Abstract: Inklusive Sportangebote sind in Deutschland bisher eher selten zu finden. Die Initiative Freiwurf Hamburg soll an dieser Stelle als Best Practice Modell vorgestellt werden, welches sich aktuell einer wissenschaftlichen Evaluation unterzieht. Diese ist nutzenfokussiert angelegt, d.h. auf die Bedürfnisse der Initiative zugeschnitten und zielt auf eine Verbesserung der Praxis ab. Die Ergebnisse dieser qualitativen Studie zeigen deutliche soziale Hierarchien zwischen den Teilnehmern mit und ohne Handicap, aber auch die Optionen, diese Abhängigkeiten, zumindest temporär, aufzubrechen oder umzudeuten.
Stichwörter: Sportverein; nutzenfokussierte Evaluation; Grounded Theory
Inhaltsverzeichnis
Inklusive Strukturen und Kulturen sind im Kontext des in Deutschland traditionell wichtigen Vereinssports aktuell eher selten zu finden (vgl. Deutscher Behindertensportverband, 2014). Ebenso kann die Forschungsaktivität im angesprochenen Kontext als rudimentär bezeichnet werden (vgl. Doll-Tepper, 2015, S. 22ff.).[1] Im Zuge der Forderung nach einer Etablierung von inklusiven Komponenten auch in Sportvereinen scheint der (wissenschaftliche) Blick auf sogenannte Best Practice Modelle, wie sie u.a. im „Index für Inklusion im und durch Sport“ (Deutscher Behindertensportverband, 2014) beschrieben sind, interessant. Dazu zählt auch der Verein Freiwurf Hamburg (im Folgenden: FW), eine sportvereinsübergreifende Initiative für Handball-Teams von Menschen mit und ohne Handicap.[2] In diesem Netzwerk spielen acht Mannschaften in einem Ligabetrieb, wobei in jedem Team Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Handicap spielen. Die Initiative verpflichtet sich nach seinem schriftlich fixierten Zielbild inklusiv zu agieren. Alle Teilnehmenden, unabhängig von ihren körperlichen oder geistigen Voraussetzungen, sollen am Handballspiel freudvoll teilhaben können.[3] Die Spielerinnen und Spieler mit Handicap gelten nicht als beeinträchtigt, sondern als Handballerinnen bzw. Handballer mit spezifischen Bedürfnissen. Diese formulierten Grundzüge von inklusivem Handeln entsprechen einer Haltung, die in der aktuellen sportpädagogischen Diskussion gefordert wird. Dabei wird Vielfallt als eine lebensbereichernde Qualität anerkannt und wertgeschätzt (vgl. Tiemann, 2013).
Da die Organisatoren von FW ihre eigene Praxis fortlaufend hinterfragen, entschieden sie sich für eine wissenschaftliche Evaluation ihres Netzwerks. Ausgehend von der Frage, wie die bei FW partizipierenden Akteure FW selbst deuten und gestalten, und damit das Zielbild umsetzen, wird seit Anfang 2015 im Rahmen eines Forschungsprojekts im Arbeitsbereich Bewegung, Spiel und Sport an der Universität Hamburg eine nutzenfokussierte Evaluation (Patton, 2008) gemeinsam mit FW durchgeführt. Es wird somit ein Beispiel inklusiver Praxis (FW) bzgl. seines Potenzials im Kontext inklusiver Kulturen und Strukturen (s. o.) untersucht. Zentrales Kennzeichen dieses Vorgehens ist die Verwobenheit von Evaluation und Praxis, da die Ergebnisse der Evaluationsforschung unmittelbar auf die Praxis bei FW Einfluss haben und FW somit signifikanten Nutzen aus diesem Vorgehen ziehen kann. Es wurden Akteursperspektiven verschiedener Teilnehmender von FW durch Interviews rekonstruiert und in Anlehnung an die Verfahren der Grounded Theory ausgewertet (vgl. Strauss & Corbin, 1996). Anschließend wurden diese Ergebnisse in einem Workshop von den Forschern mit den Trainerinnen und Trainern der FW-Teams diskutiert und ggf. gemeinsam in Handlungsalternativen überführt, sofern eine Veränderung der aktuellen Praxis notwendig erschien. Zudem wurden und werden verschiedene besonders relevante Themen aus den erhobenen Daten fokussiert und eingehender untersucht.
Die erhobenen Daten wurden im Kontext der Forschungsfrage analysiert, und die häufig auftretenden Phänomene zu Kategorien zusammengefasst. Diese werden in diesem Beitrag dargestellt, diskutiert sowie mit den im Forschungsprojekt getätigten theoretischen Vorarbeiten zum sozialen Handeln in Gruppen (u.a. Tajfel, 1982) in Beziehung gesetzt. Zum Abschluss erfolgt ein Ausblick auf den weiteren Verlauf des Forschungsprojekts und mögliche Entwicklungsperspektiven. Ausgangspunkt der Evaluationsforschung ist die o. a. Initiative FW, die im Folgenden beschrieben wird.
Aktuell partizipieren fünf Vereine mit ca. 100 Akteuren bei FW. Neben den Trainingseinheiten in den Vereinen existiert eine Punktspielrunde, die vom Deutschen Handballbund (DHB) als erste inklusive Handballliga anerkannt ist. Die Spiele werden nach dem Regelwerk des DHB durchgeführt, mit dem gemeinsam weitere Rahmenrichtlinien für den inklusiven Spielbetrieb entwickelt wurden. Bspw. darf jede Spielerin du jeder Spieler in einem Spiel nur drei Tore werfen, was für „Chancengerechtigkeit“ (Freiwurf Hamburg, 2016) unter den Agierenden sorgen soll.[4] Die Sportlerinnen und Sportler, unabhängig ob bzw. welches Handicap sie haben, sind Mitglieder in den Stammvereinen, die neben den FW-Teams weitere Handballmannschaften im Breitensport anbieten und nicht auf ‚Behindertensport‘ o. ä. Angebote spezialisiert sind. Es wird jährlich ein auswärtiges Trainingslager durchgeführt, wodurch internationale Kontakte zu anderen inklusiven Handballvereinen entstanden sind. Die Initiative erfährt in der Öffentlichkeit eine breite positive Wahrnehmung,[5] was durch die Nennung im Index für Inklusion im und durch Sport im Abschnitt „Gute Praxis zum Nachmachen“ (Deutscher Behindertensportverband, 2014, S. 82ff.) unterstrichen wird.
„Freiwurf Hamburg ist eine vereinsübergreifende Initiative von passionierten Handballern, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: Inklusion durch Handball für Alle. (…) Ihr Name ist dabei synonym für ihre Mission: Im Handball gibt es den Freiwurf, wenn ein Spieler in seiner Bewegungsfreiheit von einem anderen behindert wurde. Der Freiwurf gibt ihm die Chance, wieder ins Spiel zu kommen. Und genau um diese Chance geht es: Allen Menschen die Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, die sie benötigen, um ins Spiel zu kommen“ (ebd., S. 86)
In dieser von der FW-Homepage übernommenen Passage werden hehre, teilweise über den Sport hinaus gehende Ziele formuliert. Der angesprochene Satz „Inklusion durch Handball für alle“ (ebd.) steht auch über dem Zielbild von FW, welches als eine Komponente der Evaluation genutzt wird.[6] Dieser Wertekanon (s. Abb.1) ist aus den praktischen Erfahrungen der Teilnehmenden ohne theoretisches Fachwissen entstanden. Alle Teilnehmenden müssen sich zu Beginn ihrer Mitgliedschaft bei FW verpflichten, entsprechend zu handeln.
Abb.1: Zielbild von FW (2016)
Vor dem Hintergrund der Evaluation stellt sich mit Blick auf die formulierten Ziele die Frage, ob die Akteure dem Zielbild gerecht werden, und ob wirklich für alle Teilnehmenden dieselben Kriterien gelten, um bspw. als Handballerinnen oder Handballer anerkannt zu werden. Im Zielbild werden zudem bestimmte sportspiel-immanente Kriterien abgeschwächt und andere in den Vordergrund gestellt, was auf das spezifische Verständnis von sportlicher Leistung und Ergebnisorientierung hinweist. Dies wird auf der Homepage expliziert: „Gut gespielt, aber verloren gibt es nicht. Solange ein Spieler im Rahmen seines Potentials das Beste geben durfte und konnte, ist er Gewinner und erhält die angemessene Anerkennung von Trainer und Teamkameraden“ (Freiwurf Hamburg, 2016).[7]
Die aufgeworfenen Fragen werden im weiteren Verlauf untersucht. Dazu werden Zielbild und die Phänomene der rekonstruierten Praxis der Akteure miteinander in Beziehung gesetzt und diskutiert. Dies passiert mithilfe theoretischer Vorarbeiten, die im nächsten Punkt dargestellt werden.
Der vorliegende Beitrag schildert einen explorativen Feldzugang samt Analyse im Rahmen einer nutzenfokussierten Evaluation. Der Schwerpunkt des Forschungsprojekts liegt aufgrund der Struktur der nutzenfokussierten Evaluation auf der Analyse der Vorgänge im Feld, was eine theoretische Sensibilisierung bzw. das „Theoretische Sampling“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 148ff.) aber keinesfalls ausschließt. Die angewandten Kodierverfahren der „Grounded Theory“ (ebd.) stehen in Kombination mit den theoretischen Vorarbeiten für ein erweitertes qualitatives Methodenverständnis (vgl. Hopf, 1996), welches in der Sportwissenschaft ein etabliertes Vorgehen darstellt (vgl. u. a. Krieger, 2005; Greve, 2013). Um der Nutzenfokussierung der Evaluation zu folgen, wurden mit Blick auf die Inhalte des Zielbildes entsprechende theoretische Felder bearbeitet.[8] Dazu wird der Begriff Begriffs Inklusion im Sinne von FW definiert und das Verhalten von Menschen in sozialen Gruppen beleuchtet.
Da aktuell keine einheitliche Definition von Inklusion oder inklusivem Sport o. ä. im fachwissenschaftlichen Diskurs vorliegt (vgl. Giese, 2016), wird im Sinne der nutzenfokussierten Evaluation eine pragmatische Perspektive eingenommen und die von FW verwendete Definition des Begriffs Inklusion als Ausgangspunkt der Diskussion genutzt:
„Für uns bedeutet Inklusion, Unterschiede zwischen Menschen, vor allem hinsichtlich ihrer körperlichen oder geistigen Handicaps, nicht als Schwäche oder besonders beachtenswert, sondern als Chance und natürlichen Bestandteil einer vielfältigen Gesellschaft zu begreifen. Aus diesem Grund ist für uns wichtig, eine Differenzierung zwischen ‚behindert‘ und ‚nicht-behindert‘ weitestgehend aufzulösen; auf dem Spielfeld soll nicht das Handicap im Vordergrund stehen, es stehen sich dort sieben Spieler gegenüber, die alle als Handballer anerkannt und angesehen werden wollen.“ (FW, 2016)
Diese in der Praxis entstandene Auslegung besagt, dass Menschen mit und ohne Handicap gemeinsam Handball spielen sollen, ohne dass sich Sportlerinnen und Sportler ohne Handicap als hierarchisch über den Sportlerinnen und Sportlern mit Handicap stehend sehen und dort als ‚Integrationshelfer‘ o.ä. auftreten. Ob dies bei FW umgesetzt wird, soll im empirischen Teil aufgezeigt werden.
Bei FW interagieren Menschen mit und ohne Handicap miteinander. Es ist anzunehmen, dass die daraus entstehenden (Gruppen-)Identitäten ‚mit Handicap‘ und ‚ohne Handicap‘ determinierend für die Strukturierung von Handlungsverläufen sind, daher wird im Folgenden auf das soziale Handeln in Gruppen eingegangen. Dies passiert vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Ansätze.[9]
Es sind zahlreiche Definitionen entwickelt worden, was Gruppen sind und was sie ausmacht. Sie unterscheiden sich meist durch verschieden festgelegte Kriterien, die eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe charakterisieren (vgl. Simon & Trötschel, 2006). Unterscheidungskriterien können sowohl objektive (z. B. Geschlecht, Beruf) als auch subjektive Merkmale (z. B. gemeinsame Interessen) sein (vgl. Krieger, 2005, S. 71; Simon & Stürmer, 2003, S.186ff.). Angelehnt an Sherifs (1967) Definition von Intergruppenverhalten definiert Tajfel (vgl. 1982, S. 70) eine soziale Gruppe: „(...) the essential criteria for group membership, as they apply to large-scale categories, are that the individuals concerned define themselves and are defined by others as members of a group“ (Tajfel & Turner, 1979, S. 40). Eine Gruppe existiert somit nie allein, sondern immer erst im Kontrast zu anderen Gruppen. Krieger (vgl. 2005, S. 73) definiert dies als Eigen- (Ingroup) und Fremdgruppe (Outgroup).
Nach Tajfel enthält der Gruppenbegriff für das Individuum drei grundlegende psychologische Komponenten: eine kognitive, eine evaluative und eine emotionale. Die kognitive Komponente beinhaltet das Wissen über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Man kann diese Komponente auch als „sozial-kognitive Komponente“ (1982, S. 73) bezeichnen, da das Wissen um die Gruppenzugehörigkeit von mehreren Personen geteilt werden muss. Bei der evaluativen Komponente wird die Gruppe oder die eigene Gruppenmitgliedschaft positiv oder negativ bewertet. Die kognitiven und die evaluativen Komponenten können emotional belegt sein.
Tajfel (vgl. ebd., S. 82ff.) verweist zudem auf die Wichtigkeit der sozialen Situationen, in der ein Individuum seine Gruppenmitgliedschaft als bedeutend ansieht. Wie sich ein Individuum gegenüber Mitgliedern der Eigen- oder einer Fremdgruppe verhält, ist als Abwägen von eigenen Interessen und derer der Gruppe zu interpretieren. Bzgl. FW stellt sich die Frage, wie und nach welchen Kriterien sich bei FW Gruppen bilden und verändern. Laut Zielbild soll die Gemeinsamkeit Handballer ausschlaggebend dafür sein, nicht das Handicap.
Das Forschungsprojekt ist als nutzenfokussierte Evaluation im Sinne Pattons angelegt: „Utilization-focused Evaluation is a process of creatively and flexibly interacting with intended evaluation users about their information needs and alternative methodological options, taking into account the decision context in which an evaluation is undertaken“ (2008, S. 175). Der ständige und fortlaufende Austausch über den Evaluationsprozess und die (Zwischen-)Ergebnisse mit den Akteuren von FW ist fundamentaler Bestandteil der Evaluation selbst. Um dies zu gewährleisten, findet seit Anfang 2015 monatlich ein Projekttreffen mit den Forschern und einem Offiziellen von FW statt, der neben seiner Vorstandstätigkeit auch in einer Mannschaft spielt. Dabei werden die bisherigen Schritte im Feld sowie bereits vorhandene (Zwischen-)Ergebnisse vorgestellt, diskutiert sowie reflektiert. Der Vertreter von FW agiert als Multiplikator bei FW bzgl. dieser (Zwischen-)Ergebnisse und diskutiert diese bei Trainertreffen und anderen Sitzungen. Ebenso bringt er Wünsche und Ideen bzgl. des Fortgangs des Forschungsprojekts von Seiten FW in die Projekttreffen ein. Somit kann dem Kriterium der Interaktion zwischen Evaluatoren und Nutzern entsprochen werden. Dies ist aus forschungsmethodischer Sicht möglich und notwendig, da sich nutzenfokussierte Evaluation im Sinne Pattons (vgl. ebd.) nicht dogmatisch an bestimmten Inhalten, Modellen, Methoden oder Theorien orientiert. Sie ist als Prozess zu verstehen, um geeignete Inhalte, Modelle usw. für die Durchführung der Evaluation zu finden. Dabei fiel in diesem Projekt die Wahl auf ein exploratives, qualitatives Design. Dies ist u.a. mit dem Wunsch der Verantwortlichen von FW zu begründen, Handlungsprozesse möglichst genau abzubilden und auf diese (mithilfe der Ergebnisse) unmittelbar einwirken zu können. Daher ist die Evaluation als ein „kommunikativer Aushandlungsprozess“ (von Kardorff, 2015, S. 244) zwischen Forschern und FW angelegt worden. Dafür schienen quantitative Methoden an dieser Stelle weniger geeignet.[10]
Von Kardorff beschreibt qualitative Evaluationsforschung u. a. als „Auftragsforschung, die sich ihre Fragestellung nur begrenzt selbst wählen kann (...)“ (ebd., S. 239). Dies gilt auch für das beschriebene Projekt. Allerdings bestanden in der Zusammenarbeit zwischen FW und dem universitären Arbeitskreis entsprechende Freiheiten für die Forscher, da die Fragestellungen generell zwischen den Akteuren verhandelt wurden. Da der Austausch kontinuierlich stattfindet, ist er zu einem Teil der Evaluation selbst geworden (vgl. ebd., S. 240). „Qualitative Evaluationsforschung bevorzugt ein ‚responsives‘ Vorgehen, das die Reaktionen der Untersuchten einbezieht (...)“ (ebd., S. 246). Neben den beschriebenen Diskussionen bestehen die Daten aus den Feldnotizen (vgl. Schmidt, 2015, S.449f.) der Forscher, die bei zahlreichen Trainingseinheiten, Spielen und Turnieren der FW-Teams hospitierten, sowie aus den bisher 75 geführten Interviews mit den Akteuren von FW.
Da mit den Interviews das Ziel verfolgt wurde, die individuellen Sichtweisen der Akteure zu beleuchten und darzustellen, fiel die Wahl auf die Form des episodischen Interviews.[11] Diese haben das Ziel „Erfahrungen in allgemeiner, vergleichender etc. Form darzustellen, und gleichzeitig, die entsprechenden Situationen und Episoden zu erzählen“ (Flick, 2006, S. 160). Dabei werden „die jeweiligen Vorteile von narrativem und Leitfaden-Interview kombiniert“ (ebd., S. 158). Somit wurde mit Interviewleitfäden agiert, die Interviewer konnten aber spontan auf Äußerungen und die individuellen Interviewverläufe reagieren. Dies bot große Vorteile, da die Interviewpartner zu spezifischen Einstellungen (z.B. zu ihrer Haltung bzgl. Menschen mit Handicap, zur Ergebnisorientierung im Sport) wie auch zu konkreten Episoden aus Trainingseinheiten oder Wettkampfsituationen befragt wurden, was ein breites Spektrum in der Interessenlage der Forscher darstellt.
Das Evaluationsprojekt ist in mehrere Schleifen gegliedert (s. Abb.2).
Abb.2: Die Struktur des Forschungsprojekts
Von Beginn der Gespräche signalisierten die FWler ihre Offenheit gegenüber der wissenschaftlichen Evaluation sowie große Bereitschaft zur Kooperation. Von Seiten der Wissenschaftler wurde herausgestellt, dass eine Evaluation sensu Patton (vgl. 2008) einen unmittelbaren Nutzen für die Evaluierten haben muss. Die stattfindende Forschung und deren Ergebnisse sollte für die Nutzer von Bedeutung sein und deren Praxis beeinflussen (können). Daher wurde, neben der Teilnahme eines Mitglieds von FW an den Projekttreffen, der unmittelbare Feldkontakt der Forscher als wichtiges Element fokussiert. Anschließend begann die Akquise von Studierenden für das Projekt.
Während der Projekttreffen entwickelten Forscher und FWler erste Forschungsfragen, die durch Hospitationen bei Trainingseinheiten und Spielen weiter konkretisiert wurden. Dies diente der Strukturierung des explorativen Feldzugangs. In der ersten Schleife wurden ausgehend von der Fragestellung, wie die Akteure von FW die Handlungen und Abläufe innerhalb von FW deuten und erleben, eine Aufschlüsselung der Akteursperspektiven vorgenommen (s. Abb. 2). Dazu wurden Spielerinnen und Spieler mit und ohne Handicap, Trainerinnen und Trainer sowie Eltern von Spielerinnen und Spielern mit Handicap zu der Praxis bei FW, zu ihrem Verständnis von Inklusion und zum Zielbild von FW befragt. Die Interviews sowie deren Auswertung wurden in den Projekttreffen diskutiert und reflektiert, was vor, während und nach den zeitlich unterschiedlich liegenden Erhebungsphasen stattfand. Das Vorgehen in den Interviews konnte somit ggf. verändert und angepasst und die Interviewleitfäden entsprechend überarbeitet werden.
Mit den ersten vorliegenden Ergebnissen begann die übergreifende Auswertung der Daten. Diese ergab ein vorläufiges Kategoriensystem, welches einer fortlaufenden Überarbeitung unterliegt und mit jedem neuen Datensatz überarbeitet wurde. Ende 2015 begann eine die Akquise von Studierenden für die zweite Schleife. Die Schleifen überschnitten sich zeitlich, sodass die Studierenden bei den Projekttreffen in Kontakt kamen und ein entsprechender Erfahrungsaustausch stattfand.
In der zweiten Schleife wurden analog zur ersten Schleife Akteursperspektiven untersucht (Schiedsrichter, Vereinspräsidenten). Auch diese Themenauswahl fand in unmittelbarer Absprache mit den Verantwortlichen von FW statt. Zudem wurden verschiedene Phänomene, die in den Daten bisher sichtbar wurden und für die Verantwortlichen von FW sowie die Forscher als besonders relevant erschienen, in weiteren Feldzugängen fokussiert (z. B. Haltung zur Inklusion, Relevanz von Sieg und Niederlage).
Zentrales Element der zweiten Schleife und der gesamten Evaluation war ein gemeinsamer Workshop der Trainerinnen und Trainer von FW mit den Wissenschaftlern und Studierenden. Im Rahmen des Workshops wurden zuerst die Ergebnisse der bisherigen Forschungsaktivitäten und Analysen vorgestellt. Wichtigster Bestandteil des Treffens waren Gruppenarbeitsphasen, in denen die Trainerinnen und Trainer mit den Wissenschaftlern und Studierenden zu den herausgearbeiteten relevanten Phänomenen anhand von Interviewzitaten diskutierten. Die Diskussionen standen unter den Leitfragen ‚Was sind Handlungsalternativen für die Zukunft?‘ sowie ‚Was sind konkrete Schritte, die jetzt folgen sollten?‘. Die Arbeitsergebnisse wurden im Plenum diskutiert. Alle Diskussionen wurden aufgenommen und dokumentiert, um sie ebenfalls zu analysieren.
In der kommenden dritten Schleife besteht weiterhin Offenheit für weitere Arbeiten zu Akteursperspektiven (z. B. Zuschauer). Der Fokus liegt allerdings auf der Evaluation des Workshops und dessen Ergebnissen. Es stellt sich die Frage, wie diese die Praxis beeinflussen. Die Ausgestaltung dieser Evaluationsvorgänge erfolgt in der Diskussion aller Beteiligten, um weiterhin die Nutenfokussierung der Evaluation zu betonen. Die dritte und zweite Schleife überlappen sich ebenfalls.
Sämtliche Interviews wurden transkribiert und mithilfe der Verfahren der „Grounded Theory“ (Strauss & Corbin, 1996) ausgewertet:
„Die Grounded Theory ist ein qualitativer Forschungsansatz (…). Seine systematischen Techniken und Analyseverfahren befähigen den Forscher, eine bereichsbezogene Theorie zu entwickeln, die die Kriterien für ‚gute‘ Forschung erfüllt: Signifikanz, Vereinbarkeit von Theorie und Beobachtung, Verallgemeinerbarkeit, Reproduzierbarkeit, Präzision, Regelgeleitetheit und Verifizierbarkeit.“ (ebd., S. 18).
Die angesprochenen Gütekriterien qualitativer Sozialforschung sollen eine ausrechende Dichte innerhalb der Forschungsergebnisse garantieren. Es wird bei den Analyseverfahren zwischen dem offenen, axialen und selektiven Kodieren unterschieden. Das offene Kodieren „stellt in der Grounded Theory den analytischen Prozess dar, durch den Konzepte identifiziert und in Bezug auf ihre Eigenschaften und Dimensionen entwickelt werden.“ (ebd., S. 54). Hierbei sind die grundlegenden analytischen Verfahren das Stellen von Fragen an die Daten sowie das Abwägen bezüglich Analogien und Unterschieden zwischen verschiedenen Phänomenen. „Ähnliche Ereignisse und Vorfälle werden benannt und zu Kategorien gruppiert“ (ebd.). Nach dem offenen Kodieren folgt der Schritt des axialen Kodierens. Dabei werden die analysierten Subkategorien miteinander in Beziehung gesetzt: „Dies stellt einen komplexen Prozess induktiven und deduktiven Denkens dar, der aus mehreren Schritten besteht“ (ebd., S. 92). Das Entwickeln und In-Beziehung-Setzen von Kategorien ist nach dem paradigmatischen Modell ausgerichtet. Danach wird jedes Phänomen (bzw. die entstandene Kategorie) bzgl. der ursächlichen Bedingungen, Kontexte, intervenierenden Bedingungen, Handlungs- und interaktionalen Strategien und der daraus entstehenden Konsequenzen untersucht (vgl. ebd.). Bis zum aktuellen Zeitpunkt des Forschungsprojektes wurden primär das offene und das axiale Kodieren angewandt. Das selektive Kodieren ist in den Auswertungsverfahren bisher nicht berücksichtigt worden, da die zuvor genannten Kodierverfahren für die bisherige Themenanalyse ausreichend waren (vgl. ebd.). Ob im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts die Suche nach einer Kernkategorie (vgl. ebd., S. 94ff.) in den Fokus rücken wird, ist aktuell nicht abzusehen.
Beim Kodieren wird ebenfalls der Charakter der nutzenfokussierten Evaluation sichtbar: Nach den ersten Vorgängen des offenen Kodierens wurden die (vorläufig) als relevant erscheinenden Phänomene bzw. Kategorien in den Projekttreffen thematisiert. Dadurch konnten die Leitfäden entsprechend angepasst werden. Durch die fortlaufende Datenerhebung und axiales Kodieren konnten die gefundenen Kategorien erhärtet und weiter ausdifferenziert werden. Im Folgenden sollen die als relevant herausgearbeiteten Phänomene dargestellt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dafür findet eine Perspektiventriangulation (vgl. Flick, 2015. S. 309ff.) der unterschiedlichen Akteursgruppen statt. Es werden die unterschiedlichen Sichtweisen der Akteursgruppen zu den verschiedenen Phänomenen kontrastiert und mit dem Zielbild verglichen.
Die dargestellten Kategorien basieren auf dem stetigen, wiederholten Anwenden der Schritte der o.a. Kodierverfahren. Das Entwickeln und In-Beziehung-Setzen von Kategorien ist nach dem paradigmatischen Modell ausgerichtet. Demnach wird jedes Phänomen in Bezug auf seine ursächlichen und intervenierenden Bedingungen, Kontexte, Handlungs- und Interaktionale Strategien und die daraus entstehenden Konsequenzen untersucht (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 92f.). Dies ist vor dem Hintergrund der verschiedenen Akteursgruppen besonders komplex und aufschlussreich zugleich, da auf diesem Wege die verschiedenen Akteursperspektiven neben unterschiedlichsten Zugängen auch mannigfache Handlungsstrategien innerhalb des Settings FW offenbarten.
Abb.3: Die Kategorien und deren Bezüge zueinander
Die angegebenen Kategorien liegen auf unterschiedlichen Ebenen, die durch verschiedene Einflussrichtungen gekennzeichnet werden. Die Phänomene zur „Haltung zur Inklusion“ und zum „Leistungsdenken“ liegen auf einer gemeinsamen Ebene, die eine Denke zur Inklusion und zum Sport auf allgemeiner Ebene sowie FW spezifisch darstellt. Das Leistungsverständnis und die heterogenen Einstellungen zum Umsetzen von Inklusion ergeben ein uneinheitliches Leistungsverständnis im inklusiven Sport, welches bei FW zu Hierarchien im Kontext der Sportler führt. Diese Phänomene beeinflussen die Phänomene zu den „Rollenerwartungen /-einschätzungen zu den Spielern ohne Handicap“ sowie zum „Gruppendenken“ massiv. Diese beiden Kategorien liegen ebenfalls auf einer Ebene und symbolisieren o. a. Hierarchien, die in den Deutungen der Teilnehmenden sichtbar wurden. Diese Kategorien auf der Hierarchienebene wirken ihrerseits auf die Denkhaltungen der oberen Ebene, wobei dieses Einwirken weniger einflussreich und nicht generell erscheint. Die Kategorien werden im Folgenden dargestellt und mit Ankerzitaten illustriert. In den einzelnen Kategorien werden die unterschiedlichen sowie ähnlichen Sichtweisen der verschiedenen Akteursgruppen dargestellt und interpretiert sowie die Bezüge der Kategorien zueinander aufgezeigt.
Aus den Daten können verschiedene Einstellungen bezüglich einer inklusiven Gesellschaft und des inklusiven Handballspielens bei FW analysiert werden. Unterschiedliche Auslegungen des Begriffs werden ebenso deutlich wie heterogene Ansichten bzgl. der Umsetzung von Inklusion bei FW oder im gesellschaftlichen Leben. Dies äußert sich in einem Extrem in zielbild-konformen Aussagen, die Menschen mit Handicap als vollkommen gleichberechtigt zu Menschen ohne Handicap einstufen, und auf der anderen Seite in karitativen, defizitorientierten Einstellungen, die Spielerinnen und Spieler mit Handicap als hilfebedürftig ansehen. Eine spezifische Einstellung zum Spielen schildert Malte (Trainer):
„Aber das ist sozusagen der große Vorteil, den wir haben. Wir haben einen gemeinsamen Nenner. Jeder, der in die Halle kommt und das erwarten wir als Trainer, zumindest ich als Trainer. (…), von dem erwarte ich, dass er Handball spielen möchte und das ist der Kern, der uns da zusammenhält. Und wenn jemand dahin kommt und die Erfahrung haben wir auch gemacht, der eher vornehmlich sieht ah ich möchte Menschen mit geistiger Behinderung unterstützen und die sind so arm dran und also diese Mitleidstour und deswegen machen wir jetzt ein wenig Handball. Das funktioniert nicht. Das ist nicht auf Augenhöhe. Und wenn wir dahin kommen und das ist der Anspruch, den ich als Trainer da verfolge auch im Training. Ich möchte, dass alle auf einer Augenhöhe sind... im Grundsatz sozusagen. Es sind alles Spieler, die da trainieren und deswegen möchte ich nicht, dass ein Spieler ohne Behinderung über einem Spieler mit Behinderung steht.“
Malte beschreibt deutlich seine Erwartungen an die Rolle der Spielerinnen und Spieler ohne Handicap und das von ihm gewünschte Gruppenhandeln. Das Handeln auf ‚Augenhöhe‘ zwischen den Spielerinnen und Spielern mit und ohne Handicap als Voraussetzung für die Teilnahme. Alle Teilnehmenden sollen Handball spielen wollen. Dies ist der ‚Kern‘, eine rein karitative Haltung gegenüber den Menschen mit Handicap ist von den Verantwortlichen nicht gewollt, was Malte mit dem Begriff ‚Mitleidstour‘ unterstützt.
Interessant ist auch, wie die Teilnahme bei FW zu Veränderungen in der Haltung gegenüber Menschen mit Handicap führen kann. Dies beschreibt Michael (Spieler ohne Handicap):
„Ja, auf jeden Fall, weil ich dachte immer, Menschen mit Beeinträchtigung muss man vorsichtig anfassen, man darf nicht zu forsch an die rangehen, aber das wollen sie ja gar nicht. Man soll mit denen vernünftig sprechen. Das sind ja keine kleinen Kinder. Ich kann ja nicht hingehen und sagen, guck mal da, eine gaga oder eine Muh-Kuh oder so. Man muss mit denen vernünftig reden. Da bekommt man mehr Respekt, als wenn man die behandelt wie kleine Kinder. Und ich wusste auch nicht, wie leistungsfähig teilweise Behinderte sind. Wenn wir hier Krafttraining machen, da sind Übungen bei, wo ich denke, oh da hätte ich Probleme. Zum Beispiel mit dem Deuserband, die Arme lang und dann hoch über den Kopf. Ich will nicht sagen, da habe ich Probleme, aber es ist anstrengend, und wenn ich dann Leute wie Quang und Noah sehe, die machen das wie ein Hampelmann. Das sind Kraftpakete.“
Michael schildert seine durch Vorsicht und Zurückhaltung geprägte Haltung vor dem intensiven Kontakt mit Menschen mit Handicap. Die beschriebene Szene zeigt ein anderes Bild. Die ‚Kraftpakete‘ sind in seinen Augen überaus ‚leistungsfähig‘, was er nicht erwartet hatte. Er vergleicht diese Leistungsfähigkeit mit seiner eigenen und ist unsicher, ob er entsprechende Übungen absolvieren könnte. Die Anstrengungen meistern die genannten Mitspieler problemlos. Der Wandel in seiner Haltung wird anhand seiner weiteren Ausführungen deutlich. Er sieht eventuelle Vergleiche zu ‚kleinen Kindern‘ und damit einhergehende Diminutive im sprachlichen Umgang als unangemessen und verweist auf einen respektvollen Umgang. Es scheint, dass der Kontakt zwischen Michael und den Spielern mit Handicap im Kontext von FW positive Auswirkungen auf seine Haltung hat. Dies liegt offensichtlich an den Bedingungen, die FW bietet, da die Spieler ihre Fähigkeiten im Rahmen des Trainings entsprechend präsentieren können. Das Leistungsdenken sowie die Verbindung von Haltung und Leistungsaspekten in sportlichen Kontexten werden im nächsten Punkt beleuchtet.
Die vorliegenden Daten verweisen auf ein heterogenes Bild bzgl. des Leistungsdenkens der verschiedenen Akteure. In diesem Kontext sind die Punkte des Zielbilds relevant, die sich mit der Ergebnisorientierung und dem Leistungsgedanken befassen (Spaß am Spiel, Einsatz der Spieler wichtiger als das Ergebnis, alle Spielerinnen und Spieler sollen sich handballerisch verbessern). Diese prägen oftmals die Aussagen der Interviewten, dazu sind ebenso ambivalente Einstellungen bezügliches des Gewinnen wollens zu erkennen, so auch in der Passage von Heiner (Trainer).
„Ah, stell dir mal vor, du bist frei vor der Hütte und du darfst nicht werfen. Mh, es genau so wenn du sagst "Es geht nicht um das Gewinnen", natürlich geht es irgendwie um das Gewinnen. Natürlich findet er das nicht so toll, aber wir sagen "Anspiele sind genau so viel wert wie ein Tor und für Finn ist das doch toll". (...). Ein schwerer Prozess war es auch denen immer wieder zu sagen "Es geht uns nicht um das Gewinnen". Warum nicht? Beim Fußball wollen sie auch immer gewinnen. Überall ist es so, dass man gewinnen will. Das ist nicht so einfach. Gerade, wenn man nicht voll dahinter steht. Natürlich geht es mir nicht um das Gewinnen. In manchen Situationen ist das schon so. Es war gerade im letzten Spiel und dann ging es wirklich darum, kriegen wir den Pott noch einmal oder nicht. Und wir haben uns dann für das Gewinnen entschieden... ne, jetzt wollen wir auch gewinnen. Wir haben so toll gespielt und wir haben vorher gesagt "Diesmal kriegen wir den nicht" [tippt sich dabei an die Stirn]. Aber die haben so gut gespielt, dann dürfen sie sich auch dafür belohnen, ja“.
Heiners Aussagen zeigen seine gedeutete Ambivalenz bzgl. des Aspekts des Gewinnens in der Liga. Er schildert Gewinnen als einen natürlichen und elementaren Bestandteil des Sportspiels. Dabei wird die Prozesshaftigkeit der Vermittlung des Zielbilds deutlich; er muss ‚denen‘ wiederholt schildern, dass neben dem Torwurf auch andere Aktionen wichtig sind. Dazu ist seine Darstellung vom letzten Saisonspiel interessant. Dieses regelrechte Endspiel um den ‚Pott‘ wollten die Teams gewinnen. In diesem Kontext kam es im Vorwege zu einer Thematisierung des Aspekts des Gewinnens zwischen den Teammitgliedern und zu einer Entscheidung, das Gewinnen wollen vor andere Aspekte zu stellen. Dies wurde auch in anderen Interviews dargestellt und teils massiv kritisiert. Heiner rechtfertigt dies mit den bisher gezeigten Leistungen: Der Meistertitel wird als Belohnung angesehen. Der Pokal als Symbol für die Meisterschaft ist wichtiger als die vorhandene Anerkennung der gezeigten Leistungen, was konträr zum Zielbild ist. Ähnliches beschreibt auch Walter (Spieler mit Handicap). Er äußert sich zu Veränderungen seit Einführung der Liga.[12]
„Ne, manchmal ist mir die Liga auch zur Wider, weil es da Leute gibt, die das zu ernst angehen, diesen Ligaaspekt. (…) Das ist nicht der Aspekt von Freiwurf Hamburg vom Ursprung her, dass es um Leistungsdruck geht. Sondern, dass wir miteinander spielen, egal ob wir gewinnen oder nicht oder wie alt man ist. Das ist ein wenig verloren durch den Ligaaspekt, weil der Leistungsdruck dazukommt. (…) Ich will ja auch lieber meinen Spaß haben. Das ist auch der Grund, weil ich teilweise auch sehr niedergeschlagen war, weil es vielen nicht mehr im Kopf ist, weil es kein Leistungssport ist im Grundgedanken, aber das geht mit der Zeit verloren. (…) Im Sport geht es auch nicht wirklich ohne Leistung. Da ist der allgemeine Grundgedanke noch zu sehr auf Leistung.“
Walter nutzt den Begriff ‚Leistungsdruck‘, welcher durch die Einführung der Liga entstanden ist. Vielfach überstrahlt der Leistungsaspekt, der für ihn nicht zu FW gehört, bei seinen Mitspielerinnen und Mitspielern andere Werte, wie z.B. Spaß, was Walter explizit nennt. Ihm scheint bewusst zu sein, dass Leistung bzw. Gewinnen und Verlieren ein genuiner Bestandteil des Handballspiels ist. Die von Heiner beschriebene Ambivalenz bzgl. Gewinnen und Verlieren vs. Zielbild wird bei Walter durch den klaren Wunsch nach Spaß am Spiel aufgelöst. Hier wird deutlich, dass Wettbewerb zu Problemen im inklusiven Kontext führen kann. Das Gewinnen wollen einiger Spielerinnen und Spieler führt dazu, dass andere Spielerinnen und Spieler sich zurückgesetzt fühlen und aus dem Spielverlauf ausgeschlossen werden, dieses Leistungsverständnis führt zu negativen Konstellationen im Kontext des Gruppenhandelns. Dass aber auch eine andere Schwerpunktsetzung im Leistungsdenken möglich ist, zeigt der Ausschnitt von Stefan (Spieler mit Handicap):
I: „Stört dich das manchmal gar nicht, dass der Leistungsanspruch hier gar nicht so hoch ist? Weißt du, so mit Aufsteigen, Turniere gewinnen oder so viele Tore machen wie möglich?“
S: „Nö, eigentlich nicht. Hauptsache ich spiel und mach die Aufgaben, die ich zu machen hab, wie Kapitän und so, delegieren. Mit Tipps geben und so, wie die das dann richtig machen könnten. (…)“
I: „Ok, ah ok. Was ist denn für dich ein richtig gutes Spiel von dir?“
S: „Weil ich da meine Leistung gezeigt hab, meine Trainerin sind damit zufrieden, dass ich meine Leistung als Delegieren gut gemacht hab, die kommen dann direkt zu mir und sagen: ‚Gut gemacht. Das musst du weiter machen, weiter behalten, in jedem Spiel.‘ Dann bringt das eigentlich schon Lust. Auch wenn alle mitmachen, denn wir haben auch welche, die machen im Spiel immer Quatsch und überlaufen sich und tun sich selbst weh. Ich sag dann immer: ‚Ihr könnt nicht auf einer Seite, beide gleichzeitig sein.‘"
Stefan schildert, dass ihm seine eigene Leistungsentwicklung und –fähigkeit wichtig ist. Dies bezieht er konsequent auf seine darin bestehenden Aufgaben, seinen Mitspielern als ‚Kapitän‘ Hilfestellungen und Anweisungen zu geben. Diese Rolle scheint ihn auszufüllen und beeinflusst sein Leistungsdenken. Ebenso ist ihm die Anerkennung seiner Leistung durch seine Trainerin wichtig. Spielen ist ihm wichtiger als Siege oder Tore. Analog zu Stefans Ausführungen fanden sich in den Daten häufig Aussagen zum Gewinnen und Verlieren, die dem Zielbild entsprachen. Spieler ohne Handicap stellten in der Regel heraus, dass Gewinnen keine Priorität für sie ist. Sie legten dazu keinen Wert auf die eigene Leistungsentwicklung, sondern sahen sich mitverantwortlich für die Leistungsentwicklung der Spieler mit Handicap.
Ein heterogenes Leistungsverständnis und unterschiedliche Einstellungen zur Umsetzung von Inklusion ergeben ein heterogenes Leistungsverständnis im inklusiven Sport, welches bei FW zu Hierarchien im Kontext der Sportler führt, die in den folgenden Kategorien aufgezeigt werden.[13]
Die Daten zeigen, dass bei FW den Spielern ohne Handicap verschiedene Rollen bzw. verschiedene Aufgaben zugedacht werden, die z.T. konträr zum Zielbild und dem dort entworfenen Inklusionsbegriff sind. Spielerinnen und Spieler ohne Handicap sehen sich in vielen Situationen des Trainings als Helfer des Trainers, wie der Interviewausschnitt von Michael (Spieler ohne Handicap) zeigt:
„Du wirst ja gleich miteinbezogen in die Gruppe. Natürlich nicht in spezielle Aufgaben, aber so, das Passspielen zum Beispiel, dass du die Pässe mit denen wirfst. Abstand 5, 6, 7, 8 Meter. Das Werfen, dass du dann sagst, welche Fehler sie machen.“
In dieser Aussage ist zu erkennen, dass Michaels Rolle im Training seine Haltung entsprechend beeinflusst. Er nimmt eine sprachliche Differenzierung der Akteursgruppen vor, spielt Pässe mit ‚denen‘ und hat für sich die Aufgabe des Korrigierens der Spielerinnen und Spieler mit Handicap ausgemacht, da dies augenscheinlich durch die Trainerinnen und Trainer allein nicht geleistet werden kann. Diese Rolle liegt auf einer Ebene zwischen der des Trainers bzw. der Trainerin und der Akteursgruppe der Spielerinnen und Spieler und zeigt hierarchische Strukturen auf. Die Helfer des Trainers oder der Trainerin haben Kompetenzen, die ordinär der Rolle des Trainers oder der Trainerin zugeordnet sind, und mehr Kompetenzen als die Spielerinnen und Spieler mit Handicap, denen geholfen werden muss. Dies wird im Kontext des Spiels noch deutlicher, wie der Ausschnitt von Peter (Spieler ohne Handicap) zeigt:
I: „Also, nur die Spieler mit ner Behinderung haben aufs Tor geworfen.“
P: „Das ist ja auch der Sinn von Freiwurf, es sollen ja nicht die anderen Erfolgserlebnisse haben. Ich bin aus dem Alter raus, wo ich ein Erfolgserlebnis brauche. Für die ist das wichtig. Und das ist eben bei Pauli so aber bei den anderen wird das noch ein bisschen meine persönliche Meinung. Die Normalos sollen ja eigentlich nur ne Hilfestellung leisten. Wobei ab und zu muss man da auch wieder differenzieren, wenn die zu hoch hinten liegen, dann lassen die auch die Köpfe hängen. Dann lassen wir mal die Normalos die Tore werfen, damit n Erfolgserlebnis da ist.“
I: „Genau, das war uns aufgefallen, dass am Ende dann, als es noch zu Null stand, ihr noch ein paar Tore geworfen habt. Und das ist so eure Strategie...“
P: „Ja. Mein Ziel ist, die Behinderten nach vorne zu bringen, nicht die Normalos. Und wenn ein Spieler wie Luis aufs Tor wirft, ist das ein Fortschritt. (…) Das sind die Ziele.“
Auf die Frage nach einer Spielsequenz, in der die Spieler ohne Handicap keinen Torwurf ausführten, beschreibt Peter, auch durch sprachliche Differenzierung der Akteursgruppen, seine Haltung und sein Leistungsdenken im Kontext von FW und leitet daraus für sich die Rolle als Behinderten-Unterstützer ab, der durch bestimmte Handlungen im Spiel die ‚Behinderten‘ motiviert und nur Tore wirft, wenn die Mannschaft bis kurz vor Ablauf der Spielzeit torlos ist. Dies verhindert die Demotivation der Spieler mit Handicap, die eine geringe Frustrationstoleranz aufweisen. Für ihn liegt ‚den Sinn‘ von FW ihn in einer Kompetenzentwicklung der Spielerinnen und Spieler mit Handicap. Er sieht für ‚die Normalos‘ die Aufgabe, ‚Hilfestellung‘ für die Sportlerinnen und Sportler mit Handicap zu geben, was entsprechende Hierarchien aufzeigt.
Während die Trainerinnen und Trainer die Rolle der Spielerinnen und Spieler ohne Handicap meist konform zum Zielbild wiedergaben, und damit nicht mit den Aussagen der Spielerinnen und Spieler übereinstimmten, fanden sich in den Aussagen der Eltern von Spielerinnen und Spielern mit Handicap viele Ähnlichkeiten, wie die Passage mit den Eltern von Jens (Spieler mit Handicap) zeigt.
I: „Gibt es auch negative Erlebnisse von denen Ihr Sohn berichtet hat?“
M: „Also das ist jetzt ja auch ein wenig theoretisch. Was ich denke ist, dass es nicht dominiert werden sollte von denen die mehr können, die dann das Spielgeschehen unter Umständen beeinflussen.“
V: „Wie beim Rothenbaum, die die anderen weggefegt haben. Da waren Leute bei, die durchaus in einer nicht-behinderten Gruppe hätten spielen können. Und das darf natürlich nicht sein. Da hat man jetzt auch schon reagiert: wer zu gut ist, der darf nur drei Tore werfen. Und dann ist vorbei, nicht? Was wir gut fanden war: Von uns war ein Betreuer dabei, und hat mitgespielt. Der hat aber nicht aufs Tor geworfen, sondern der hat die Bälle nur verteilt. Und das fand ich die richtige Idee, jemanden dabei zu haben, der das gut überschaut und mitspielen kann und der das dann auch in die richtigen Bahnen lenkt. Das war doch eine tolle Sache, oder?“
Das Elternpaar berichtet von einem Turnier, bei dem die Mannschaft ihres Sohnes aufgrund von leistungsstarken Spielern chancenlos war. Sie finden es daher positiv, wenn ein ‚Betreuer‘ im Spiel ist, der alles ‚in die richtigen Bahnen lenkt‘. Der Spieler ohne Handicap wird zum Playmaker, da die Spielerinnen und Spieler mit Handicap dies nicht leisten können. Es wird eine Rolle intendiert, die in einer Handballmannschaft üblich ist. Ein Spielgestalter oder eine Spielgestalterin lenkt seine Mannschaft, trägt Verantwortung, gibt Hinweise. Diese Unterscheidung von Spielerinnen und Spielern mit und ohne Handicap wird auch im nächsten Punkt thematisiert.
Die vorliegenden Daten zeigen auf, dass bei FW in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten relevant werden und ggf. schnell wechseln können. Die interviewten Akteure ordnen sich in den verschiedenen Handlungskontexten unterschiedlichen Gruppen zu. Eine deutliche Ausprägung der Kategorie war die generelle Unterscheidung der Spieler in mit/ohne Handicap. Dies hatte z.T. krasse sprachliche Auswüchse, wie der Ausschnitt von Stefan (Spieler mit Handicap) zeigt:
„ (…), aber die motzen dann auch immer und sagen, ähm, machen es dann aber selber nicht besser und meinen wir müssen das selber besser machen. Ich denk dann immer, warum soll ich das besser machen, wenn ihr das auch nicht besser macht und bei uns die Null fehlt. Da krieg ich immer `ne Krise. Die Trainer sagen dann immer, die haben auch was zu sagen. (…), da fühlen wir uns dann immer ziemlich beschissen bei. (…) Also ich hab mich mit einer Richtigen gestritten, weil sie meinte ich muss das besser machen. (…) Ja, die ohne wollen immer besser sein als wir, meinen auch dann mehr sagen zu dürfen. Das stört mich und `nen Freund nicht, weil wir einfach nicht drauf hören.“
Stefan spricht von ‚einer Richtigen‘, einer Spielerin ohne Handicap. Dieser sprachliche Marker zeigt die defizitäre Sichtweise auf die eigene Gruppe, die mit dem Personalpronomen ‚Wir‘ gefasst wird. Die Wendung ‚die ohne‘ ist ebenso zu interpretieren. Die Spielerin überschreitet aus seiner Sicht ihre Kompetenzen und wird schlussendlich von Stefan und einem weiteren Mitglied seiner Gruppe, den Spielern mit Handicap, ignoriert. Dass Spielerinnen und Spieler ohne Handicap ihnen laut Anweisung der Trainerinnen und Trainer ‚auch was zu sagen haben‘ führt zu einem negativen Gefühl, da Stefan dies offensichtlich als ungerecht empfindet. Er schildert misslungene Interaktionen zwischen verschiedenen Mannschaftsmitgliedern, die von Hierarchien geprägt sind. Dies zeigt, wie die Gruppenkonstellationen die Haltung und das Leistungsverständnis negativ beeinflussen. Die Hierarchien werden auch im folgenden Ausschnitt von Michael (Spieler ohne Handicap) offensichtlich:
„Die sehen dann, wir kassieren nur die Tore. Uns Normalos, ich will nicht sagen, dass uns das egal ist, aber wir leiden dann mit denen, und dann nimmt man sich als Normalo eben mal den Ball und wirft ins Tor, auch wenn man eigentlich meint, muss eigentlich gar nicht sein, nur damit die sehen, oh, wir können ja vielleicht doch gewinnen.“
Michael umschreibt Spielerinnen und Spieler ohne Handicap als ‚Normalos‘, was eine Aufwertung seiner Gruppe gegenüber den Spielerinnen und Spielern mit Handicap darstellt. Die ‚Normalos‘ stehen im Gegensatz zur Gruppe ‚die‘, die weniger handballspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen kann. Diese Hierarchie hat massive Auswirkungen aus seine Haltung zum inklusiven Handeln und Leistungsverständnis, augenscheinlich sind die Spielerinnen und Spieler mit Handicap nicht in der Lage ohne die ‚Normalos‘ Tore zu werfen. Somit bleibt ihnen diese Komponente des Spiels vorenthalten. Dies verschärft Abhängigkeiten und das Gruppendenken.[14]
Eine andere Art der Gruppenzuordnungen bzw. der Hierarchiebildung findet durch die Deutung von Leistungsunterschieden statt. Dies war in Interviews von Spielerinnen und Spielern mit Handicap anzutreffen, wie dieser Ausschnitt von Stefan zeigt:
„Jo, das manche nicht so schnell laufen können wie Chris und ich, aber das stört uns nicht, weil wir dann auf die anderen warten und dann natürlich warten, bis die dann auch vorne sind und abspielen.“
Die ‚anderen‘ und ‚die‘ sind andere Spielerinnen und Spieler, die langsamer laufen als Stefan und sein Freund Chris. Diese Unterscheidung scheint weniger problematisch, da Leistungsunterschiede in Handballmannschaften eine natürliche Komponente darstellen und diese von Stefan in der beschriebenen Situation akzeptiert und für das Spiel produktiv genutzt werden.
Hierarchien, und dies ist besonders für die Hierarchisierungen bzgl. der Differenzkategorien mit/ohne Handicap von Interesse, können zumindest temporär aufgebrochen werden, was der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit Ole (Spieler mit Handicap) zeigt:
O: „Durch einen Zeitungsartikel der in der Zeitung stand und da haben...da wollte ich dann einfach mal gucken, was das ist...weil ich hab sonst vorher nie so richtig Sport gemacht (...). Und als ich dann gehörte habe, das das so ne...für Behinderte ist, habe ich da mal zugeschaut und mitgemacht und seitdem bin ich da.“
I: „Wie siehst du das denn mit den anderen Mannschaften. Sind das die Gegner und gegen die will ich unbedingt gewinnen.“
O: „Nö nicht unbedingt. Klar sieht man die als Gegner an, aber...man sieht sie halt auch als ein Teil von Freiwurf Hamburg an.“
Auch Ole spricht von ‚Behinderten‘. Allerdings ist seine Darstellung eine andere als die vorher gezeigten. FW wird als Gruppe gesehen, die sogar wichtiger ist, als die Sportspiel immanente Konkurrenzsituation. Diese Zuordnung ist von den Initiatoren gewünscht, zeigt einen positiven Einfluss des Gruppendenkens auf das Leistungsdenken und birgt weitere positive Potentiale für die Interaktionsprozesse bei FW.
Die Analyse der Daten ergibt ein aufschlussreiches Bild darüber, wie die Akteure von FW die Handlungsabläufe in den verschiedenen Kontexten deuten und gestalten. Den vielen positiven Aspekten von FW stehen ebenso Komponenten gegenüber, die mit dem Zielbild nicht in Einklang zu bringen sind. Die Äußerungen der Trainerinnen und Trainer sind meist Zielbild konform, gleiches gilt auch mehrheitlich für die Deutungen der Sportlerinnen und Sportler mit Handicap. Bei Sportlerinnen und Sportlern ohne Handicap, Eltern und auch teilweise Spielerinnen und Spielern mit Handicap ist hingegen eine starke Orientierung an sozialer Dominanz sichtbar geworden: Sie akzeptieren in hohem Maße gruppenbasierte soziale Hierarchien sowie die Dominanz der Sportlerinnen und Sportler ohne Handicap gegenüber den Sportlerinnen und Sportlern mit Handicap. Die Spielerinnen und Spieler ohne Handicap wissen um ihre Gruppenzugehörigkeit, bewerten diese positiv im Kontrast zur Gruppe der Spielerinnen und Spieler mit Handicap und begründen dies durch die Herausstellung sozialer Aspekte. Dieses Intergruppenverhalten (vgl. Tajfel, 1982), welches die Outgroup (vgl. Krieger, 2005), deutlich gegenüber der Ingroup (Menschen ohne Handicap) abwertet, wird auch daran deutlich, dass sich die Sprachregelung Handicap bisher kaum durchgesetzt hat. Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass viele Akteure in nicht-inklusiven Settings sozialisiert worden sind. Dazu hat Sport mitunter starke exklusive Tendenzen, besonders wenn die Orientierung am Ergebnis im Wettkampf in den Vordergrund rückt, was in den Daten sichtbar wurde. Es kann konstatiert werden, dass das Zielbild inklusive Gedanken beinhaltet, dieses aber nicht von allen Akteuren entsprechend umgesetzt werden. Bspw. wird die von Scheid und Friedrich geforderte „Anerkennung der Dialektik von Gleichheit und Differenz“ (2015, S. 37) zwar in der Inklusionsdefinition von FW sichtbar, in der Praxis ist aber die Differenz noch überaus handlungsleitend.
Es stellt sich die Frage nach dem weiteren Vorgehen im Forschungsprozess. Zum einen scheint nach der Exploration des Feldes eine verstärkte Aufarbeitung verschiedener theoretischer Ansätze zur Entstehung und Auflösung von Gruppen und Hierarchien gewinnbringend, um die Handlungsabläufe bei FW noch besser ordnen und verstehen zu können. Dazu erscheinen u. a. die Arbeiten von Allport (1954) zur Kontakthypothese sinnvoll, um das Interagieren von Menschen mit und ohne Handicap zu verstehen. Zudem scheint eine theoriegeleitete Überarbeitung des Zielbilds notwendig, um unreflektierte normative Implikationen wie „Inklusion durch Handball für alle“ (s. o.) zu verändern und somit konkrete Ziele sinnvoll zu formulieren. Dazu ist eine umfassende Diskussion des Inklusionsbegriffs sicher hilfreich.
Zum anderen wird es interessant, wie sich der angesprochene Workshop und die Konfrontation der Trainer mit den Daten auf die weitere Entwicklung von FW auswirken. Die Trainerinnen und Trainer wollen sich zukünftig systematisch mit den Forschungsergebnissen auseinandersetzen. Dazu sollen Mission und Grundsätze betont und in regelmäßigen Abständen in den Teams thematisiert und reflektiert werden. Dieses Vorgehen und die Auswirkungen werden von Seiten der Universität evaluiert. Ein weiterer Workshop, dann auch mit Spielerinnen und Spielern, ist geplant. Im Rahmen der nutzenfokussierten Evaluation wird somit weiterhin im Zusammenspiel von Forschung und Praxis eine Verbesserung der inklusiven Prozesse angestrebt.
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[2] Die Teilnehmenden von FW sprechen explizit von ‚Sportlern mit Handicap‘. Daher wird im Folgenden dieser Begriff anstatt ‚Behinderung‘ o. ä. verwendet. Auf eine weitere Diskussion der Begriffe wird an dieser Stelle verzichtet. Einen Überblick dazu gibt Doll-Tepper (2015, S. 27f.).
[3] Die meisten Spielerinnen und Spieler haben ein geistiges Handicap. Dies ist mit der Genese der Initiative zu erklären. Die Initiatoren begannen 2010 mit einer Handballmannschaft für Menschen mit geistigem Handicap, firmierten dann in Anlehnung an Special Olympics Deutschland als Unified Teams und aktuell besteht der Anspruch, alle Menschen, unabhängig ob und welches Handicap vorliegt, teilhaben zu lassen.
[4] Vor der 3-Tore-Regel gab es verschiedene Beschränkungen und Bonussysteme, bspw. zählten Tore von Spielern mit Handicap doppelt. Solche Regellungen wurden nach eingehender Reflexion verworfen, da sie mit dem Zielbild nicht in Einklang stehen. Ebenso wird die 3-Tore-Regel aktuell diskutiert.
[5] 2014 erhielt FW von Angela Merkel einen Sonderpreis und den Werner-Otto-Preis der Alexander-Otto-Sportstiftung, sowie 2011 einen Silbernen Stern des Sports.
[6] Die Ziele wurden in den Interviewleitfäden entsprechend verarbeitet.
[7] Den sich aufdrängenden Fragen, ob und warum solche Spezifizierungen notwendig sind, warum z. B. Menschen mit Handicap nicht auch eine Niederlage verarbeiten sollen und dürfen, und ob dieses Vorgehen in der Praxis von FW zum gewünschten Ergebnis führt, kann aus Gründen des Umfangs dieses Beitrags an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.
[8] Giese (vgl. 2016, S. 102ff.) verweist darauf, dass in der deutschsprachigen Sportpädagogik im Kontext von Inklusion ein erhebliches Theoriedefizit existiert.
[9] Nach der klassischen Definition von Allport (1954, S. 5) ist „Sozialpsychologie (…) der Versuch, zu verstehen und zu erklären, wie die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen von Personen durch die tatsächliche, vorgestellte oder erschlossene Anwesenheit anderer Menschen beeinflusst werden“.
[10] Aufgrund der Möglichkeiten, die quantitative Methoden im Rahmen von Evaluation(-sforschung) bieten, ist es denkbar, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt des Forschungsprojekts Anwendung finden.
[11] Der spezifischen Situation der Interviewführung mit Menschen mit geistigem Handicap waren sich die Forscher jederzeit bewusst und reflektierten diese entsprechend. Es sei an dieser Stelle auf die einschlägige Literatur verwiesen (u.a. Hagen, 2002; 2001).
[12] Von 2010 bis 2013 gab es nur Freundschaftsspiele, der Ligabetrieb startete zur Saison 2013/14.
[13] Zur Heterogenität von Leistungsverständnissen im Sport vgl. auch Meier, Haut & Ruin in diesem Heft.
[14] In den Aussagen der Trainer und Eltern finden sich die Begriffe ‚Behindert‘ und ‚Nicht-Behindert‘ um die Spieler zu unterscheiden.