Ewald Feyerer: Mit Inklusiven Modellregionen auf dem Weg zur inklusiven Schule? Österreichische Bildungspolitik zwischen Vision und Pragmatismus

Abstract: Die österreichische Bildungsministerin meinte bei der Enquete „Ein System im Wandel – Entwicklung inklusiver Modellregionen“ im April 2015, dass Inklusion der Weg der Zukunft sei. Unter Berücksichtigung der Mehrebenproblematik setzt sie bei der Umsetzung dieser Vision sehr pragmatisch auf eine Politik der kleinen Schritte. Die Bundesländer werden Schritt für Schritt ermächtigt, innerhalb der bestehenden Gesetze und vorhandenen Ressourcen Inklusive Modellregionen zu entwickeln. Im folgenden Artikel wird zuerst ein Überblick über die Entwicklung seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention gegeben (bildungspolitisch und statistisch) bevor das Konzept der Inklusiven Modellregionen mit seinen strukturellen Entwicklungsprojekten und das Konzept der neuen Lehrer_innenbildung vorgestellt werden. Eine Einschätzung der Entwicklung schließt den Beitrag ab.    

Stichworte: Inklusion, Inklusive Modellregionen, Schulsystem im Wandel, Österreich, Artikel 24, UN-Konvention, BRK,

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Entwicklung seit der Unterzeichnung der UN-BRK im Überblick
  2. Statistische Entwicklung gemäß des Nationalen Bildungsberichts 2015
  3. Die Entwicklung Inklusiver Modellregionen (IMR) als Implementierungsstrategie der österreichischen Bundesregierung
  4. Lehrer_innenbildung Neu
  5. Einschätzung  der bisherigen Entwicklung

1. Die Entwicklung seit der Unterzeichnung der UN-BRK im Überblick

Am 26. Oktober 2008 ratifizierte Österreich das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (im Folgenden kurz als UN-Konvention oder BRK 2006 bezeichnet). Dann gab es lange Zeit keinerlei bildungspolitische Aktivitäten zur Umsetzung der UN-Konvention seitens der Regierung. In einer Stellungnahme zur Inklusiven Bildung vom 10. Juni 2010 erinnerte der Unabhängige Monitoringausschuss daran, dass es einer tiefgreifenden Strukturreform des österreichischen Bildungswesens bedarf und zeigte Besorgnis, „dass die Ratifizierung der Konvention im Oktober 2008 noch keine Diskussion über diesen Reform­bedarf ausgelöst hat. Es wäre jedenfalls zu erwarten, dass Pläne über eine sukzessive Abschaffung von Sonderschulen achtzehn Monate nach Ratifizierung zumindest im Entwurf vorliegen. Dem Monitoringausschuss sind auf Anfrage keine solchen Pläne oder Entwürfe vorgelegt worden.“[1]
Erst der „Stufenplan zur inklusiven Schule“[2] der Lebenshilfe Österreich bewirkte eine erste öffentliche Diskussion im September 2010. Laut diesem Plan sollten bis zum Jahr 2016 alle Sonderschulen zu Gunsten inklusiver Schulen aufgelassen werden und die Sonderschullehrkräfte an inklusiven Schulen gemeinsam mit den allgemeinen Lehrerinnen und Lehrern unterrichten. Pädagogische Zentren, die allen Schulen nützen, sollten die Sonderpädagogische Zentren ablösen. Im Dezember 2011 wurde seitens der Regierung der Entwurf eines Nationalen Aktionsplans (= NAP) vorgelegt, der die Haltung der zuständigen Bundesministerin widerspiegelte, dass Sonderschulen ein wesentlicher, zusätzlicher Teil zu einem voll ausgebauten inklusiven Schulsystem seien. Die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage dazu im Jänner 2012 zeigte auch deutlich, dass die Ministerin noch einen völlig unklaren Begriff von Inklusion hatte: „Die schulische Förderung der Selbstbestimmung, insbesondere für körper- und sinnesbehinderte Kinder, ist ein besonderes Anliegen. (…) Artikel 24 der UN-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten ein integratives Bildungssystem einzurichten. (…) Ausgehend davon, dass Sonderschulen unerwähnt bleiben, kann dies nur bedeuten, dass neben einem voll ausgebauten inklusiven System derartige Schulen als zusätzliche Angebote bestehen dürfen. Auch Artikel 24 Abs. 2 lit. a, der bestimmt, dass Menschen mit Behinderung nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen, steht der Existenz von Sonderschulen solange nicht im Weg, wie ein Überwechseln ins inklusive System jederzeit ohne Probleme möglich ist.“[3]
Parallel dazu erfolgte eine intensive Diskussion im Rahmen eines vom Bundesministerium organisierten partizipativen Prozesses, der im Sommer 2012 zur Veröffentlichung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012–2020 (= NAP; bmask 2012) führte. „Inklusion als Menschenrecht und Auftrag“ lautet der programmatische Untertitel des NAP, in dem die Bundesregierung ihre strategischen Ziele und geplanten Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Konvention auf rund 100 Seiten festgeschrieben hat. Die Maßnahmen für den Bereich Bildung sind in Kapitel 4 aufgelistet. Dort steht zwar nichts von einer Auflösung bzw. Umwandlung der Sonderschulen und auch nichts von einem Aufnahmestopp an Sonderschulen, sehr wohl aber etwas von einer flächendeckenden Verankerung inklusiver Modellregionen bis zum Jahr 2020 (bmask 2012, 64). Insgesamt  zeigt sich ein politischer Wille, inklusive Bildung von der vorschulischen über die schulische und universitäre Bildung bis hin zur Erwachsenenbildung zu verankern, sowohl in den Zielsetzungen als auch in den Maßnahmen, wie folgende Auszüge exemplarisch zeigen sollen:
„- Inklusive Konzepte zum Übergang vom Kindergarten in die Volksschule sollen entwickelt werden. (bmask 2012, S. 62; Hervorhebungen im Original) …
- Entwicklung von Inklusiven Modellregionen. Erfahrungssammlung und darauf aufbauend Erstellung eines detaillierten Entwicklungskonzeptes sowie flächendeckender Ausbau der Inklusiven Regionen bis 2020. (e.d., S. 64) …
- Inklusive Pädagogik als Teil der zukünftigen Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer an Pädagogischen Hochschulen und für Studierende der Lehrämter an Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Höheren Schulen (e.d., S. 65)

Auch im aktuellen Regierungsprogramm aus dem Jahr 2013 wurde die „Konzeption von Modellregionen zur optimalen und bedarfsgerechten Förderung aller Schülerinnen und Schüler dieser Region mit wissenschaftlicher Begleitung“ verankert, allerdings ohne zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Im September 2015 erfolgte nun  –  nach wiederum längerem Stillstand  –  ein weiterer wichtiger legistischer Schritt: Im Erlass „Verbindliche Richtlinien zur Entwicklung von Inklusiven Modellregionen“ (bmbf 2015) wurden erstmals die Zielsetzungen offiziell definiert und Maßnahmen zur Umstrukturierung des bisherigen Systems ermöglicht.

2. Statistische Entwicklung gemäß des Nationalen Bildungsberichts 2015

Will man Aussagen über die statistische Entwicklung des österreichischen Schulwesens machen, ist man im Regelfall auf die Zahlen der Bildungsdokumentation, verwaltet und veröffentlicht durch Statistik Austria[4] angewiesen. Leider sind die dort zur Verfügung gestellten Daten aber nur beschränkt valide und nach Schultypen gegliedert, so dass es immer wieder zu Fehlinterpretationen kommen kann. So publizierte zum Beispiel  die Austria Presse Agentur mit folgender Grafik, dass die Zahl Sonderschüler_innen zwischen 2004/05 auf 2014/15 um +7,1% gestiegen sei.
Grafik zu Schülern in Österreich 2015
Abb. 1: Schüler in Österreich, Quelle: APA/Statistik Austria, http://oesterreich.orf.at/stories/2747354 [24.3.2016]

In der gleichen, der Abbildung 1 zugrundeliegenden Tabelle weist die Statistik Austria aber auch aus, dass es – nach Klassentyp berechnet  – nur 11.624 Sonderschüler_innen  gibt. Was stimmt nun? Gibt es überhaupt einen Anstieg der Sonderschüler_innen? Der Nationale Bildungsbericht 2015, der allerdings auf den Zahlen von 2013/14 basiert, erklärt dies so:

Der Wirklichkeit am nächsten kommt somit die Zahl von 11.624 Sonderschüler_innen im Jahr 2014/15, die Zahl 14.247 ist definitiv falsch und dürfte nicht verwendet werden.  Ebenso als falsch bezeichnet muss der von Statistik Austria ausgewiesene SPF-Quotient werden, da er sich rein auf die Schüler_innen der Allgemeinen Pflichtschulen bezieht und damit große Gruppen des Pflichtschulbereiches nicht erfasst. Im Nationalen Bildungsbericht werden daher alle Schüler_innen der Schulstufen 0-9 mitgezählt, also auch die Schüler_innen der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (5.-9. Stufe) und der Berufsbildenden Mittleren und Höheren Schulen (Stufe 9). Geschieht dies nicht, kommt es zu einer überhöhten SPF-Quote und zu einer starken Verzerrung zwischen Bundesländern mit hohem bzw. niedrigem Anteil von Gymnasien (z.B.: Vorarlberg und Wien), wie Abbildung 2 deutlich macht, die dunkelblau den Anteil der Schüler_innen in Sonderschulklassen (also die Segregationsquote) und hellblau den Anteil der integrierten SPF-Schüler_innen (also die Inklusionsquote) darstellt. Segregations- und Inklusionsquote zusammen gezählt ergeben die SPF-Quote.


Abb. 2: Schüler_innen der 0.-9. Schulstufe mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Inklusions- und Segregationsquoten) nach Bundesland und Schultyp (2013/14, 2006/07);
angegeben ist jeweils der Anteil der Schüler/innen mit SPF in Sonderschulklassen(= Segregationsquote) und in allgemeinen Klassen (= Inklusionsquote) an den Pflichtschüler_innen Allgemeiner Pflichtschulen (linke Seite, *Volksschulen, Hauptschulen, Neue Mittelschulen, Sonderschulen und Polytechnische Schulen, ohne AHS-Unterstufe) und den Pflichtschüler_innen aller Schultypen (rechte Seite).
Quelle: Statistik Austria (Schulstatistik). Berechnung und Darstellung: Bruneforth et.al. 2015 , S.95 .

Nimmt man nur die Pflichtschulen als Berechnungsgrundlage, ergibt sich für Österreich eine durchschnittliche SPF-Quote von 5,3% und eine Segregationsquote von 2,1%, nimmt man richtigerweise alle Schultypen so verringern sich diese Quoten auf 4% (3,1% in Tirol – 5,3% in Vorarlberg) bzw. 1,6% (0,6% in der Steiermark – 2,5% in Vorarlberg) im Schuljahr 2013/14. Die weiteren Analysen beruhen alle auf dem Berechnungsmodus „alle Schultypen“.

Tabelle 1: SPF-Schüler_innen insgesamt, integriert / Integrationsquote sowie segregiert in den Jahren 2006/07 und 2013/14; Quelle: Statistik Austria (Schulstatistik). Berechnung BIFIE 2016, Darstellung durch Autor

 

Bundesland

 SPF-Schüler_innen 2006/07

SPF-Schüler_innen 2013/14

gesamt
absolut

integriert
(absolut / %)

segregiert absolut

gesamt absolut

integriert
(absolut / %)

segregiert absolut

Österreich

27745

15235 / 55%

12510

30210

18142 / 60%

12068

Burgenland

879

647 / 74%

232

790

534 / 68%

256

Kärnten

1968

1340 / 68%

628

2119

1565 / 74%

554

Niederöster.

5247

1988 / 38%

3259

5834

2774 / 48%

3060

Oberöster.

4460

3056 / 69%

1404

5182

3746 / 72%

1436

Salzburg

1843

859 / 47%

984

2119

1296 / 61%

823

Steiermark

2961

2482 / 84%

479

3295

2648 / 80%

647

Tirol

2077

869 / 42%

1208

2063

870 / 42%

1193

Vorarlberg

1610

503 / 31%

1107

2022

1073 / 53%

949

Wien

6700

3491 / 52%

3209

6786

3636/ 54%

3150

Tabelle 1 zeigt, dass die Gesamtzahl der SPF-Schüler_innen zwischen 2006/07 und 2013/14 von 27.745 auf 30.210 gestiegen ist, was sich auch in der Steigerung der SPF-Quote von 3,3% auf 4% zeigt (Abb. 2). Diese Steigerung der SPF-Quote ist auch für die Steigerung der Inklusionsquote, also des Anteils jener Schüler_innen, die einen SPF aufweisen und in allgemeinen Klassen beschult werden, von 1,8% auf 2,4% (Abb. 2) verantwortlich. Die Zahl der Sonderschüler_innen sank leicht um 3,5% von 12.510 auf 12.068, was ein deutlich anderes Bild zeichnet als die von der APA angezeigte Steigerung von 7,1% (Abb. 1). Obwohl die Zahl der Sonderschüler_innen leicht sank, stieg der Segregationsquotient von 1,5% auf 1,6% (Abb. 2), da sich die Gesamtschüler_innenzahl um 9,7% von 838.680 auf 757.424 verringerte. Die Zahl der integrierten SPF-Schüler_innen erhöhte sich um 2.907 von 15.235 auf 18.142, was sich in der Steigerung der Integrationsquote von 55% auf 60% bemerkbar macht.
Tabelle 1 und Abb. 2 zeigen auch, dass sich die schon lange bestehenden Unterschiede zwischen den Bundesländern – trotz gleicher gesetzlicher Grundlage – nicht wesentlich verändert haben, insgesamt aber eine leichte Annäherung stattfand, da die Länder mit niedrigem Ausgangswert 2013/14 eher höhere Integrationswerte haben, jene mit hohem Ausgangswert zum Teil geringere Werte als 2006/07. Die eigentlich erfreuliche Steigerung der Integrationsquote geht allerdings vor allem darauf zurück, dass heute in den allgemeinen Schulen mehr Kinder und Jugendliche zu Schüler_innen mit SPF erklärt werden, sich die Anzahl der Sonderschüler_innen aber nur gering verringert. Gemessen an der Segregationsquote kann Österreich im deutschsprachigen Raum aber noch immer als vorbildhaft bezeichnet werden. Mit der Steiermark gibt es ein Bundesland mit nur 0,6% Segregation, drei Bundesländer (Burgendland, Kärnten und Oberösterreich) mit rund 1%, zwei Bundesländer (Salzburg und Tirol) mit einem Segregationsquotienten zwischen 1,5% und 2% und drei Bundesländer (Niederösterreich, Vorarlberg und Wien) mit Werten zwischen 2% und 2,5%.

Analysiert man nach Geschlecht, Schulstufe und Alltagssprache (Abb. 3), so zeigt sich, dass Knaben deutlich öfter einen SPF zugesprochen bekommen.  Von den 30.210 Kindern mit SPF sind 19.129 (63,3%) männlichen und 11.081 (36,7%) weiblichen Geschlechts, was eine SPF-Quote von 4,9% bei den Burschen und 3% bei den Mädchen ergibt (Abb. 3). 11.106 SPF-Schüler/innen (36,8%) befinden sich in den Stufen 0-4, 16.038 (53,1%) in den Stufen 5-8 und 3.066 (10,1%) in der Stufe 9. Daraus folgt ein SPF-Quotient für die Stufen 0-4 von 3,3%, für die Stufen 5-8 von 4,8% und für die Stufe 9 von 3,5%. Der Segregationsquotient steigt kontinuierlich an: 1,1% in den Stufen 0-4, 1,8% in den Stufen 5-8 und 2,5% in der 9. Stufe. Sowohl bei der Verteilung nach Geschlecht als auch nach Schulstufen hat sich gegenüber 2006/07 kaum etwas verändert.


Abb. 3: Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach Geschlecht, Schulstufe und Alltagssprache (2013/14, 2006/07);
angegeben ist der Anteil der Schüler_innen mit SPF in Sonderschulklassen (= Segregationsquote) und in allgemeinen Klassen (= Inklusionsquote) an den Pflichtschüler_innen aller Schultypen in der jeweiligen Gruppe.
Quelle: Statistik Austria (Schulstatistik). Berechnung und Darstellung: Bruneforth et.al. 2015, S.97 .

Analysiert man nach Migrationshintergrund, in der Bildungsdokumentation gemessen an der Alltagssprache, zeigt sich, dass Kinder mit nichtdeutscher Alltagssprache zwar etwas mehr integriert werden (64% vs. 58%), insgesamt mit einer SPF-Quote von 5,5% versus 3,6% (Abb. 3) aber deutlich öfter einen SPF zugesprochen bekommen. Interessanterweise ist der Anteil der Sonderschüler_innen mit deutscher Alltagssprache gegenüber 2006/07 von 1,3% auf 1,5% gestiegen, bei den Kindern mit nichtdeutscher Alltagssprache aber von 2,2% auf 2% gesunken, wobei auch für diese Entwicklung vor allem die Stufen 5-8 verantwortlich scheinen. So beträgt der SPF-Quotient in den Stufen 5-8 enorme7,1% für Jugendliche mit Migrationshintergrund, bei Schüler_innen mit Alltagssprache Deutsch nur 4,1%. Der Anteil der Sonderschüler_innen verringerte sich überraschenderweise bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Stufen 5-8 um 0,5%, jener der Kinder mit deutscher Alltagssprache blieb gleich. Betrachtet man die absoluten Zahlen, relativiert sich dies jedoch. Absolut gesehen nahm die Zahl der Sonderschüler_innen mit deutscher Alltagssprache nämlich um 16,5% ab (von 5.106 auf 4.261), während der absolute Rückgang bei den jugendlichen Sonderschüler_innen mit nichtdeutscher Alltagssprache nur 7,8% betrug (1.986 > 1.832).
Somit entsteht folgendes Gesamtbild nach Alltagssprache: In Stufe 1 und 2 unterscheidet sich der Anteil von Schüler_innen deutscher und nichtdeutscher Alltagssprache in Sonderschulen noch nicht, der Anteil aller Schüler_innen mit SPF nur gering. Beide Anteile nehmen bei Schüler_innen nichtdeutscher Alltagssprache in den folgenden Schulstufen deutlich stärker zu als bei Schüler_innen deutscher Alltagssprache. Insbesondere auf den Stufen 5-8 erfolgt eine deutliche Zunahme der SPF-Quote aufgrund der nichtdeutschen Alltagssprache. Die Bundesländer tragen zu dieser Entwicklung unterschiedlich stark bei. Während z.B. in Kärnten der Anteil der inkludierten Schüler_innen mit nichtdeutscher Alltagssprache nur um 0,7% höher ist als bei deutscher Alltagssprache (3,9% vs. 3,2%) und der Segregationsquotient sogar um 0,3% geringer (0,9% vs. 1,2%), ist in Vorarlberg die SPF-Quote der integrierten nichtdeutschen Schüler_innen um 3,2% höher (5,2% vs. 2,0%), der Segregationsquotient um 1% (3,2% vs. 2,2%).
Über die Entwicklung der Zahl der Sonderschulen kann keine genaue Aussage gemacht werden. So weist die z.B. die Statistik Austria für 2013/14 für ganz Österreich 307 Sonderschulen auf, für Oberösterreich 36. Das wäre eine Steigerung gegenüber dem Jahr 2000/01 um 27 für ganz Österreich und um 9 Standorte für Oberösterreich (OÖ). Laut der für den Nationalen Bildungsbericht angewandten Berechnungsmethode hätte Österreich bloß 244 (Verringerung um 17 Standorte gegenüber 2006/07) und OÖ nur 22 Sonderschulen. Tatsächlich gab es in OÖ nach Auskunft der zuständigen Landeschulinspektorin 2013/14 aber 26 Sonderschulstandorte sowie 10 angeschlossene Sonderschulklassen an.  Anscheinend werden heute im Gegensatz zu früher die angeschlossenen Sonderschulklassen von Statistik Austria als eigene Sonderschulstandorte ausgewiesen, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Zahl der Sonderschulen durch die Integration gestiegen sei, was aber nicht den Tatsachen entspricht.

3. Die Entwicklung Inklusiver Modellregionen (IMR) als Implementierungsstrategie der österreichischen Bundesregierung

Die österreichische Bundesregierung schließt sich einem breiten und systemischen Verständnis von Inklusion (z.B. UNESCO 2008) an, in dem sie im Erlass „Verbindliche Richtlinien zur Entwicklung von Inklusiven Modellregionen“ (bmbf 2015) einleitend darauf hinweist, dass ein inklusives Schulsystem Bildungsbarrieren abbauen und so die Chancengerechtigkeit für „alle Schüler/innen, ob mit oder ohne SPF, deutschsprachig oder anderssprachig, männlich oder weiblich usw.“ erhöhen soll.  „Nicht mehr das einzelne Kind, sondern das gesamte Lernsystem soll im Blickpunkt von Diagnose und Förderung stehen.
Die gegenständliche Richtlinie hat zum Ziel, die Qualität der inklusiven Beschulung aller Schülerinnen und Schüler weiter zu entwickeln und die entsprechenden Angebote auszuweiten“
(bmbf 2015, S. 1).

Zur Frage nach der Abschaffung von Sondereinrichtungen wird festgehalten:
„Eine Inklusive Modellregion soll die Möglichkeit bieten, alle in dieser Region wohnenden Schüler/innen an (Regel-)schulen zu unterrichten und damit auf die Sonderbeschulung zu verzichten. Das bedeutet, dass an (Regel-)schulen Möglichkeiten (z.B. spezielle Settings für Schüler/innen mit schweren/mehrfachen Behinderungen oder mit gravierenden Störungen im Bereich Sozio-emotionale Entwicklung) geschaffen werden müssen. Das Ziel einer IMR muss sein, die inklusive pädagogische Qualität und den Support an Regelschulen so zu heben, dass aussondernde Einrichtungen möglichst nicht mehr gebraucht werden, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention und der NAP-Behinderung 2012-2020 vorsehen“ (bmbf 2015, S. 2).
Ziel ist somit die Erprobung einer gemeinsamen Schule für alle, „sodass eine Segregation nach sonderpädagogischem Förderbedarf, Sprachdefiziten sowie Entwicklungsstand aufgehoben wird“ (bmbf 2015, S. 4).

Auch wenn der Erlass momentan nur an drei von neun Bundesländer (Steiermark, Kärnten und Tirol) gerichtet ist, die immer wieder als good practice-Beispiele genannt werden, wird an der Ziellinie 2020 für das gesamte Bundesgebiet festgehalten: „In jedem Schuljahr (beginnend mit 2015/16) kann in einem Stufenplan die Einrichtung von inklusiven Modellregionen zwischen Bund und Ländern vereinbart werden – mit dem Ziel, bis zum Jahr 2020 alle Regionen des Bundesgebietes zu involvieren“ (bmbf 2015, S. 5; Hervorhebung im Original).
Noch deutlicher wird dies in einem Interview des Bundeszentrums für inklusive Bildung und Sonderpädagogik mit dem zuständigen Sektionschefs, Kurt Nekula, M.A. (publiziert in der Zeitschrift behinderte menschen, Heft 4-5/2015, S. 8f.), der auf die Frage, welche Schritte das Ministerium zur Umsetzung setzt, folgendes antwortet:
„Inklusion ist das Überwinden von starrer, äußerer Differenzierung der Kinder nach ‚Normal‛- und ‚Sonder‛-Schule, nach verschiedenen Leistungsniveaus, usw. Inklusive Modelle folgen dem Grundsatz des personalisierten Lernens und der flexiblen Binnendifferenzierung in heterogen zusammengesetzten Schulklassen.
Über das Pädagogische hinaus gibt es jedoch auch strukturelle Herausforderungen. Diese können nur in Kooperation zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gelöst werden, da sie auch das Gesundheits- und Sozialwesen, die Kinder- und Jugendhilfe, die Organisation von Fahrtendiensten, aber auch die Zusammenarbeit der Systemebenen über föderalistische Grenzen hinweg betreffen.
Drei Bundesländer (Kärnten, Steiermark, Tirol) starten derzeit mit der Einrichtung von inklusiven Modellregionen. Dort wird erprobt, wie sonderpädagogische Förderung bedarfs- und bedürfnisgerecht im allgemeinen Schulwesen angeboten werden und wie eine Schule ohne Aussonderung gestaltet sein kann. Die entsprechende Richtlinie des BMBF, zunächst auf diese drei Länder beschränkt, ist für das nächste Schuljahr für alle Landesschulräte / den Stadtschulrat für Wien bzw. die Ämter der Landesregierungen in Vorbereitung. Inklusion wird hier breit gedacht, und mit einer bedarfsbezogenen Ressourcenzuteilung soll die Stigmatisierung von Kindern möglichst vermieden werden. Es geht um systembezogene statt schülerbezogene Ressourcenverteilung, es geht um treffsichere, transparente und bedarfsorientierte SPF-Verfahren und eine bessere Berücksichtigung des sozio-ökonomischen Umfelds von Schulen. Und es geht um die Stärkung der Regelschulen in Bezug auf Inklusive Pädagogik und sonderpädagogische Kompetenzen. Dafür ist die Vernetzung mit dem Qualitätsentwicklungs-Prozess (SQA) zur Erarbeitung von Entwicklungsplänen auf Schul-, Landes- und Bundesebene notwendig. Gezielte Schulentwicklungsbegleitung bezüglich Individualisierung, Kompetenzorientierung, Leistungsbeurteilung, aber auch zur Weiterentwicklung von Haltungen und Einstellungen ist dafür von zentraler Bedeutung.“

Damit sind neben der Qualitätsentwicklung der Schulen die drei wesentlichen strukturellen Veränderungsprojekte angesprochen, die in den inklusiven Modellregionen laut Erlass erprobt werden sollen:

Neuorganisation der ZIS (Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik)
Bisher waren ZIS (früher als SPZ, also Sonderpädagogische Zentren bekannt) per Gesetz Sonderschulen. Dementsprechend sollten die Leiter_innen der ZIS, die gleichzeitig Leiter_innen der Sonderschulen waren, einerseits ihre Sonderschule und andererseits die Inklusion stärken. In Zukunft sollen die Aufgaben der ZIS unabhängig von Sonderschulen wahrgenommen werden, um damit den oben erwähnten Widerspruch aufzulösen. In Inklusiven Modellregionen sind daher entsprechende Beratungseinrichtungen am Landesschulrat (= LSR) und als Außenstellen einzurichten. „Übergeordnetes Ziel der Tätigkeit ist eine qualitative Verbesserung im Bereich des inklusiven Unterrichts und der inklusiven Schulentwicklung und damit verbunden eine quantitative wie qualitative Steigerung der Inklusionsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen“ (bmbf 2015, S. 6). Durch diese Entkoppelung der ZIS-Leitung von der Sonderschulleitung erwartet sich das Bundesministerium eine qualitative und quantitative Zunahme der Unterstützung für inklusive Maßnahmen an allgemeinen Schulen (bmbf 2015, S. 7). Insbesondere das Land Tirol kann für diese Entwicklung als beispielhafte Praxis genannt werden.

Effizienter, bedarfsorientierter und flexibler Ressourceneinsatz
Seit der Verankerung der Integration ist der prozentuale Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf stark gestiegen. Da die Gesamtressourcen im sonderpädagogischen Bereich mit 2,7% aller Pflichtschüler_innen gedeckelt sind, die Gesamtschüler_innenzahl stetig abnahm, die Zahl von SPF-Bescheiden aber anstieg, kam es während der letzten fünfzehn Jahre zu einem immer größer werden Ressourcenengpass in Bezug auf die sonderpädagogischen Ressourcen pro Kind mit SPF. Eine neue Ressourcensteuerung soll die Grundlagen schaffen, „um Ressourcen bedarfsgerecht und nicht stigmatisierend vergeben zu können“ (bmbf 2015, S. 8).
Einer der wichtigsten Aufgaben der Inklusiven Modellregionen wird es somit sein, Lösungen für das sogenannte Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma zu finden. Gemäß dem Konzept der indexbasierten Mittelzuteilung könnte auch ein Teil der (sonder)pädagogischen Ressourcen anhand von sozialpolitischen Kennwerten wie z.B. der Bildung der Eltern, der Höhe der Arbeitslosigkeit, oder dem Anteil von Personen mit Migrationshintergrund schulbezogen zugeteilt werden, ohne einzelne Kinder als lern-, verhaltens- oder sprachbehindert brandmarken zu müssen. Anders sieht dies bei Kindern mit einer vor allem organisch bedingten und medizinisch klar feststellbaren Beeinträchtigung wie z.B. bei gehörlosen Jugendlichen oder bei Kindern mit einem sehr hohem Assistenzbedarf  aus. In Anlehnung an die von Bacher/Altrichter/Nagy (2010) vorgestellten Modelle von Zürich, Aarau und Dortmund soll ein Konzept erstellt werden, dass – neben einem besonderen Budgettopf für körper-, sinnes- oder mehrfachbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche  – Schulen in Abhängigkeit der sozialen Lage ihrer Schüler_innen zusätzliche Mittel zur Verfügung stellt, die nicht nur reaktiv sondern auch präventiv eingesetzt werden könnten (siehe auch Feyerer 2013). Die Umverteilung von Ressourcen ist allerdings ein politisch sehr heikles Thema, weshalb im Erlass der Begriff „Sozialindex“ nicht zu finden ist.

Erhöhung der Qualität der Verfahren zur Feststellung des SPF und der SPF-Bescheide
Das Bundesministerium strebt eine quantitative Verringerung und eine qualitative Erhöhung der SPF-Bescheide an. „Präventive Maßnahmen wie Beratung und Förderung sollen im Vordergrund stehen, damit ggf. ein SPF-Bescheid und eine Stigmatisierung vermieden werden.  Dort, wo ein Beschied gerechtfertigt ist, muss dieser auf einem nachvollziehbaren, schlüssigen Gutachten fußen. (…) Die Begründungen für das Ausstellen eines SPF müssen national vergleichbar und standardisiert sein, das Bescheidverfahren muss transparent und nachvollziehbar sein, und der Bezug zu rechtlichen Gegebenheiten muss ausgewiesen werden. Bescheide sollen Fördermöglichkeiten aufzeigen, die geeignet sind, die dem Antrag zugrunde liegende Problemsituation zu verbessern“ (bmbf 2015, S.9f.).  Das in der Schweiz entwickeltes „Standardisiertes Abklärungsverfahren (SAV)“ (Hollenweger/Lienhart 2011), könnte ein Vorbild für die SPF-Verfahren in Inklusiven Modellregionen sein, und soll in den inklusiven Modellregionen nun erprobt, evaluiert und eventuell für Österreich adaptiert werden.

4. Lehrer_innenbildung Neu

Mit der Änderung des Hochschulgesetzes im Frühjahr 2013 schuf die Bundesregierung die Grundlage für eine in deutschsprachigen Ländern revolutionäre Neustrukturierung der Lehrer_innenbildung. Seit 2015/16 gibt es in Österreich keine eigenständige Ausbildung von Sonderschullehrer_innen mehr, sehr wohl aber die Möglichkeit einer Schwerpunktsetzung bzw. Spezialisierung in Inklusiver Pädagogik mit einem Fokus auf den Diversitätsbereich Behinderung innerhalb der Primar- oder Sekundarstufenpädagogik.
Die Aufgabe der „Abstimmung der von Pädagogischen Hochschulen autonom erstellten Curricula im Hinblick auf inklusive Bildung“ (NAP: Maßnahme 135, bmask 2012) wurde vom Bundesministerium dem Bundeszentrum für inklusive Bildung und Sonderpädagogik an der PH Oberösterreich (www.bzib.at) übertragen. Dieses erarbeitete gemeinsam mit Vertreter_innen aller Hochschulen Empfehlungen zur Umsetzung des neuen Hochschulgesetzes[5]. Inklusive Bildung wird als eine unverzichtbare pädagogische Grundlage für alle Studierenden definiert, die in allen Studienbereichen (Bildungswissenschaftliche Grundlagen, Fachwissenschaften und -didaktiken, pädagogisch-praktische Studien) in einem Ausmaß von zumindest 18 EC-Punkten verankert sein soll. Der Schwerpunkt Inklusive Pädagogik mit dem Fokus Behinderung, der sozusagen die bisherige Sonderschullehrerausbildung ersetzt, soll ein Ausmaß von 80 – 115 EC-Punkte umfassen.
Die Ausbildungsinhalte und -strukturen sollen sich an die Anforderungen eines inklusiven Schulsystems anpassen. Grundlage dafür sind entsprechende Einstellungsänderungen: In einer inklusiven Lehrer_innenbildung kann nicht mehr das beeinträchtigte oder benachteiligte Kind als defizitäres Wesen im Fokus des pädagogischen Blicks stehen. Stattdessen sind strukturelle Barrieren in den Systemen sowie effektive, subsidiäre Angebote zur Verringerung dieser Barrieren in den Mittelpunkt zu stellen. Pädagogisches Ziel muss die optimale Abstimmung der individuell unterschiedlichen Lernausgangslagen, Fähigkeiten und Interessen mit gemeinsamen, individualisierten und differenzierten Lernangeboten und -anforderungen sein. Durch die Berücksichtigung der verschiedenen Bedarfe, Fähigkeiten und Erwartungen der Schüler_innen sowie der Gemeinschaft soll auch jegliche Form der Aussonderung vermieden werden.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Einstellungen und Kompetenzen von LehramtsstudentInnen und Lehrer_innen für die Umsetzung inklusiver Bildung“ (siehe dazu auch Feyerer et al. 2014) wurden 2012 an den Pädagogischen Hochschulen Oberösterreich (= PH OÖ) und Vorarlberg (=PH V) insgesamt 1532 Studierende und Absolvent_innen befragt. Einerseits ging es darum, die Einstellungen, Haltungen und Kompetenzen von Lehramtstudent_innen und Lehrer_innen in den ersten beiden Dienstjahren zu erfassen. Andererseits sollten optimale Handlungsmöglichkeiten für die Ausbildung zur Vermittlungen dieser Grundhaltungen und Kompetenzen identifiziert werden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es mit der bisherigen Ausbildung ganz gut gelang, den Studierenden eine grundsätzlich relativ positive Haltung zur Idee einer inklusiven Schule zu vermitteln,aber „es der Ausbildung bisher noch nicht zu gelingen scheint, ein umfassendes und wirksames, alle Diversitätsdimensionen umfassendes Bild von Inklusion zu vermitteln. Inklusion wird zwar in einem normativen Sinne von den Studierenden und AbsolventInnen positiv gesehen, als Bereicherung für alle, wobei als zentrale Werte das Entwickeln von Empathiefähigkeit, das Wahrnehmen der Bedürfnisse anderer, Akzeptanz und Toleranz angeführt werden. Das Zwei-Gruppen-Denken und die Fixierung auf die Differenzlinie Beeinträchtigung ist aber das handlungsleitende Konzept der Studierenden und AbsolventInnen. Die Qualität von Integration wird stark mit vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Ressourcen in Verbindung gebracht. Auch wenn diese Bedenken in den geschilderten Bezügen teilweise gut nachvollziehbar sind und berechtigt erscheinen, werden sie oft als das zentrale Kriterium für Gelingen oder Nichtgelingen herangezogen. Das Fehlen anderer Indikatoren für Qualität könnte ein Hinweis für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sein, mehr Analysemöglichkeiten anzubieten, um damit auch Handlungsoptionen zu erhöhen.“ (Feyerer et al. 2014, S. 182)
Die neue Lehrer_innenbildung hat zum Ziel, insgesamt mehr Kompetenzen im Bereich der Inklusiven Pädagogik, also durchaus auch mehr sonderpädagogische Kompetenzen ins Schulsystem zu bringen, damit die Ziele der UN-Konvention zukünftig besser umgesetzt werden können. Die neue Ausbildungsstruktur stellt dafür eine gute Basis dar. Die Gefahr ist allerdings, dass inklusive Bildung vom Gros des Lehrpersonals bloß als additiver Aspekt interpretiert wird, um den sich einige wenige Spezialist_innen kümmern sollen oder Diversität zwar als Schlagwort im Curriculum verankert, aber letztendlich nicht ausreichend thematisiert wird. Berücksichtigen die Hochschulen aber folgende Empfehlungen für die Umsetzung der neuen Struktur besteht eine große Chance, dass zukünftige Absolvent_innen von Lehramtsstudien ausreichende Einstellungen und Kompetenzen mitbringen, um ein inklusives Schulsystem Schritt für Schritt aufzubauen (Feyerer et al 2014, S. 184-188):

 

5. Einschätzung der bisherigen Entwicklung

Österreichs Bildungspolitik strebt mit dem Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012–2020 eine flächendeckende Implementierung inklusiver Regionen und damit indirekt die Umwandlung des noch immer sehr segregativ strukturierten Schulsystems an. Dabei stößt sie auf eine gesamtgesellschaftliche Situation, die Behinderung zumeist noch medizinisch und defizitorientiert definiert und Inklusion als Synonym für Integration oder unerreichbare Utopie denkt. Eine zu rasche Auflösung von Sonderschulen und der gymnasialen Unterstufe würde daher auf große gesellschaftliche Widerstände stoßen. Der Umwandlung des Schulsystems ist daher Zeit zu geben. Das Konzept der Inklusiven Regionen basiert auf dieser Erkenntnis und auf der Einsicht, dass die Auflösung von Sonderschulen allein noch nicht als Erfüllung der UN-Konvention angesehen werden kann. Dies kann nur ein Teilstück einer grundlegenden strukturellen Reform hin zu einem inklusiven Bildungssystem sein, denn es geht insgesamt darum, schrittweise zu einem Bekenntnis zum Grundprinzip der Diversität und der Abschaffung von sozialen, kulturellen und sozi-ökonomischen Barrieren im Bereich Bildung durch eine Reform der Regelschulen zu kommen.
Die Bundesländer Kärnten, Steiermark und Tirol, die bereits viel Vorarbeit für die Entwicklung inklusiver Schulsysteme geleistet haben, starteten im Schuljahr 2015/16 mit dem Aufbau Inklusiver Modellregionen auf Basis der hier vorgestellten verbindlichen Richtlinien. Zu den drei wesentlichen Strukturveränderungen (Pädagogische Beratungszentren, weniger stigmatisierende Ressourcenvergabe, weniger und qualitätsvollere SPF-Bescheide) gibt es bundesländerübergreifende Entwicklungsprojekte, die vom Bundeszentrum für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik (BZIB) koordiniert und vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung (BIFIE) evaluiert werden. In weiterer Folge und unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus den o.g. Bundesländern soll diese Richtlinie weiterentwickelt und als Grundlage für alle Bundesländer erlassen werden. Die Hoffnung des Ministeriums ist es, das bis 2020 alle Bundesländer Inklusive Modellregionen errichtet haben. Die Bundesregierung verfolgt damit weiterhin konsequent das Prinzip, den Regionen pragmatisch zu ermöglichen, Schritt für Schritt inklusive Schulen aufzubauen, ohne sie aber entsprechend offensiv zu unterstützen. Die verbindlichen Richtlinien ermöglichen damit engagierten Ländern und Personen, erste notwendige strukturelle Veränderungen durchzuführen und stellen den anderen Bundesländern verdeckt in Aussicht, dass diese Richtlinien in Kürze auch bei ihnen anzuwenden sind.
Damit wird ein sehr vorsichtiges politisches Signal in die richtige Richtung gesetzt. Aus Sicht des BZIB wäre allerdings eine radikalere Vorgehensweise notwendig. So fehlt im Erlass z.B. jegliche Aussage zu zusätzlichen Ressourcen. Ein Systemwandel kann aber letztendlich nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn für die Begleitung des Wandels Ressourcen zur Verfügung gestellt werden – und zwar auf Schulebene (z.B. für interne Schulentwicklung) ebenso wie auf Landes- und Bundesebene (z.B. für Koordination, Beratung, Evaluation). Dafür sind momentan aber keinerlei Signale ersichtlich.
Weiters wäre es wichtig gewesen, dass im Papier der Bildungsreformkommission[6] vom November 2015, das auf höchster politischer Ebene die Weichen für die Weiterentwicklung des österreichischen Schulsystems für die nächsten 10 Jahre stellt, die Inklusion als deutlicher Auftrag verankert worden wäre. Leider findet sich Inklusion dort aber nur als optionale Möglichkeit bei der Beschreibung des pädagogischen Konzeptes einer gemeinsamen Schule der 6 – 14-Jährigen und die Möglichkeit, in Modellregionen eine gemeinsame Schule zu erproben, ist überhaupt auf 15% aller Standorte bzw. Schüler_innen der jeweiligen Schulart eines Bundeslandes beschränkt worden. Wie man unter diesen Umständen zu einer inklusiven Schule, also zu einer Schule für alle bis 2020 kommen will, wurde in der Bildungsreformkommission anscheinend nie angesprochen. Und damit ist auch das Dilemma der österreichischen Entwicklung auf den Punkt gebracht: Inklusion ist von der Bildungspolitik gewollt und solange keine größeren Umstrukturierungen vor den Wähler_innen und der Lehrergewerkschaft  verantwortet werden müssen, werden auch kleinere Zugeständnisse gemacht. Ein wirklicher Paradigmenwechsel hin zu einer Schule für alle, auch unter der notwendigen Einbeziehung der Gymnasien, wird aber nicht offensiv unterstützt. Ob die Implementierungsstrategie der Bundesregierung,  über Inklusive Modellregionen als das momentan einzig politisch Machbare auf lange Sicht erfolgreich sein wird, wird auch davon abhängen, inwieweit die eher kleine Zahl engagierter Personen auf allen Ebenen (Bildungspolitik in Bund und Ländern, Schulverwaltung, Schulleitungen, Lehrer_innen, Eltern,  Wissenschafter_innen, …), die nun schon jahrelang  in mühsamster Kleinarbeit an dem Paradigmenwechsel arbeitet und sich über jedes Zeichen der Weiterentwicklung (wie z.B. den NAP oder den oben erwähnten Erlass) freut, ausreichend unterstützt wird oder nicht. Die laut Erlass zu erprobenden Maßnahmen betreffen nämlich durchaus politisch heikle Aspekte wie zum Beispiel eine zumindest teilweise sozialindexbasierte Ressourcensteuerung, die manchen Schulen Ressourcen nimmt, um diese anderen zusätzlich zu geben. Das Jahr 2020 wird, soviel kann heute sicher gesagt werden, noch keine flächendeckende Verankerung der Inklusion im Schulsystem bringen. Bis dorthin sollte es aber gelungen sein, alle Bundesländer in den Prozess einzubinden und erste notwendige Systemveränderungen erprobt und evaluiert zu haben, die dann im dritten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu den entsprechenden Gesetzesänderungen führen sollten.

6. Literatur

Bacher, Johann/Altrichter, Herbert/Nagy, Gertrud (2010). Ausgleich unterschiedlicher Rahmenbedingungen schulischer Arbeit durch eine indexbasierte Mittelverteilung. In: Erziehung & Unterricht 160, S. 384-400. URL: http://www.jku.at/soz/content/e94921/e95831/e96904/e96916/E&U_3-4_2010_Bacheretal_ger.pdf [12.9.2015].
bmask (2012). Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012–2020. Strategie der österreichischen Regierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Inklusion als Menschenrecht und Auftrag. Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. Download unter http://www.sozialministerium.at/site/Soziales/Menschen_mit_Behinderungen/Nationaler_Aktionsplan_Behinderung_2012_2020/ [20.9.2015].
bmbf (2015). Verbindliche Richtlinien zur Entwicklung von Inklusiven Modellregionen. Erlass GZ BMBF 36.153/0088-I/5/2015 vom 3. September 2015; URL: www.bzib.at [20.9.2015].
Bruneforth, M., Vogtenhuber, S., Lassnigg, L., Oberwimmer, K., Gumpoldsberger, H., Feyerer, E., Siegle, T., Toferer, B., Thaler, B.,  Peterbauer, J. & Herzog-Punzenberger, B.: Indikatoren C: Prozessfaktoren. In: Bruneforth, M., Lassnigg, L., Vogtenhuber, S., Schreiner, C.& Breit, S. (Hrsg.): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2015. Band 1. Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren, Graz: Leykam, S. 71-128
Feyerer, Ewald/Dlugosch, Andrea/Niedermair, Claudia/Hecht, Petra/Reibnegger, Harald & Prammer-Semmler, Eva: Einstellungen und Kompetenzen von LehramtstudentInnen und LehrerInnen für die Umsetzung inklusiver Bildung, Endbericht, April 2014, Linz: PH OÖ, download unter: http://www.ph-ooe.at/fileadmin/Daten_PHOOE/Inklusive_Paedagogik_neu/Sammelmappe1.pdf [21.3.2016].
Feyerer, Ewald (2013). Inklusive Regionen in Österreich. Bildungspolitische Rahmenbedingungen zur Umsetzung der UN-Konvention. In: behinderte menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 36. Jg., Heft 2, 34 – 44.
Hollenweger, Judith/Lienhart, Peter (2011). Standardisiertes Abklärungsverfahren (SAV). Instrument des Sonderpädagogik-Konkordats als Entscheidungsgrundlage für die Anordnung verstärkter individueller Massnahmen. Handreichung. Bern: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). URL: http://peterlienhard.ch/download/2011_SAV_d.pdf  [20.9.2015].
UNESCO (2008). Inclusive Education: The Way of the Future. Conclusions and Recommendations of the 48th Session of the International Conference on Education (Ice). URL: http://www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/Policy_Dialogue/48th_ICE/CONFINTED_48-5_Conclusions_english.pdf [30.8.2015].

 

[1] http://monitoringausschuss.at/sitzungen/wien-10-06-2010-inklusive-bildung/ [24.03.2016]

[2] http://www.lebenshilfe.at/index.php?/de/Aktuelles/Stufenplan-zur-inklusiven-Schule [24.03.2016] – mit dem Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012-2020 wurde der ursprüngliche Stufenplan von 2010-2016 auf den Zeitraum des NAP angepasst

[3] Anfragebeantwortung 9730/AB XXIV.GP vom 13. Jänner 2012, kursive Hervorhebung durch den Autor, http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/AB/AB_09730/imfname_240727.pdf  [21.03.2016]

[4] http://www.statistik-austria.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bildung_und_kultur/formales_bildungswesen/schulen_schulbesuch/index.html [24.3.2016]

[5] http://www.ph-ooe.at/fileadmin/Daten_PHOOE/Inklusive_Paedagogik_neu/BIZB/Erweitertes_Empfehlungspapier_2014_01.pdf [29.3.2016]

[6] https://www.bmbf.gv.at/ministerium/vp/2015/20151117.pdf?55kaz6 [29.3.2016]