Abstract:Lange Debatten und Schulversuche in so genannten "Schwerpunktregionen" zur Umsetzung eines inklusiven Bildungsanspruchs und der Entwicklung individueller Förderung an allen Schularten führten in Baden-Württemberg zu Reformen des Schulgesetzes (Schuljahr 2015/16) sowie der Lehrer_innenbildung (2015). Der Artikel beschreibt die wesentlichen Änderungen im Kontext bildungspolitischen Entwicklungslinien und nimmt eine erste Einschätzung der Reformen hinsichtlich der Verwirklichung inklusiver Bildungsangebote vor.
Stichworte: Schulgesetzänderung; Ressourcensteuerung; inklusive Entwicklung; Lehrerbildung; gemeinsamer Unterricht
Die Behindertenrechtskonvention wurde nach ihrem in Kraft treten im Jahr 2009 in Baden-Württemberg relativ schnell bildungspolitisch zur Kenntnis genommen. Ob in ihrer gesamten Tragweite, sei einmal dahin gestellt. Eine erste Reaktion noch im gleichen Jahr war die Einrichtung eines in seiner Zusammensetzung sonderpädagogisch dominierten Expertenrats auf Initiative des Kultusministeriums. Auf Empfehlung dieses Expertenrats wurden für das Schuljahr 2010/11 fünf Schulamtsbezirke (von insgesamt 21) als Schwerpunktregionen ausgewählt, in denen über eine Sonderregelung das Schulgesetz ausgesetzt und Eltern eines Kindes mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot auf Antrag ein „qualifiziertes“ Wahlrecht des Förderortes eingeräumt wurde (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2010). Konkret bedeutete dies: Dem Wunsch der Eltern nach der Förderung ihres Kindes außerhalb einer Sonderschule wurde stattgegeben, wenn die beteiligten Schulen sowie die sonstigen Kostenträger mit den Eltern eine einvernehmliche Lösung im Rahmen einer Bildungswegekonferenz finden konnten. Zwar war eine Konsensentscheidung aller Beteiligten anzustreben, sollte die jedoch nicht gelingen, entschied das Schulamt über den Förderort (ebd.). Mehr als ein Viertel aller Eltern der Kinder mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot entschieden sich damals, trotz der schwierigen Startbedingungen mit komplizierter Antragsstellung und Angebotsverhandlungen, für eine „inklusive“ Lösung (Allgöwer 2013). Diese Zahl wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Während die Befürworter der Sonderschulen argumentieren, dreiviertel der Eltern bevorzugten das sonderschulische Bildungsangebot und deshalb müssten diese Einrichtungen erhalten werden, halten Inklusionsbefürworter entgegen, dass trotz der strukturell schlechten Bedingungen in den Schwerpunktregionen sich immerhin schon ein Viertel für ein inklusives Bildungsangebot entschieden habe und dies als Zeichen eines breiten Wunsches bei einer viel größeren Zahl von Eltern zu werten sei. Wie auch immer, waren die Ergebnisse dieses 3-jährigen Modellversuchs Grundlage für die vorgenommenen Änderungen im Schulgesetz zum Schuljahr 2015/16 und bei den vorausgehenden Verhandlungen mit Kostenträgern.
2011 gab es einen so nicht erwarteten Regierungswechsel in Baden-Württemberg. Nach über 50 Jahren einer CDU-Regentschaft hatte von nun an eine grün-rote Landesregierung das Sagen. Unter dem leitenden Gedanken, Bildungserfolg von sozialer Herkunft zu entkoppeln und die individuelle Förderung in den Schulen zu stärken, legte die grün-rote Koalition die Messlatte für ihre eigene Bildungspolitik hoch. Die im Koalitionsvertrag zugesagte Abschaffung der Grundschulempfehlung (Bündnis 90/Die Grünen und SPD BW 2011, 6) wurde schon im Schuljahr 2011/12 verwirklicht. Die ersten Gemeinschaftsschulen (= Sek. 1 mit/ohne Grundschule, die alle Bildungsgänge anbietet) gingen im darauf folgenden Schuljahr an den Start und im Schuljahr 2016/17 werden es 299 Gemeinschaftsschulen sein. Auch „Inklusion“ wurde im Koalitionsvertrag ausdrücklich bedacht: „Die Inklusion behinderter Kinder ist integraler Bestandteil eines Bildungswesens, das sich durch Chancengerechtigkeit und die gleichberechtigte Teilhabe aller auszeichnet. Wir werden Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Schulbereich konsequent umsetzen. Der Anspruch der Kinder mit Behinderung auf sonderpädagogische Förderung in der Regelschule wird gesetzlich verankert. Die Eltern behinderter Kinder erhalten ein Wahlrecht: Sie sollen nach einer qualifizierten Beratung selbst entscheiden, ob ihre Kinder eine Sonderschule oder eine Regelschule besuchen.“ (ebd.,7).
Irritierend bleiben jedoch seit in Kraft treten der BRK und auch nach grün-roter Regentschaft die Schülerzahlen an Sonderschulen. Für eine Anhörung im Landtag wertete Prof‘in Kerstin Merz-Atalik die Entwicklung der Schülerzahlen der Jahre 2000-2010 aus. Sie kam zu folgendem Ergebnis: Zwar hatte sich der Anteil der Schüler/-innen mit einem Anspruch auf sonderpädagogische Förderung in sog. „inklusiven Bildungsangeboten“ etwas vergrößert, allerdings wuchs gleichzeitig die Schülerzahl an Sonderschulen gegen den Trend an allgemeinen Schulen weiter an. Einzig im Förderschwerpunkt Lernen war ein deutlicher Schülerrückgang zu verzeichnen (vgl. Merz-Atalik 2012). Und der Trend scheint sich bis heute fortzusetzen, entsprach die Anzahl der Schüler/-innen an Sonderschulen im Schuljahr 2007/08 einem Anteil von 4,2% an der Gesamtzahl aller Schüler/-innen, betrug der Anteil von Sonderschüler/-innen im Schuljahr 14/15 bereits 4,5% der gesamten Schüler/-innenzahl (Statistisches Landesamt BW 2016). Noch deutlicher wird es durch folgenden Vergleich: insgesamt ging die Schülerinnenzahl vom Schuljahr 2007/08 bis zum Schuljahr 2014/15 auf Grund des demografischen Wandels um 11,9% zurück, während die Schüler/-innenzahl an Sonderschulen zur gleichen Zeit lediglich um 3,1% sank (ebd.).
Nach vier Jahren Vorbereitung und zähem Ringen vor und hinter den Kulissen zwischen Land, Kommunal- und Lehrerverbänden verabschiedete der Landtag am 15. Juli 2015 ein Schulgesetz mit bemerkenswerten Änderungen. Das Gesetz trat mit dem 01.08.2015 in Kraft und hat so Gültigkeit für das laufende Schuljahr 2015/16. Dieses Schulgesetz sollte die schulische Inklusion im Sinne der ambitionierten Ziele des Koalitionsvertrages verwirklichen. Begleitet wird die Änderung durch die Ankündigung von 200 zusätzlichen Deputaten für „Inklusion“ im Schuljahr 15/16 und insgesamt 1350 neuen Stellen bis zum Schuljahr 22/23 (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2015). Außerdem werden Beratungsstellen an allen staatlichen Schulämtern für „Praxisbegleiter/innen inklusiver Bildungsangebote" mit dem Schwerpunkt „Grundlagen des zieldifferenten Unterrichts“ eingerichtet und entsprechend Schwerpunkte in den Fortbildungsangeboten gesetzt (ebd.). Seit März 2016 liegt eine Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums vor, die den Schulträgern die Kostenerstattung für evtl. anfallende Umbauten aufgrund inklusiver Bildungsangebote zusagt (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2016: Verwaltungsvorschrift über die Gewährung eines Aufwendungsersatzes).
Im Hinblick auf „Inklusion“ sind folgende schulgesetzliche Änderungen von Bedeutung:
Diese zunächst grundsätzlich zu begrüßenden Änderungen erfahren in den weiteren Ausführungen der Paragraphen massive Einschränkungen, die im Hinblick auf eine inklusive Ausgestaltung des Bildungssystems kritisch zu bewerten sind.
So müssen Eltern ein „inklusives Bildungsangebot“ an einer allgemeinen Schule ausdrücklich wünschen, sollte durch eine sonderpädagogische Diagnostik (u.U. gegen ihren Willen, SchG §82 Abs.2) ein Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot bei ihrem Kind festgestellt worden sein. Hierfür halten die Schulämter Anträge bereit. Daraufhin wird, sofern nötig, eine „Bildungswegekonferenz“ unter Regie der unteren Schulverwaltung einberufen (SchG §83 Abs. 3). Diese erarbeitet unter Abstimmung „mit den von der Erfüllung des Anspruchs berührten Schulen, Schulträgern und Leistungs- und Kostenträgern“ (ebd.) den Vorschlag eines Bildungsangebots an einer allgemeinen Schule.
Dabei sind von der Schulverwaltung zieldifferente Unterrichtsangebote „grundsätzlich gruppenbezogen zu organisieren“ (ebd.). Nun kann es sein, dass es der „Bildungswegekonferenz“ nicht möglich ist, ein passendes Angebot zu finden oder zu erarbeiten. Vielleicht, weil die Eltern das vorgelegte Angebot ablehnen, vielleicht, weil es der Schulverwaltung nicht gelingt, „die fachlichen, personellen und sächlichen Voraussetzungen zur Erfüllung des Anspruchs“ an einer allgemeinen Schule zu schaffen (SchG §83 Abs. 3). Sollte dies der Fall sein, obliegt es der Schulaufsicht, das Kind einem Förderort (allgemeine Schule oder sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum) zuzuweisen (ebd.).
Im Moment liegen zur Umsetzung dieser schulgesetzlichen Änderungen noch keine untergesetzliche Regelungen und nur wenige Verwaltungsvorgaben vor, so dass in den unteren Schulverwaltungsebenen und Schulen mit den Änderungen sehr unterschiedlich umgegangen wird. Weiter führen die unterschiedlichen Traditionen und Perspektiven der betroffenen Akteure zu äußerst differenten Bewertungen der (Bildungs-)Systementwicklung und dadurch zu unterschiedlicher Auslegung der gesetzlichen Vorgaben und ebenso unterschiedlicher Aktivität im Hinblick auf die Verwirklichung inklusiver Bildungsangebote.
Wie weit die Interessen einzelner Verbände auseinander liegen, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Im Moment befindet sich die „Verordnung des Kultusministeriums über die Feststellung und Erfüllung des Anspruchs auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot“ in der Anhörungsphase. Während der Landesverband der Sonderpädagogik (VdS) die Ausführungen insgesamt begrüßt, weil er eine klare Aufgabenbeschreibung für die Sonderpädagogik vorfindet, (Beratung, Unterstützung, Bildungsangebot), daraus Ressourcenansprüche der Sonderpädagogik ableitet und eine Stärkung der Sonderpädagogik in Bezug auf Diagnostik und Bildungspläne der einzelnen Förderschwerpunkte heraus liest (Verband der Sonderpädagogik e.V. BW 2016), kritisiert die LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen Baden-Württemberg: „In vielen Punkten wird deutlich, dass Inklusion von den Autoren dieser Verordnung in ihrem Kern nicht verstanden worden ist. ...Der Verordnung liegt größtenteils ein rein additives Verständnis von Inklusion und sonderpädagogischer Unterstützung zu Grunde. Wie sich Lehrpläne, Unterrichtsmodelle und Sichtweisen in der schulischen Inklusion verändern und verändern müssen, nimmt diese Verordnung nicht wirklich in den Blick“ (LAG Gemeinsam leben – gemeinsam lernen 2016). Die Kritik der LAG Gemeinsam leben – gemeinsam lernen bezieht sich vor allem auf die vom Verband der Sonderpädagogik positive gewerteten Aspekte, welche die Bildungsbegleitung der Kinder mit Anspruch auf besondere Förderung durch die zwei Systeme „Sonderpädagogik“ und „Allgemeine Pädagogik“ festschreiben. Weiter bemängelt die LAG die fehlende Konkretion der Verwaltungsvorschrift, die kaum über das Schulgesetz hinaus gehe (ebd.).
Nach wie vor findet in Baden-Württemberg die gymnasiale und berufliche Lehrer/-innenbildung an Universitäten statt. Die Lehrämter Grundschule, Sek.1 (Zusammenlegung der ehemals getrennten Lehrämter Hauptschule und Realschule) und Sonderpädagogik werden an den sechs Pädagogischen Hochschulen ausgebildet. Mit der Studienreform zum Wintersemester 2015/16 waren einige grundlegende Änderungen verbunden:
Für die Hochschulen ist die Umstellung aller Lehrämter der Staatsexamenstudiengänge auf eine Bachelor- und Masterstruktur der bedeutendste Einschnitt (Rechtsverordnung Lehramtsstudiengänge BW, §2).
Im Hinblick auf das Thema Inklusion ist folgende Rahmenvorgabe besonders hervorzuheben: „Inhalte zu Grundfragen der Inklusion werden in jedem Lehramtsstudium (Bachelorstudiengang und Masterstudiengang) in den Bildungswissenschaften mit mindestens sechs ECTS-Punkten studiert. Daneben sind in den Anlagen Fragen der Inklusion berücksichtigt“ (ebd.).
Weiter wurde die Regelstudienzeit in den meisten Lehramtsstudiengänge um ein Semester verlängert, so dass sich die Studienzeiten nun wie folgt darstellen (vgl. ebd.):
Die Verlängerung der Studienzeit wurde nahezu vollständig zugunsten einer Vertiefung der Fachwissenschaft / Fachdidaktik in den gewählten Fächern genutzt. Mit der Reform beinhaltet nun jeder Lehramts-Studiengang ein Orientierungspraktikum während der ersten 3 Semester und ein mind. 13-wöchiges Praxissemester in der Folgezeit (ebd.).
Das Lehramt Sonderpädagogik bildet weiterhin Sonderpädagog/-innen in sieben Förderschwerpunkten (Sehen, Hören, Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache, geistige Entwicklung sowie körperliche und motorische Entwicklung) aus. Aus diesen Förderschwerpunkten wählen die Studierenden eine Haupt- und eine Nebenfachrichtung.
Mit diesen Reformen hat sich die grün-rote Landesregierung nur in Teilen an die Empfehlungen einer eigens eingesetzten Expertenkommission zur „Weiterentwicklung der Lehrerbildung in Baden-Württemberg“ (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg 2013) gehalten. Diese Empfehlungen sahen u.a. eine Auflösung eines eigenständigen Lehramts Sonderpädagogik vor. Dafür sollten bei nahezu gleichem Umfang sonderpädagogischer Inhalte als Profilbereich eines anderen Lehramtsstudiengangs angeboten werden. Eine Zusammenlegung der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung wurde empfohlen. Weiter sollte Lehramt Sek. 1 sollte auch die gymnasiale Lehrer/-innenbildung beinhalten und über Kooperationen von Universitäten und Päd. Hochschulen verantwortet werden.
Eine differenzierte Darstellung der Ressourcensteuerung würde den Umfang dieses Länderberichts sprengen. So sind bei der personellen Ausstattung neben dem Land (Lehrkräfte) die Landkreise / Kommunen und freien Träger (Schulbegleitung / Integrationsassistenz, therapeutisches Personal) beteiligt. Bei der finanziellen und organisatorischen Ausstattung (Schülertransporte, bauliche Maßnahmen, Sachmittel) inklusiver Bildungsangebote teilen sich die Zuständigkeiten ähnlich auf: abhängig von der Schulart, der Art der Behinderung und den dazugehörigen sozialgesetzlichen Regelungen ist eine Vielzahl von Akteuren an der Ausgestaltung beteiligt. Aufgrund regionaler Unterschiede in der Schullandschaft, den Trägern der Behindertenförderung und Praxen der beteiligten Systeme hat sich eine Vielfalt von unterschiedlich ausgestatteten Settings entwickelt, die unter der Überschrift „inklusives Bildungsangebot“ firmieren. Diese Darstellung konzentriert sich deshalb auf eine detaillierte Beschreibung der Regelungen zur Deputatszuweisung und eine skizzenhafte Übersicht über die Modelle gemeinsamen Unterrichts.
Im Organisationserlass für das erste Schuljahr nach der Schulgesetzänderung (Organisationserlass 2016/17) fällt auf, dass im Hinblick auf die Ressourcenzuweisung keine wesentlichen Änderungen im Vergleich zu den Vorjahren vorzufinden sind. Den SBBZ wird eine Übergangsfrist zur Umsetzung des aktuellen Organisationserlasses von einem Schuljahr eingeräumt. Um die Ressourcenzuweisung in „inklusive Bildungsangeboten“ einordnen zu können, muss das Grundprinzip der Ressourcensteuerung kurz skizziert werden.
Die Deputatszuweisungen an allgemeine Schulen und Sonderpädagogische Beratungs- und Bildungszentren orientiert sich in Baden-Württemberg an der Klassen- und Schüler/-innenzahl im Abgleich mit der Pflichtstundentafel des jeweiligen Bildungsgangs einer Schule. Hierbei werden besondere Aufgaben (zieldifferenter Unterricht, Vorbereitungsklassen, Kooperationsklassen) besonders berücksichtigt. Die Deputatsstunden, die eine Schule zur Abdeckung des Unterrichtsangebots nach dem jeweiligen Stundentafeln der Schule benötigt, werden den Schulen im Umfang eines Drittels direkt zugewiesen. Die einzige Ausnahme stellt das SBBZ mit dem Förderschwerpunkt Lernen dar: hier wird das Drittel der Deputate als Direktzuweisung gemäß eines Anteils der Grundschüler/-innenzahl eines Schulbezirks zugeteilt (8% der Grundschüler x 1,4 LWS) (ebd., 142).
Die übrigen zwei Drittel Lehrerwochenstunden erhalten die Schulämter und Schulen als „Stundenbudget / Differenzierungskontingent“ (ebd., 136/137): „Aus diesem Budget weisen die Schulaufsichtsbehörden den Schulen gezielt aufgrund örtlicher schulischer Besonderheiten, für die Lehrerreserve und zur Einrichtung zusätzlicher Unterrichtsangebote Lehrerwochenstunden zu.“ (ebd.) Der Hinweis auf „Organisationsformen“, „die einen effizienten Ressourceneinsatz durch Schwerpunktbildung ermöglichen“ (ebd.), deckt sich mit den o.g. „gruppenbezogenen Lösungen“ im Schulgesetz. Ausnahme auch hier wieder der Förderschwerpunkt Lernen: hier berechnet sich das Differenzierungskontingent über eine Quote orientiert an der Gesamtbevölkerungszahl der 6-14Jährigen im Einzugsgebiet (4,2% der Bevölkerung der 6-14 Jährigen x 1,55 LWS) (ebd., 142).
Zur Ausstattung inklusiver Bildungsangebote finden sich im Organisationserlass nur wenige Hinweise. Zum einen erhalten SBBZs eine nicht näher quantifizierte Ausstattung an Stunden „zur Unterstützung inklusiver Bildungsangebote“ (ebd., 143). Zum anderen wird im Rahmen der Kontingentzuweisung an die Schulämter ein „bedarfsgerechtes sonderpädagogisches Budget“ für inklusive Bildungsangebote für „... Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot …“ zugesagt, das mit der Ausstattung von SBBZ „qualitativ vergleichbar“ sein soll (ebd., 136). Eine präzisere Angabe findet sich nicht. In der Regel orientieren sich deshalb die Schulämter bei der Stundenzuweisung an den Berechnungsschlüsseln für die SBBZs der einzelnen Förderschwerpunkte. Die Stunden gehen dann im „Rucksackprinzip“ mit den Schüler/-innen an die allgemeine Schule, entweder durch eine Personalabordnung aus dem SBBZ heraus oder durch eine Direktanstellung von Sonderpädagog/-innen (nur in den Förderschwerpunkten „Geistige Entwicklung“ und „Lernen“ vorgesehen) an der allgemeinen Schule (ebd., 143). Meijer (1999) unterscheidet in seiner Studie zur Ressourcensteuerung in Bildungssystemen von 17 europäischen Staaten drei Modelle der Ressourcensteuerung: Input- (Individuum bezogen), Throughput- (System bezogen) und Outpumodell (Ziel bezogen). Auf die Personalsteuerung in „inklusiven Bildungsangeboten“ bezogen ist in Baden-Württemberg aktuell eine Mischform aus Input- und Throughputmodell Praxis.
Für eine systematisch quantitative Auswertung einer Wirkung der Schulgesetzänderung ist es noch zu früh. Da das Gesetz erst zu 1.8.2015 in Kraft trat, werden vermutlich die statistischen Auswirkungen auf das aktuelle Schuljahr überschaubar sein. In der Praxis lassen sich in Baden-Württemberg drei Modelle der Organisation gemeinsamer Bildungsangebote unterscheiden:
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Außenklasse |
Gruppenbezogene Lösung |
Einzelintegration |
Zugehörigkeit |
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Ziel |
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Ressourcen |
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Häufigkeit nach Förderschwer-punkten* |
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Häufigkeit nach Schularten* |
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(*die Häufigkeit ist vom Autor geschätzt; laut Auskunft des Statistischen Landesamtes im April 2016 lagen für das aktuelle Schuljahr noch keine Zahlen zur Veröffentlichung vor)
In Bezug auf die Qualität inklusiver Bildungsangebote gibt es von Seiten der Kultusverwaltung keine Vorgaben, Standards o.ä., die zur Sicherung oder Verbesserung einer inklusiven Qualität beitragen könnten. Von der Organisationsform allein lassen sich nur eingeschränkt Rückschlüsse auf die inklusive Qualität eines Angebots ziehen. Innerhalb der jeweiligen Organisationsform finden sich in wiederum beträchtliche Unterschiede bzgl. inklusiver Kultur, Struktur und Praxis (Booth / Ainscow 2011, 13): so finden sich Außenklassen, die 100% des Unterrichts gemeinsam und individualisert gestalten neben Außenklassen, die nicht einmal die Pause mit s.g. „Regelschüler/-innen“ verbringen. Bei Einzelintegrationen reicht die Bandbreite von einer ausschließlich „exklusiv“ stattfindenden sonderpädagogischen Förderung bis zu Einzelintegrationen, bei denen sich die sonderpädagogische Unterstützung auf die Beratung des Systems konzentriert.
Wie stellen sich die Entwicklungen in der Praxis dar? Auf der einen Seite gibt es Schulen, die kreative Ansätze in der Entwicklung inklusiver Bildungsangebote vorzuweisen haben. Auf der anderen Seite stellen die Vorgaben eine oftmals kaum zu überwindende Barriere bei der Verwirklichung inklusiver Bildungsangebote dar, wie einige Aspekte aus dem schulischen Alltag verdeutlichen sollen.
Gerade für Schulleitungen der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ist es eine kaum zu bewältigende Herausforderung, die vorhandenen personellen Ressourcen sinnvoll auf „eigene“ und „inklusive“ Bildungsangebote zu verteilen. Für das Doppel-Modell des Landes fehlen Sonderpädagog/-innen in allen Bereichen.
Durch das Diktum der „gruppenbezogenen Lösung“ scheint es, als fühlten sich nur einzelne Schulen zu einer Öffnung für eine vielfältige Schülerschaft verpflichtet. Bisher bieten nur wenige Schulen zieldifferenten Unterricht an und die Integration bezieht sich bei der jeweiligen Schule oftmals auf Kinder des gleichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkts. Dies mag im Hinblick auf den Einsatz von Personal und die räumliche Ausstattung verständlich sein. Aus Sicht der Eltern ist so ein wohnortnahes Bildungsangebot selten zu verwirklichen. Sonderpädagog/-innen, die sich für die Arbeit in einem gruppenbezogenen Angebot entscheiden, werden – abhängig von der Anzahl der Schüler-innen mit „ihrem“ Förderschwerpunkt an der jeweiligen Schule – immer wieder stundenweise an verschiedenen Schulen eingesetzt. Dies gilt auch für Sonderpädagogog/-innen, die sich – was seit diesem Schuljahr möglich ist – an einer allgemeinen Schule anstellen lassen. Einige Berichten von Unsicher- und Unklarheiten bzgl. der Dienstaufsicht. Für eine inklusive Schulentwicklung scheinen die Parallelstrukturen der Regel- und Sonderschulen, die gruppenbezogenen Lösungen und die – auch strukturelle - Trennung von sonderpädagogischen Aufgaben (Beratung/Diagnostik, Unterstützung und Bildungsangebot) eher hinderlich: oft werden diese Aufgaben von unterschiedlichen Personen wahrgenommen, was koordiniert sein will; oft bleiben die Sonderpädagog/-innen allein in der Zuständigkeit für die Kinder mit dem einem Förderschwerpunkt zugeordneten Förderanspruch und laufen Gefahr, zum kleinen SPBBZ innerhalb der Regelschule zu werden.
Weiter sprechen einige Schulleitungen und Schulamtsvertreter/-innen (bisher mündlich und noch nicht zu belegen) von einer Zunahme um bis zu 20% an Anträgen zur sonderpädagogischen Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen. Der Förderschwerpunkt, der in den vergangenen Jahren einzig rückläufige Schüler/-innenzahlen vorzuweisen hatte, erlebt demnach eine Renaissance. Vermutlich wird eine „Etikettierung“ mit diesem Förderschwerpunkt für das System wieder interessant, weil sich allgemeine Schulen Unterstützungsressourcen erhoffen und Eltern ohne eine Sonderschulzuweisung befürchten zu müssen einer sonderpädagogischen Unterstützung leichter zustimmen. Dieser hohen Nachfrage können die SBBZ nicht immer gerecht werden. Aus einem Schulamtsbezirk ist mir folgende Praxis aus dem Förderschwerpunkt Lernen bekannt: „Gemeldete“ Kinder werden vom Sonderpädagogischen Dienst auf einen sonderpädagogischen Bildungsanspruch hin überprüft; sollte die Diagnostik einen Anspruch ergeben, wird dieser aufgrund des Mangels an sonderpädagogischer Ressource noch nicht formal anerkannt. Die Schulverwaltung wartet erst einmal ab, ob das Kind ohne weitere Unterstützung das Klassenziel erreicht. Gedeckt ist dies durch das Schulgesetz: „Der Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot besteht nicht, wenn der Schüler mithilfe sonderpädagogischer Beratung und Unterstützung dem Bildungsgang der allgemeinen Schule folgen kann“ (SchG §82 Abs.1). Wie eine sonderpädagogische Beratung und Unterstützung aussieht, ist nicht präziser ausgeführt. Im geschilderten Fall war die Feststellung des Anspruchs alles an sonderpädagogischer „Unterstützung“ und „Beratung“. Sticht demnach die Versetzungsordnung die sonderpädagogische Diagnostik aus?
Gemessen an den vergangenen Jahrzehnten sind es große, eilige Schritte, die Baden-Württemberg mit dem neuen Schulgesetz geht. Ohne Frage ist die Absicht zu erkennen, das hoch selektive und an Homogenität orientierte Bildungssystem in ein weniger ausgrenzendes, an Vielfalt und individuellen Lernwegen orientiertes System zu verwandeln. Insbesondere der Wegfall der Grundschulempfehlungen, die Einführung der Gemeinschaftsschule, der Wegfall der Sonderschulpflicht mit der Einführung des eingeschränkten Elternwahlrechts und nicht zuletzt die zieldifferente Förderung als Aufgabe aller Schulen sind hier zu nennen. Dass gleichzeitig jedoch alle vorhandenen Schularten nahezu unverändert beibehalten werden, etwas „mehr“ an Sonderpädagogik beratend ausgesendet wird und allgemeine Schulen von Entwicklungsaufgaben je nach Geschmack verschont bleiben können, lässt die Reformen halbherzig erscheinen. Der bildungspolitische Konflikt um das Bekenntnis zur Vielfalt ist nun in der regionalen Schulentwicklung und in den einzelnen Schulen auszutragen. Das neue Schulgesetz bietet die Offenheit für Schulen, die sich an eine inklusive Entwicklung machen wollen; allerdings deutlich zu wenig „Rahmen“, um inklusive Qualität im System flächendeckend zu sichern und den Spielraum für Entwicklungsverweigerung kleiner zu machen.
Zu bedenken gilt allerdings: Vermutlich wäre der baden-württembergischen Wählerschaft „politisch“ kaum mehr zuzumuten gewesen. Und vielleicht gilt dies auch „pädagogisch“: Weder das pädagogische Personal und die Unterrichtskultur an den meisten Schulen noch die weiteren Unterstützungssysteme für Kinder mit besonderen Bedarfen sind soweit, diesen Paradigmenwechsel in ihrer Haltung, ihrem Selbstverständnis, ihrer Professionalität sowie ihrer institutionellen Ausrichtung vollzogen zu haben.
Während der Entstehung dieses Berichts legte die neue grün-schwarze Landesregierung ihren Koalitionsvertrag vor (Bündnis 90 / Die Grünen und CDU BW 2016). Eine Weiterentwicklung inklusiver Bildungsangebote wird lediglich für den Elementarbereich angestrebt. Ansonsten wird die Stärkung der Schulverwaltung in der Organisation inklusiver Angebote im Rahmen der vorhandenen gesetzlichen Regelungen, das Elternwahlrecht in der beschrieben Form und der Erhalt der Außenklassen als Ziel gesetzt (ebd.). Den begonnenen inklusiven Entwicklungen droht in den nächsten fünf Jahren der Stillstand.
Allgöwer, Renate (2013): Die Nachfrage steigt – auch ohne Gesetz; Stuttgarter Zeitung 03.12.2013; http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.inklusion-in-baden-wuerttemberg-die-nachfrage-steigt-auch-ohne-gesetz-page1.0090d27a-d232-46e7-b0e9-0320371ec3e6.html (Zugriff 09.04.2016)
Bündnis 90/Die Grünen, SPD BW (2011): Der Wechsel beginnt. Koalitionsvertrag zwischen Bündnis90/Die Grünen und der SPD Baden-Württemberg 2011-2016; https://www.gruene-bw.de/app/uploads/2015/10/Koalitionsvertrag-Der-Wechsel-beginnt.pdf (Zugriff 09.04.2016)
Bündnis `90 / Die Grünen und CDU BW (2016): Baden-Württemberg gestalten. Verlässlich. Nachhaltig. Innovativ; Koalitionsvertrag zwischen Bündnis 90 / Die Grünen Baden-Württemberg und der CDU Baden-Württemberg 2016 – 2021; http://www.baden-wuerttemberg.de/de/regierung/landesregierung/koalitionsvertrag/ (Zugriff: 15.05.2016)
Booth, Tony / Ainscow, Mel (2011): index for inclusion – developing learning and participation in school; Bristol, Centre for Studies on Inclusive Education (CSIE)
Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben – gemeinsam lernen (2016): Stellungnahme der Landearbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ e.V. zum Entwurf der „Verordnung des Kultusministeriums über die Feststellung und Erfüllung des Anspruchs auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot“ (SBA-VO); http://www.lag-bw.de/PDF2016/SBA-VO%20Anhoerungsentwurf.pdf (Zugriff 09.04.2016)
Meijer, Cor J.W. (1999): Finanzierung der sonderpädagogischen Förderung: Eine Studie über den Zusammenhang zwischen Finanzierung und sonderpädagogischer bzw. integrativer Förderung in 17 europäischen Ländern. Middelfart: European Agency for Development in Special Needs Education. Online verfügbar unter: https://www.european-agency.org/sites/default/files/financing-of-special-needseducation_Financing-DE.pdf (Zugriff 09.04.2016)
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2010): Regelungen zur Umsetzung des Beschlusses des Ministerrats vom 3. Mai 2010 "Schulische Bildung von jungen Menschen mit Behinderung"vom 22.09.2010, Az.: 31-6500.30/355; www.schule-bw.de/schularten/sonderschulen/kooperation/anlage/2_Anlage1_Regelungen_zur_Umsetzung1.pdf (Zugriff 09.04.2016)
Merz-Atalik, Kerstin (2012): Stepping Stones und Stolpersteine – Auf dem Weg zur inklusiven Bildung in Baden-Württemberg; http://www.thomasporeski.de/fileadmin/thomasporeski/Doukumentation_Anhoerung_am_30.1.2012_01.pdf; (Zugriff: 14.01.2012)
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (2013): Expertenkommission zur Weiterentwicklung der Lehrerbildung in Baden-Württemberg – Empfehlungen; https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/weiterentwicklung_lehrerbildung.pdf (Zugriff 09.04.2016)
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2015): Inklusion; http://www.km-bw.de/,Lde/Startseite/Themen/Inklusion (Zugriff 09.04.2016)
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Organisationserlass 2016/17: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport zur Eigenständigkeit der Schulen und Unterrichtsorganisation im Schuljahr 2016/2017; in Kultus und Unterricht 4. April 2016, S. 135-144
Rechtsverordnung Lehramtsstudiengänge Baden-Württemberg (2015): Rechtsverordnung des Kultusministeriums über Rahmenvorgaben für die Umstellung der allgemein bildenden Lehramtsstudiengänge an den Pädagogischen Hochschulen, den Universitäten, den Kunst- und Musikhochschulen sowie der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg auf die gestufte Studiengangstruktur mit Bachelor-und Masterabschlüssen der Lehrkräfteausbildung in Baden-Württemberg (Rahmenvorgabenverordnung Lehramtsstudiengänge - RahmenVO-KM); http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=LehrRahmenV+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true (Zugriff 10.04.2016)
Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG): Schulgesetz für Baden-Württemberg in der Fassung vom 1. August 1983; Stand: letzte berücksichtigte Änderung: § 15 geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Februar 2016 (GBl. S. 163); http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=SchulG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true (Zugriff 09.04.2016)
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