeres als positive Diskriminierung. Kommentare nach dem Motto „das ist ja toll, dass du das machst, obwohl du kleiner bist“. Das ist nicht toll. Es ist gut. Es ist gut, dass ich das auch machen kann. Aber es wäre einfach schlimm, wenn es nicht ginge. Ich bin nicht mutig, nur weil ich vor die Haustür gehe, wie alle anderen Menschen auch. Es hat auch nichts mit Mut zu tun, sich den blöden Blicken und Sprüchen auszusetzen. Sondern es ist einfach völlig asozial, scheiße und unmutig von den Anderen solche Blicke und Sprüche zuzulassen oder gar selbst zu äußern. In dieser Sache habe ich keinen Mut. Ich habe nur ein dickes Fell.“
Trete ich zum ersten Mal mit einer Lerngruppe in Kontakt, informiere ich sie über meine Besonderheit und erteile ihnen eine Erlaubnis, in dem ich formuliere: „Ich bin kein normaler Sportlehrer. Ich habe eine Körperbehinderung. Die habe ich seit meiner Geburt. Und deshalb ist es für mich normal, angeschaut zu werden. Angucken ist erlaubt. Angaffen ist unangenehm – für mich und für euch. Bevor ihr gafft, fragt mich. Es gibt keine peinlichen Fragen. Peinlich ist nur, nicht zu fragen. Deshalb fragt mich, auch zum Unterricht. Denn wenn ich anders bin, dann wird der Unterricht auch anders sein.“
Nach dieser Vorrede möchte ich darauf eingehen, welche Charakteristika den von mir gestalteten Sportunterricht kennzeichnen. Denn, wie oben benannt, ein von mir strukturierter Unterrichtsverlauf unerscheidet sich logischer Weise aufgrund meiner Behinderung von dem eines nichtbehinderten Sportlehrers oder –lehrerin. Der auffälligste Unterschied besteht darin, dass ich nicht demonstrieren kann.[9] Meine Bewegungen sind für mich funktional in den jeweiligen Sportarten. Sie mittels Demonstration zum Bewegungsleitbild zu deklarieren, würde bedeuten, dass die Schülerinnen und Schüler eine behinderungsbedingte Motorik erlernen sollen. Dies kann zwar im Einzelfall durchaus sinnstiftend sein – z. B. wenn es inhaltlich darum geht, Reflexionen über Bewegungsgestaltung oder Gesundheitsbewusstsein einzuleiten – aber generell ist meine Art der Bewegungsausführung nicht funktional für einen nicht körperlich behinderten Menschen. Aus dieser Differenz erwächst jedoch ein für mein Lehrerhandeln bedeutsamer Vorteil: ich bin darin geübt, mich in Bewegungsformen hineinzudenken. Die Folge davon ist, dass Bewegungen im Rahmen meines Unterrichts mittels Reflexion auf ihre wesentlichen Merkmale verdichtet werden. Daher ist für einen von mir durchgeführten Sportunterricht kennzeichnend, dass eine Vielzahl an Reflexionsmethoden[10] ihren Einsatz finden.
Die Wirkung: Im Rahmen eines solchen Unterrichtes wird mehr gesprochen, mehr angehalten, mehr gestanden, mehr variiert, mehr erprobt und mehr gefragt. Dass diese Punkte einen Unterschied zum gängigen Sportunterricht darstellen, weiß ich aufgrund von gelegentlichen Schülerrückmeldungen mir gegenüber: „Herr Sauerbier! Bei ihnen im Sport muss man immer so viel über sich selber nachdenken!“ Und auch wenn die Schülerinnen und Schüler darin ihrer Irritation Ausdruck verleihen, bestätigen sie damit gleichfalls, dass diese Unterrichtsstruktur Lehrplankonform ist. Für mich wesentliche didaktische Leitlinien sind ein mehrperspektivischer Blick auf sportliche Handlungsfelder, unter Berücksitigung pädagogischer Perspektiven, eine Problemorientierung und das Ziel, Kompetenzen zu entwickeln[11]. Aus diesen didaktischen Leitlinien heraus würde ich meinen Sportunterricht als fortwährende Erlaubnis bezeichnen – die Erlaubnis nachzufragen; die Erlaubnis etwas nicht zu können; die Erlaubnis anders zu sein und dennoch teilzuhaben.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.) (2016). Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung. Berlin. Letzter Zugriff am 22.09.2016 unter http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Handout_Umfrage_Diskriminierung_in_Dtschl_2015.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Binias, N. [Ninia LaGrande] (23.6.2012). Die komische Welt von Sat.1. Oder: Kleine Menschen, große Scheiße. Letzter Zugriff am 22.09.2016 unter http://www.leidmedien.de/aktuelles/sichtweisen/die-komische-welt-von-sat-1-oder-kleine-menschen-grosse-scheisse/
Giese, M. (2016). Inklusive Fachdidaktik Sport – eine Candide im Spiegel der Disability Studies. Zeitschrift für Sportpädagogische Forschung, i. Dr.
Giese, M. & Ruin, S. (2016). Forgotten bodies – an examination of physical education from the perspective of ableism. Sport in Society. doi: 10.1080/17430437.2016.1225857.
Mürner, C. & Sierck, U. (2013). Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung). Bonn.
Ruin, S. & Meier, S. (2015). Sportunterricht im Lichte der Inklusionsdebatte – ein kritischer Blick auf die Haltungen von Sportlehrkräften. In G. Stibbe (Hrsg.), Grundlagen und Themen der Schulsportentwicklung. (S. 127-143). Sankt Augustin: Academia-Verlag.
Stibbe, G. (2013). Zum Spektrum sportdidaktischer Positionen – ein konzeptioneller Trendbericht. In H. Aschebrock & G. Stibbe (Hrsg.), Didaktische Konzepte für den Schulsport (S. 19-52). Aachen: Meyer & Meyer.
Wegner, M. (2001). Sport und Behinderung. Zur Psychologie der Belastungsverarbeitung im Spiegel von Einzelfallanaylsen. Schorndorf: Hofmann.
[1] Hier ist relativierend anzumerken, dass meine ‚Einzigartigkeit’ darin besteht, dass ich mit einer angeborenen Behinderung die Ausbildung zum Sportlehrer durchlaufen habe. Behinderte Sportwissenschaftler und Sportlehrer mit angeborener oder erworbener Behinderung gibt es selbstverständlich, jedoch differiert, im Vergleich zu mir, eines der beiden Spezifika – sie sind Sportwissenschaftler (mit angeborener oder erworbener Behinderung) und keine Sportlehrer oder Sportlehrer mit erworbener Behinderung (haben die Ausbildung noch ohne Behinderung durchlaufen).
[2] Zu Ableism und damit zu Fragen nach unreflektierten Fähigkeitszuschreibungen im Sport sowie zu der Problematik, welche diskriminierenden Potentiale damit verbunden sein können, vergleiche Giese & Ruin (2016).
[3] Die Beweggründe für diesen Fachwechsel von der Geschichtswissenschaft zur Kunst sowie den Weg dahin werde ich hier nicht weiter ausführen, da sie für den Kontext Inklusion im Schulsport nicht relevant sind.
[4] Hier ist nochmals auf meine eingangs erwähnte subjektive Perspektive und Verortung in den Disability Studies zu verweisen. Eine gerichtsfeste Wiedergabe des damals Gesagten ist mir nicht möglich, da diese Äußerung im persönlichen Gespräch ohne Zeugen stattfand. Dass ich die Aussagen dennoch hier verwende, soll nicht der Diffamierung oder Revanche dienen, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass es für mich einen der eindrücklichsten und bewusstesten Momente darstellt, in denen ich Diskriminierung erlebt habe.
[5] Dazu ergänzend: „Unzulässige Benachteiligungen wegen einer Behinderung oder Beeinträchtigung werden dagegen vergleichsweise häufig aus dem Gesundheitsbereich und bei Ämtern und Behörden geschildert. In beiden Bereichen beschreiben Betroffene insbesondere Diskriminierungserfahrungen, bei denen ihre Lebenssituation nicht berücksichtigt wurde oder ihnen Rechte nicht zugestanden wurden.“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016)
[6] Und selbst dieses ‘etc.’ ist diskriminierend, aber pragmatisch.
[7] Oder es führt zu einer ‚Einschränkung’ wie dem, in der Schule häufig auftretenden, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäs-Syndrom.
[8] In sehr verallgemeinernder Form sind dies die gängigsten Fragen von Kindern, wenn sie mit mir ein Gespräch über meine Behinderung aufnehmen. Am Rande sei angemerkt, dass es mir immer eine große Freude ist, wenn Kinder in ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit ganz konkret fragen: „Warum hast Du so hässliche Schuhe an?“ Konkret, sachlich, ehrlich und authentisch – damit kann ich als Mensch mit einer Behinderung sehr gut umgehen.
[9] Ich verkürze meine Aussage hier ganz bewusst und ergänze daher an dieser Stelle, dass meine Demonstrationsfähigkeit nur in Bezug auf alle Bewegungen, die mit den unteren Extremitäten ausgeführt werden oder diese benötigen, nicht dem biomechansichen Optimum entsprechen können.
[10] Z. B. kontrastierende Bewegungsausführungen oder Verbalisierung der kinästhetischen Wahrnehmung.
[11] Inwieweit dies aus sich selbst heraus inklusiv sein könnte, wäre zu diskutieren (vgl. dazu Ruin & Meier in diesem Heft).