Robert Schneider: Zur Relevanz der Bildsamkeit für inklusionspädagogische ‚Grenzfragen‘ – Ein bildungstheoretisches Plädoyer für ein nicht-reduktionistisches Verständnis von pädagogischer Theorie und Praxis

Abstract: Dieser Beitrag versucht auf Basis aktueller pädagogisch-gesellschaftlicher Logik aufzuzeigen, dass es einer ethisch-moralischen Fundierung[1] bedarf, um Bestrebungen Inklusiver Pädagogik in ganzer Breite denken zu können. Allgemeinpädagogische Theorien können dabei hilfreich sein: Insbesondere die beiden Ideen der ‚Person‘ und der ‚Bildung‘ eröffnen die Möglichkeit, jedes menschliche Leben als (Co-)Autorenschaft auffassen zu können.[2] Um in diesem ‚Bild‘ zu bleiben: Dass sich die Geschichte einer Person verfassen lässt, bedarf es eines Aprioris. Dieses besteht in der Anerkennung jeder Person als Autor*in seiner bzw. ihrer Lebensgeschichte sowie der Co-Autorenschaft der Geschichte ihrer bzw. seiner lebendigen Umwelt. Dieses bildungstheoretische Anerkennungsverhältnis zwischen Personen wird in diesem Aufsatz mit der klassischen Idee der Bildsamkeit in Verbindung gebracht, die sich schließlich als effektiver Schutz der Menschen vor Reduktion und Verdinglichung erweisen kann.

Stichworte: Mensch als Person; Bildung; Bildsamkeit; Anerkennung; Praxis

Inhaltsverzeichnis

  1. Affirmativen Logik und Grenzfragen
  2. Bildung als Relation von Personen
  3. Person und Anerkennung
  4. Bildsamkeit als Anerkennungsverhältnis
  5. Person als Reduktionsschutz
  6. Literatur

1. Affirmativen Logik und Grenzfragen

‚Wird mein Kind den Abschluss schaffen?‘ ‚Wie hoch sind die Chancen jene berufliche Position zu erhalten?‘ ‚Lohnt es sich, in dieses Geschäft zu investieren; wie hoch ist die Rendite?‘ ‚Gibt es dieses Buch auch als Zusammenfassung oder gar als Hörbuch?‘ Mit solchen oder ähnlichen Fragen werden Menschen ganz häufig konfrontiert bzw. lassen sich auch damit konfrontieren. Die Abbildung analoger Lebendigkeit von Menschen in Digitales, das sich dann über Operationen des Schließens in berechenbares Künftiges verwandeln lässt, greift um sich. Diese Logik des ‚Marktes‘ wird aktuell in Hans (2015) „Transparenzgesellschaft“ über Veröffentlichungszwang und Pornografie, Kontrolle, absolute Nähe sowie Beschleunigung charakterisiert und in Arendts (1958/2014, z.B. 165-170) Rekonstruktion menschlicher Tätigkeiten als ‚Herstellen‘ bezeichnet. Komplexe und vieldeutige Inhalte können in diesem System aber nicht mehr dialektisch erzählt und entwickelt, sondern Sachen sollen als Wert und Gegenwert hergestellt bzw. in Verhältnissen dargestellt werden. Das damit einhergehende Evozieren im Sinne eines ‚Um-zu‘ reduziert menschliche Praxen und etabliert sich selbst dort, wo ein einer spezifischen Praxisform äußeres Ziel diese selbst ad absurdum führt (vgl. etwa Benner 2005, 43), wie dies in der Pädagogik der Fall ist, wofür ‚Bildungschancen‘, ‚Bildungshintergrund‘ und das Reden von ‚Output‘ Belege darstellen.

Die Wert- und damit Bewertungslogik führt gemeinsam mit dem Mechanismus des Schließens dazu, dass selbst das Leseverhalten dahingehend untersucht wird, welche Bereiche einer Lektüre besonders bedeutsam scheinen. Das Aufsummieren von Häufigkeiten wird hier – äußerlich – als Indikator für individuelle und kulturelle Bedeutsamkeit genommen. Doch nicht nur dieses: Viel problematischer ist die sich daraus ergebende Gefährdung menschlicher Praxis, weil Menschen auf diese Abbildung von Bedeutsamkeit als Form der Reduzierung von Sinn auf Information reagieren: Um nicht Zeit zu verlieren wird Bildung nicht als die Lebensaufgabe, sondern als ein ‚Projekt‘ auf ihren prognostizierten Wert geprüft und daraus eine Entscheidung abgeleitet.

Die Überwindung von verknappten Praxisformen im Sinne einer Mechanisierung des ‚Immer-wieder-Gleichen‘ und Reagierens auf Anreize – und sei es nur wider den Vorschlägen eines ‚Anbieters‘ zu handeln, lässt sich mit dem Moment des Widerstands von Bildung (vgl. Frost 2010) charakterisieren.[3] Damit ist auf die Bedeutung des Distanzhaltens im Sinne einer Selbstbeschränkung verwiesen, welche die Ermöglichung von gemeinsamer humaner Praxis der Selbstbestimmung von Menschen darstellt (vgl. z.B. Plessner 1924/2015, 131). Anders als die vorhin besprochenen Beispiele einer verkürzten Praxis, stellt die Selbstbeschränkung nicht eine „Fehlform“ (Benner 2005, 43) dar, sondern ist vielmehr als Moment von Anerkennungsbezügen, welche nachfolgend mit ‚Bildsamkeit‘ umschrieben werden, die Bedingung der Möglichkeit sich der gleichen prinzipiellen Bestimmbarkeit des Menschen solidarisch und in Freiheit (s)einer jeweiligen Bestimmtheit anzunähern (vgl. etwa Foucault 1984/2015c, 283).

Dieser allgemeinpädagogische Blick auf Inklusive Pädagogik kommt vielfach zu kurz und wird – verstärkt durch die Ratifizierung der UN-BRK – geläufig ja überwiegend mit sonderpädagogischen Fragestellung in Verbindung gebracht. Schon früh hat Prengel (1993/2006) eine „Pädagogik der Vielfalt“ quer über die Differenzlinien ‚Kultur‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Behinderung‘ entwickelt und damit eine Forderung Eberweins und Knauers (1994/2002, 26-29) nach einer echten allgemeinen Pädagogik befördert.[4] In eben dieser Tradition steht auch Bleidicks (1984, 196) Verständnis von Behinderung als „intervenierende Variable“, die letztlich nur insofern interessant wird, als pädagogische Praxis – mit Ballauffs (1966, 9) Worten – als „Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Maß der Bildung“ gehemmt und verkürzt wird. Wenn nachfolgend Bildsamkeit im Zusammenhang mit Grenzfragen erörtert wird, dann geschieht dies insofern im Kontext Inklusiver Pädagogik, weil diese die (empirische) Verschiedenheit der (Konkretisierung von) Menschen explizit thematisiert (vgl. Oelkers 2012; Prengel 1993/2006, Kap. 6; Esslinger-Hinz/ Sliwka 2011, 141f).

Vor dem Hintergrund der Entwicklung einer Inklusiven Pädagogik zeigen sich die Herausforderungen menschlicher Praxis und damit pädagogischen Denkens und Handelns in analoger Weise. Die Tendenz der Reduzierung kann bei genauer Betrachtung auch im Hinblick auf die Bearbeitung inklusionspädagogischer Fragen beobachtet werden, die – so wie jede Praxis – dem Entrücken in diese Logik immer wieder ausgesetzt ist (vgl. Benner 2005, 43). Ein erster, wenn auch allgemeiner Hinweis darauf, ist mit der Scheidung von ‚Förderschwerpunkten‘ (vgl. KMK 2011) nach deren ‚Inklusionstauglichkeit‘ gegeben (siehe dazu Wocken 2014). Dabei werden insbesondere die Bereiche der sprachlichen Förderung sowie des Lernens adressiert, kaum oder weniger jene der sogenannten Beeinträchtigung im Bereich der sozial-emotionalen oder geistigen Funktionen, wie auch die Quoten sonderpädagogischer Förderung in allgemeinbildenden (!) Schulen zeigen (vgl. Bildungsbericht 2014, 163). Dass neben der Wert-Gegenwertlogik und der Tendenz zur Kontrolle und Transformation von Werten in Zahlen, um zu verwerten – hier oft als Integration in die Leistungsgesellschaft bzw. Arbeitsmarkttauglichkeit –, auch Aspekte der Prävention, des Schutzes vor Überforderung oder Diskriminierung relevante Überlegungen sein können (vgl. z.B. Speck 2008, 367ff), sei zugestanden.

Deutlich ist dieses Problem auch im Zuge der Diskussion um die Dekategorisierung und damit der Einsicht geworden, wonach die Etablierung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs im Jahr 1994 zu einer Zunahme der Quote an behinderten Schülerinnen und Schüler führte (vgl. Bleidick 1999, 79). Wenngleich dieses Beispiel aus systemtheoretischer Perspektive gedeutet werden kann und als Anlass der Problematisierung des zu Reduzierungen neigenden Codes schulischer Institutionen dient, so wird doch deutlich, dass die Funktionen von Schule einer pädagogischen Kritik zu unterziehen wären. Die pädagogische Vernunft muss gerade hier im Kontext von Inklusiver Pädagogik bedient werden und zentrale Begriffe der Pädagogik wie ‚Bildung‘ oder ‚Erziehung‘ sowie entsprechende anthropologisch-ethische Überlegungen (vgl. etwa Wocken 2001) berücksichtigen. Mit Herbart (1807-09/1919, 556) liegt eine frühe pädagogische Schrift vor, die eben dieses Problem des Umgangs mit empirischer Verschiedenheit thematisiert, was sich im Sinne Bubers (1953/2005, 32) dialogischem Denken darauf hinwenden ließe, dass aller Anfang von Erziehung in der gleichen Anerkennung liegt.

Im Anschluss daran lässt sich die Frage, ob meine Tochter wesentlich ein Mensch mit ASS (Störung im Autismusspektrum), d.h. eine Autistin, ist oder eine Person mit spezifischen Fähigkeiten sowie Strategien und der gleichen Aufgabe an Erhaltung und Entfaltung, kann in diesem skizzierten Rahmen zugunsten der personalen Betrachtung entschieden werden. Dieses auch insbesondere deshalb, weil die Idee der Bildung nicht bloß auf das gleiche „Urrecht“ (Fichte 1796/1971, 94; zudem: 93ff) von Menschen verweist, sondern auch deutlich macht, dass die Inanspruchnahme selbst ein Akt der Menschlichkeit ist. Die ausbleibende Evidenz von Bildungsprozessen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen prinzipiell aktive Wesen sind und deren Selbstsorge sich letztlich als Weltsorge wenden lässt (Foucault 1984/2015a, 199ff, 210; 1984/2015b, 71f). Jeder Mensch ist insofern ein „Mosaiksteinchen“ der Gemeinschaft der Menschen (Frankl 1946/2013, 125) und im Anschluss an Plessner (1924/2015, 80ff, 102) notwendige Erfahrungsvielfalt, um im Übergang durch die „grundlosen Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens“ (ebd., 109) allmählich Gemeinschaften der Überzeugung bzw. des Geistes und der Kultur zu konstituieren.

Dieser Zusammenhang wird nachfolgend im Rahmen der beiden korrespondierenden Ideen der Person und Bildung erläutert und dabei der Bildsamkeit eine herausragende Bedeutsamkeit zuerkannt. Besonders vor dem Hintergrund jener immer wieder auftretenden Situationen pädagogischer Praxis, in denen Menschen in ihrer Artikulationsweise der Selbstbestimmung in der Interaktion mit Institutionen, Gemeinschaften und Personen Beschränkungen derart erfahren, dass ihnen die Fähigkeit zur Bildung und damit letztlich das Personsein abgesprochen oder dieses zumindest relativiert wird (vgl. ein frühes Dokument: Locke 1690/1981, 419ff ; aktueller: Singer 2013, bes. 290-298), zeigt sich die Bedeutung der Bildsamkeit im Konnex mit der „Weisheit des Taktes“ (Plessner 1924/2015, 109) in herausragender Weise. Dabei wird diese als spezifische Form eines pädagogischen Anerkennungsverhältnisses entfaltet und zugleich auf die Vorstellung des Menschen als Person verweisen. Als Grenzfragen werden in diesem Rahmen hier all jene verstanden, die auf Vorgänge der Begrenzung zum Schutze der Grenzüberschreitung hinweisen: Einmal im Sinne einer selbstgesetzten und notwendigen Beschränkung im Rahmen taktvoller[5] solidarischer Selbstbestimmung und zum Zweiten – mit Blicken auf den Anderen – vermittelt über dessen kontingente personale Zukunft.

2. Bildung als Relation von Personen

Bildung lässt sich verstehen als die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben zu gestalten fähig (vgl. Schneider 2016) bzw. „auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt“ (Bieri 2005, 1) sind. Schon in der Bildungstradition lässt dies sich als Dialektik von Nachformen und Gestalten verstehen und wird mit „imago“ und „forma“ (Grimm/ Grimm, DWB: Bd. 2, Sp. 22) bezeichnet. Dass neben dem aktiven Handeln i.S.v. gestalten und formen dem Sich-bilden (Heitger 2004, 21; Bieri 2005, 1f) ein negativer Aspekt des Widerstands, Leidens (vgl. Frost 2010; Fichte 1794, 137, 141f) und der Kontingenz (z.B. Bieri 2005, 6) hinzugehört, ist schon früh erkannt und in verschiedenen Lesarten von Bildungstheorie aufgegriffen worden (vgl. hier bes. Stern 1923a, 291-303).

Wie auch immer diese Verschränkung von Anpassung und Produktivität ausgedeutet wird, Bildung zeigt sich als Bezüglichkeit von Person(en) und Welt (Fichte 1796, § 3; Humboldt 1792/1960; Guardini 1939/1988; Petzelt 1957/1986; Dickopp 1983; Bieri 2005). In (gleicher) Form von „Umgriffensein und Umgreifen“ (Plessner 1928/1975, 303) sind Bezüge fundamental für Bildung und damit für den Übergang der Gestaltung in die Gestalt einer Person im Zuge ihrer Selbstbestimmung. Dieser Gedanke ist nicht neu und findet sich ganz prominent in Humboldts (1792/1960, 235f) Theorie der Bildung, in der es an einer Stelle dazu heißt: „Die letzte Aufgabe unseres Daseyns“ sei es, eine „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ herzustellen (siehe dazu auch Fichte 1796, 40). In Benners (2005, 43f) Allgemeiner Pädagogik zeigen sich diese Bezüge als leiblich, sprachlich, geschichtlich und freiheitlich vermittelt, deren einzige ‚Bestimmung‘ es tatsächlich ist, in menschlicher Praxis bestimmt zu werden; mit Hannah Arendt (1958/2014, 213-221): als Person(en) durch Handeln sichtbar zu sein.

Diesen Konnex von Person und Bildung als allgemeine Formgebung des Menschen, sieht auch Böhm (1995, 152), sodass Bildung die nicht-affirmative und transformatorische Arbeit der Person an ihrer Selbstbestimmung (vgl. Benner 2005, Kap. 3; Stern 1923b, Kap. 4) u.d.h. einer ihr immanenten – dennoch nicht starren (siehe dazu die „Idee der Tendenz“: Dewey 1925/2007, 350f) – inneren Zwecksetzung bedeutet. Schon Bieris (2005: 1) Formulierung im Konjunktiv – Wie wäre es gebildet zu sein? – deutet darauf hin, dass dieser Prozess unabschließbar ist, sich auch nicht als ‚Besitz‘ zeigen lässt und zudem den Charakter des Idealen[6] hat. Hier lässt sich an die Rousseausche Idee der „Perfektibilität“ (1754/2008, 103) des Menschen anknüpfen, die sich als Auftrag zur Selbstbestimmung artikuliert und sich denknotwendig aus der Distanzierung(sfähigkeit) von Personen – im Unterschied zum Tier – ergibt (vgl. ebd., 99-107). Dieses Distanzhalten nach Außen und Innen, ist dann auch die Bedingung der Möglichkeit sich zu bilden und charakteristisch für Personen: „(D)as Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft und auf Nichts gestellt“ (Plessner 1928/1975, 293).

Im Rekurs auf die anfangs aufgeworfenen Grenzfragen ergeben sich daraus schon erste Einsichten: Bildung verweist auf die Verschiedenheit der Menschen, die in deren Konkretisierung als Alterität unbewertet bleiben soll. Bieris (2005, 4f) Vorstellung von Bildung als das Erlernen der Sprache der Seele kann gemeinsam mit Plessners (1924/2015, Kap. 6) Überlegungen zur Bewahrung des Innersten einer Person im gesellschaftlichen Rahmen aufschlussreich sein. Hiernach verweist Bildung auf die „willige Geöffnetheit […] andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen“ (ebd., 107). Der  „wache Respekt vor der anderen Seele“ (ebd.) wie Plessner meint, ist das Distanzhalten von sich selbst, um über die Alterität eine eigene Form zu gewinnen.

Diese Einsicht hat auch Fichte (1796, 111-120) entfaltet und deutet diese gar als „Urrecht“, womit die empirische Verschiedenheit personaler Konkretion als ‚Ergebnis‘ prinzipiell gleicher Freiheit und Formgebung im Prozess gedeutet werden kann. Das heißt: Der Entwurf einer Person im Rahmen ihrer Praxis findet ihre notwendige Voraussetzung in genau der gleichen Freiheit einer anderen Person, die sich in institutionalisierten pädagogischen Praxen zudem als „für einander gleich“ (Plessner 1924/2015, 102, Hervorh. RS) zeigen. Menschen sind mithin unter der Perspektive der Bildungstheorie dialogisch verwoben (vgl. Buber 1923/2006; und haben die gleiche Chance sie selbst zu werden (vgl. Jaspers 1992, 324).[7] Darauf hat in dem hier betrachteten Zusammenhang – Bubers Wort aufgreifend – Feuser (2005, 117) früh hingewiesen, wenn er schreibt: „Der Mensch wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind!“

Eben dieser zweite Aspekt – das bildungstheoretische Apriori bzw. Regulativ – ist die Voraussetzung dafür, dass die menschliche Praxis als jene von Personen im Sinne der ‚Heterogenisierung‘ (anregend dazu: Cameron/ Kourabas 2013, 268f; auch: Budde 2012, 532) nicht zur Inhumanität mutiert. Wird dieser zweite Aspekt – Jaspers (1992, 323) „Raum der Freiheit“ – nicht berücksichtigt, so nimmt die Praxis inhumane Züge an und bildet „Fehlformen“ (vgl. Benner 2005, 32-44) aus.[8] Hier liegt nun auch der Angriffspunkt für die inklusionspädagogischen Überlegungen und ihr Korrektiv gegenüber einer Pädagogik, die der Logik der „Positivgesellschaft“ (Han 2015, 5; vgl. ebd., 5-17) verfällt. Deren Logik ist – vor dem Hintergrund der im einleitenden Abschnitt aufgeworfenen Grenzfragen – zu jener der Idee der Bildung nicht kompatibel: Nähe durch Distanz-halten, Entwickeln von Sinn durch Erzählen, Offenheit für den Anderen, Nichtaffirmation und Transformation durch die Singularität und Expressivität der Person, die Verschränkung von körperlicher und seelisch-geistiger Ebene, die sich der Empirie entzieht und keine Daten ‚produziert‘.

3. Person und Anerkennung

Menschliche Praxis, die nur mehr das Hervorbringen von Verschiedenheit oder Gleichheit fokussiert, ist der Gefahr ausgesetzt, ein Segment dieser menschlichen Vielfalt a priori höher zu bewerten als das andere und im Sinne der Verwertungslogik gewissermaßen daraus Kapital schlagen zu wollen. Mit der Idee der Bildung liegt die Einsicht in die prinzipiell gleiche Freiheit vor, die sich in Akten der Selbstbestimmung als überwiegend konservierende Erhaltung (Re-Aktion) und mehrheitlich progressive Entfaltung (Spontan-Aktion) nach Innen und Außen zeigt. Letztlich artikuliert sich Bildung sowohl in Gleichheit, als auch in Verschiedenheit. Eine weitere Gefahr besteht darin, zu vergessen, dass die freien Ichsetzungen der Personen interdependent aufeinander bezogen sind (vgl. Fichte 1796, § 3; Benner 2005, 71-90) und das Auflösen dieser Konvergenzen dazu führt, dass auch die eigene Freiheit implodiert.

Gesucht wird damit jener ‚Raum‘ der Alterität, der (je)des Du als ‚Anreiz‘ der Bestimmung eines Ich erscheinen lässt, sodass die empirisch sich zeigende Differenz zwischen zwei Personen, sich letztlich als egalitär und insofern in der Gleichheit ‚aufgehoben‘ zeigen kann (vgl. etwa Prengel 2006) oder gar als Ausdruck von Bezügen fluktuierend wird. Die Gleichheit dieser Formsetzung, im ersten Abschnitt als ‚Bildung‘ bezeichnet, geht als Rahmengebendes den jeweiligen Konkretionen der Praxis logisch voran.

Im Rahmen der Menschenrechte und der damit verwandten Metaphysik der Freiheit bzw. Person (vgl. Kobusch 1997) wird dieser ‚Ort‘ gleicher Anerkennung und Wertschätzung mit dem Begriff der Würde bezeichnet. Seit Kant (GMS, BA 65, Hervorh. RS) ist der Begriff für praktische Verhältnisse von Personen leitend: „weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern aller Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).“ Unter dieser Perspektive sind Menschen als Personen „nicht ähnlich, sondern gleich, und zwar eben darin, dass sie jeweils einmalig  und in ihrer Würde inkommensurabel sind“, schreibt Spaemann (2006, 196). Diese Idee der gleichen Würde findet sich in der Erklärung der Menschrechte (AEMR, Art. 1) und wird in personalistischen Theorien der Pädagogik immer wieder aufgegriffen – etwa bei Stern (1923a, 18): „Die Person hat Selbstzweck, die Sache Fremdzweck. […] Die Person ist nicht restlos ersetzbar (sie hat ‚Würde‘), die Sache ist restlos ersetzbar (sie hat einen ‚Preis‘).“ Jedoch: Im Kritischen Personalismus Sterns ist sowohl ‚Zweck-sein(-können)‘ als auch ‚Zwecke haben‘ notwendige Bedingung dafür, dass Selbstbestimmung möglich ist (Stern 1923a, 52; 1923b, 154f), sodass die Dichotomie von Person und Sache aufgehoben ist (siehe 1927, 20) und Personales vor und über der Spaltung von Person und Sache (als Geist-Stoff) verortet wird (Stern 1918, 10; 1924, 71).

Fichte (1796, § 3) deutet in diesem Rahmen menschliches Handeln als (freies) Zwecksetzen noch konsequenter als wechselseitiges Anerkennungsverhältnis: „Die Bedingung war, dass ich den anderen als vernünftiges Wesen (für ihn und für mich gültig) anerkennte, d.i. dass ich ihn als ein solches behandelte – denn nur Handeln ist ein solches gemeingültiges Anerkennen“ (ebd., 47). Personen sind damit in ihrer dialogischen Verwobenheit in den gleichen Anerkennungsraum gestellt (vgl. Spaemann 2006, 11), der der menschlichen Praxis als Regulativ und Fundament dient.[9] Anerkennung ist insofern zwar ein Apriori, gleichzeitig aber auch durch humane Praxis als kooperative Verwirklichung von Freiheitssphären (vgl. Honneth 1994, bes. Kap. 9) zu realisieren. Deutlich wird dies auch in Hegels (GPR, 98-101) Rechtsphilosophie, worin der hier angesprochene Anerkennungsraum der Person als Rechtsraum entwickelt wird.[10] Selbst dort wird aber auf die Aktuierung, m.a.W. die Aufgabe der Bestimmung, in der Praxis verwiesen: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ (ebd., 95).

„D(d)ie Einstimmigkeit zwischen Geist und Leben ist […] die Bürgschaft der menschlichen Würde“, schreibt Plessner (1924/2015, 131) und deutet damit an, dass Menschen ihr Leben als Personen führen müssen. Sie geben sich ihre Form in Verhältnissen der Wechselseitigkeit von Innen und Außen in Form des Sich-bildens. Diese werden in pädagogischen Praxen mitunter öffentlich verhandelt, sodass sich die Frage nach „Achtung der individuellen Form ihrer Persönlichkeit“ (ebd., 81) und damit nach Anerkennungsverhältnissen stellt. Wenn sich für die Idee der Person und deren Anerkennung zeigt, dass diese sowohl ein prinzipielles, für alle gleiches ‚Moment‘ (gleiche Würde der Person), als auch ein sich daraus speisendes zwecksetzendes und auf Verschiedenheit zielendes hat (Person als Werden und deren empirische Verschiedenheit), so muss diese Frage nun bildungstheoretisch gewendet werden. Welcher ‚Ort‘ ist jener, an dem die Person mit ihrer Würde ein pädagogisches Äquivalent findet? Und: ist dieses dann auch im Stande jene Situationen unter dem Aspekt der Bildung verstehend zu deuten, wenn empirische Evidenz ausbleibt? Kann dort die Verschiedenheit von Ich und Du in Alterität, d.h. auf Basis eines Wir und damit als in ‚Gleichheit‘ fundiert interpretiert werden?

4. Bildsamkeit als Anerkennungsverhältnis

Mit der Idee der Bildsamkeit liegt nach Böhm (1995, 153) der ‚missing link‘ zwischen Erziehung und Bildung vor, der als Anerkennung die Mitwirkung der Person an ihrer Bestimmung geradezu fordert (vgl. Benner 2005, 72). Die „Fiktion“ (Mollenhauer 2008, 102) der Bildsamkeit legt ein pädagogisches Verständnis nahe, das beschreibt wie aus Möglichkeit Wirklichkeit werden kann.[11] Insbesondere im Zusammenhang mit Inklusiver Pädagogik ist dieser Gedanke von Relevanz, wenn mit Integration der „Prozess der Transformation eines anerkennungsbasierten, auf gleichberechtigte und gleichwertige Teilhabe aller an Bildung für Alle orientierten, humanwissenschaftlich fundierten erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisstandes“ (Feuser 2013) als „pädagogische Praxis einer Allgemeinen Pädagogik“ (ebd.) beschrieben wird. Die „Zielsetzung und Realisierung“ (ebd.) wird dabei mit Inklusion bezeichnet und paraphrasiert den eben skizzierten Konnex von Potenz und Akt im Rahmen der Bildungsidee.

Mit Sterns Kritischem Personalismus liegt eine hervorragende Theorie vor, die Bildsamkeit als „chronische Konvergenzwirkung“ (Stern 1923b, 156) im Rahmen der Dispositionslehre verortet und als „Verwirklichungstendenz“ (Stern 1924, 84) in der Werttheorie deutet. Dispositionen sind dann einmal als Ursachen der Entelechie der Person zu verstehen. Zudem bedeutet dies, dass jedes Verhältnis von Personen notwendig als Bezug von Innen und Außen verstanden werden müsse (vgl. Stern 1923b, 99ff), dieser jedoch idiozentrisch[12] strukturiert ist (vgl. Stern 1924, 449ff). Die Bildsamkeit kann dann prinzipiell als gleiche Anlage – mit Stern als „Plastizität“ (vgl. Stern 1923b, 80) bzw. Fähigkeit zur Konvergenz und inneren Wendung des Äußeren (das meint Introzeption; vgl. Stern 1930, 61) – von Personen interpretiert werden – wenn auch mit verschiedenem ‚Ergebnis‘. Dass diese Verbindung von Bildsamkeit und Anerkennung als Bedingungen der Möglichkeit von personalem Handeln durchaus nahe liegt, wird durch Stern (1930, 99) selbst – wenn auch nur knapp – ausgewiesen.

Um das progressive Potenzial der Bildsamkeit im Rahmen des Stern´schen Personalismus zu verstehen, wird dessen Konzeption der Person aufgegriffen. Dieser Begriff der Bildsamkeit „ist nicht ein beliebiges Sich-Kneten- und Umformen-Lassen, sondern ist wirkliche Eigendisposition mit aller inneren Aktivität, ist ein Gerichtet- und Gerüstetsein, welches die Nachwirkungen aller empfangenen Eindrücke selbst zielmäßig auswählt, lenkt und gestaltet.[13] Auch da, wo der Mensch sein Wesen von der Welt dauernd beeinflussen lässt, ist und bleibt er doch immer Er selber“ (Stern 1923b, 158). William Sterns Begriff von Bildsamkeit ist nur vor dem Hintergrund der Zweiphasigkeit der Person zu verstehen. Gemäß seiner wissenschaftstheoretischen Positionierung als ‚konkreten Idealismus‘ (Stern 1927, 48) kann sein Verständnis von Bildsamkeit aber dem Ansinnen Herbarts (1835/1964, § 3f) und insofern dessen Begriff nahe stehend gelesen werden.

Personen bestimmen sich in Prozessen der Erhaltung bzw. Anpassung sowie in Formen der Entfaltung bzw. Selbsttätigkeit (vgl. Stern 1923a, 177ff, 256).[14] Ordnen sich Personen in ersteren – als konservierende Form – Fremdzwecken unter (d.h. werden versachlicht und lassen dies auch im Rahmen ihrer Bestimmung zu), so setzen sie in letzteren in Spontaneität und freier Produktion selbst Zwecke durch. Dieses Wechselspiel von Erhaltung und Entfaltung bzw. Mechanisation und Aktualisierung ist kennzeichnend für personale Prozesse (vgl. ebd., 173-177, 214ff) und findet ihre Entsprechung auch in der Theorie der Bildsamkeit (vgl. Stern 1923b, Kap. 5). Zudem können jene Momente der Selbstentfaltung nicht streng voneinander geschieden werden, weil diese Phasen auch als Wechselspiel von ‚bewusst-unbewusst‘ interpretiert werden müssen (vgl. Stern 1923a, 216). Entscheidend ist vor allem dieses: Beide Formen sind Artikulationen der Erhaltung eines Zweckganzen (vgl. Stern 1923a, 163), wobei die Erhaltung als „teleologische(s) Urphänomen“ (144) fungiert und Zeichen von Lebendigkeit ist (vgl. ebd., 276). Maturana (1994/2005, 27) schreibt in diesem Sinne lapidar, aber treffend: „Das Leben ist konservativ.“

Sämtliche Einflüsse und Maßnahmen erhalten „ihre Eichung erst durch die Beziehung auf die inneren Mittel der Anlagen, mit denen sie konvergieren sollen“ (Stern 1923b, 175). Dies gilt für erhaltende wie entfaltende Praxis gleichermaßen, sodass die Bildsamkeit selbst als Bezug von Innen und Außen gedeutet werden kann und Umwelt damit zur Verengung der Dispositionsfülle wird (vgl. Stern 1924, 82f; 1930, 101; dazu auch Benner 2005, 79). Bildsamkeit erscheint unter diesem Aspekt einmal homogenisierend-anpassend, das andere Mal entwerfend, je nachdem, ob deren Aktuierung insbesondere erhaltende oder entfaltende Zwecke verfolgt (vgl. Stern 1923b, 159-168), wobei diese Scheidung insbesondere heuristischen Charakter hat (Stern 1923a, 177).

Nun besteht auch gar keine Gefahr mehr, wenn im Anschluss an Mollenhauer (2008, 20f) Menschen als Personen Bildsamkeit unterstellt wird: „Wer sich dergestalt dem jungen Menschen zuwendet, unterstellt, dass dieser lernen kann; und nicht nur dies: er unterstellt, dass er sich auch bilden will, obwohl er häufig auf Hindernisse und Blockierungen stößt. Im Prinzip, so denkt der Erwachsene, und so wünscht das Kind, sind solche Hindernisse überwindbar.“ Im Sinne potenzieller Wirkungsfähigkeit ist die Bildsamkeit ständig für die Person gegeben, wenngleich diese auch scheinbar nicht aktualisiert wird. Denn aus der Struktur der Person (vgl. Stern 1930, Kap. 1) und deren Äquivalent in der Plastik (d.h. Bildsamkeit) lässt sich ableiten, dass die Evidenz von Bildung an Relationen zur Umwelt als Äußeres gebunden ist und zudem besonders Akte der Mechanisierung bzw. der erhaltenden Bildsamkeit schwer zu verifizieren sind. Als gleiches „Minimalprinzip“ (Stern 1923a, 358) von Personen ist die Erhaltung aber Verweis darauf, dass eine Person lebendig und als Ganzheit aktiv ist.

In diesem Sinne lässt sich also eine prinzipielle noumenale Seite der Bildsamkeit beschreiben, womit Bildsamkeit als Akt der Anerkennung jeweils schon im personalen Raum gegeben ist. Hier wird die Analogie zum prinzipiellen Aspekt von Person offensichtlich, sodass resümiert werden kann: Wenn Menschen die „anthropologische Zuschreibung“ (Seichter 2015, 178) ‚Person‘ zukommt, dann verweist dies auf einen interpersonalen und interdependenten Akt der Anerkennung, mit dem nicht nur das Personsein des Menschen unterstellt wird, sondern auch dessen Bildsamkeit (siehe z.B. Benner 2005, 72).  Mit Mollenhauer (2008, 102): „Erst der Vorgang ihrer Hervorbringung ist ein argumentationszugängliches Faktum. Vordem ist sie bloße Fiktion, aber eine notwendige, wenn Bildung überhaupt in Gang kommen soll; denn ohne diese Fiktion gäbe es auf seiten des Erziehers gar keine ernsthafte Anstrengung, an der Hervorbringung der Bildsamkeit mitzuwirken.“

Wie notwendig Bildungsprozesse als jene der Selbstbestimmung von Personen aber sind, ist zu Beginn mit Rousseaus (1754/2008, 103ff) Überlegung der Perfektibilität als Befähigung zur Bestimmung beschrieben worden und kann mit Plessners (1924/2015) Überlegung zum Takt gestützt werden. Dieser wird dort wirksam, wo es keine Alternativargumente gibt, sodass diesem letztlich der Rang einer „sittliche(n) Maxime“ (111) zukomme. Als diese sichert der Takt in institutionalisierter pädagogischer Praxis die Gleichheit der Personen „für einander“ (ebd., 102 – d.h. als Sternsche Zwecke) und leitet dadurch ein transformatives Miteinanderhandeln an, das sich – weil Bildung – wesentlich der Sprache der Seele bedient (vgl. Bieri 2005, 4f). Plessner (1924/2015, 107) bestimmt dazu: „Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die Bereitschaft, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens.“

5. Person als Reduktionsschutz

Im Anschluss an diese Überlegungen darf vermutet werden, dass sowohl die ‚Unterstellung‘ der Personalität, als auch jene der Bildsamkeit hervorragend dazu geeignet sind, um an Jakob Muths (1986, 24) Worte zu erinnern: „Integration ist unteilbar“. Gleichermaßen hat sich Oelkers (2012, 22) jüngst geäußert: „die Anliegen der allgemeinen Bildung […] (sind, RS) im Grundsatz nicht teilbar“, worauf früher schon Heitger (1995, 33) im hier diskutierten Kontext hingewiesen hat: „Bildung des Behinderten hat das gleiche Telos wie allgemeine Menschenbildung.“

Die einleitenden Impulse aufgreifend, wird mit Sterns Konzeption der Person und der Stellung der Bildsamkeit darin, eine angemessene Perspektive entwickelt, um bildungstheoretisch wider eine ausschließliche Anpassungspädagogik oder eine der Verwirklichung genauso zu argumentieren wie gegen eine Praxis der Evidenzbasiertheit oder Beliebigkeit. Jede Form des Denkens und Handelns, die die Person reduziert, ist aus dieser Perspektive zu negieren – unabhängig davon, ob Kinder und Jugendliche behindert werden oder nicht. Jene Form von Reduktion, die aus pädagogischer Perspektive legitim scheint, ist die Selbstbeschränkung, die sich auch als Bedingung der Möglichkeit des Anerkennungsverhältnisses ‚Bildsamkeit‘ und dem Prozess des Sich-bildens zeigte.

Und ein weiteres kann mit Sterns personaler Plastik gefolgert werden: Scheinbar ausbleibende Evidenzen von Bildungsprozessen müssen reflexiv immer auch auf die Relation eines Inneren zu einem Äußeren gewendet werden und der Blick sich insoweit öffnen, als Phasen der Latenz als mögliche Mechanisation und Anpassungsleistungen wahrgenommen werden, jedenfalls aber als Formen der Selbstbestimmung. Im Sinne der Negativität von Bildung als personaler Praxis kann Bildsamkeit als Referenz Pädagoginnen und Pädagogen daran erinnern, dass – frei nach Kafka – Wege durch Gehen entstehen und dieses Gehen jedenfalls auch Eigengesetzlichkeiten folgt.

Der kritische Personalismus lehrt die Einsicht, dass die Portionierung der Entfaltung einer Person in kleinere Zeitabschnitte immer das Ganze verkennen muss. Dieses sei zwar – so Stern (1923a, 193) – latent schon im Gegenwärtigen enthalten, aber „in jedem Moment der noch nicht realisierte Teil dieses Prozesses in der Form des Werdensollenden oder der Angelegtheit zu denken“ (ebd.). Dieses ergänzend kann mit John Deweys (1925/2007) „Idee der Tendenz“ (350) geschlossen werden: „Aber es kann auch eine Wahrnehmung von Bedeutungen enthalten, die flexibel eine Vorwärtsbewegung lenkt. Der Zweck ist dann beabsichtigter Zweck und wird auf jeder Stufe der Vorwärtsbewegung stetig und immer komplexer neu in Szene gesetzt. Er ist nicht länger ein Schlusspunkt, der den Bedingungen äußerlich ist, die zu ihm hingeführt haben; er ist die kontinuierliche, sich entwickelnde Bedeutung gegenwärtiger Tendenzen […]. Der Prozess ist Kunst, und sein Produkt, gleich auf welcher Stufe es betrachtet wird, ist ein Kunstwerk“ (ebd., 351).

Diese Überlegungen verdeutlichen, dass sämtliche Reduzierungen nach einem Pol menschlicher Selbstbestimmung – Re-Aktion oder Spontan-Aktion – ins Leere gehen müssen und zudem der Gesamtprozess nur aus einer inneren Logik der Person heraus zu verstehen ist. Verstehen meint dabei in einen Sinnhorizont rückend, was sich sowohl linearen Schlusssystemen wie Versuchen der mathematischen Berechnung von erwartbarem und dessen Bewertung als verwertbarem Verhalten entzieht. Mit der Vorstellung des Menschen als Person ist immer auch auf menschliches Handeln als Praxis des Hervorbringens verwiesen, welche keiner äußeren Bestimmung bedarf, dieser sich vielmehr sogar entsagt und nicht um des Verwertens Willen artikuliert wird.

Das Nachdenken über Bildsamkeit und deren Ort in einer Pädagogik der Person sowie ganz generell im Gefüge von menschlicher Praxis als Handeln und Denken und deren theoretischer Explikationen kann zur Einsicht führen, dass Pädagogik immer wertendes Stellungnehmen und damit Entscheiden bedeutet und dieses auch als anthropologisches Apriori setzt. Die Disposition zum Urteilen muss in pädagogischer Praxis – insbesondere und ausdrücklich der inklusiven – unterstellt und befördert werden. Als Fundament der Selbstbestimmung bedarf es dazu der Möglichkeit der freien Selbstbeschränkung in Anpassungsprozessen sowie der spontanaktiven Setzung eigener Zwecke. Kritisch – und dazu kann Bildsamkeit gleichermaßen wie die Idee der Person Korrektiv sein – müssen Praxisformen dann betrachtet werden, wenn sich Reduzierungen im Denken, Handeln und Wahrnehmen zeigen, die zur Auflösung der personalen Dialektik führen und Personen entweder keine eigenen Zwecke setzen oder nicht als ‚Zwecke‘ in Bezügen der Alterität wirksam werden können.

Bildsamkeit als Basis pädagogischer Anerkennungsverhältnisse löst Grenzfragen derart, dass sie Grenzen dort sprengt, wo Selbstbestimmung von außen reduziert wird und dies nicht in der Absicht erfolgt, den Prozess der Formgebung einer Person zu unterstützen. Grenzen werden aber darüberhinausgehend dann als notwendig auszuweisen sein, wenn diese aus der inneren Entscheidung einer Person heraus zur Ermöglichung der Selbstbestimmung eines Du beitragen können.

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[1]       Dies ist im Sinne Taylors (1985) starker Wertungen zu verstehen, die – anders als momentane Wünsche – unsere moralische Topografie prägen, weil diese Fragen nach dem guten Leben in Gemeinsamkeit aufwerfen.

[2]       Dazu Arendt (1958/2014, 231f): „Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biografie; was immer wir sonst von ihm wissen mögen und von den Werken, deren Verfasser er ist, kann uns höchstens darüber belehren, was er ist oder war.“ Gleichwohl entsteht die Geschichte einer Person erst im Schreiben: m.a.W. wird diese „handelnd dargestellt und erlitten“ (ebd., 227), dennoch hat sie „niemand […] ersonnen“ (ebd.).

[3]       Siehe dazu das frühe Dokument in Platons (Pol) „Höhlengleichnis“, das dieses durchaus verdeutlichen kann. Zwar führt der Aufstieg aus dem Leben in Täuschung zunächst zur freiwilligen – aber nicht folgenlosen – Rückkehr (516e) sowie zum scheinbaren Triumph der in der Höhle Gebliebenen (517a). Die Anstrengung der Lösung von der Routine und Sicherheit (515d, e) aber, sowie jene der Gewöhnung eines Lebens ohne Täuschung (516a) – so erfährt die Leserin und der Leser – lohnen sich (518a), weil die Täuschung andernfalls nicht einmal als eben diese erkannt werden kann (517b,c).

[4]       Jüngst hat Rödler (2017, 91) erneut darauf aufmerksam gemacht und – vor dem Hintergrund existenter allgemein- und sonderpädagogischer Theorien – den schönen Satz geschrieben: „Für die Inklusion muss sich die Allgemeine Pädagogik ändern!“

[5]       Das meint hier insbesondere auch Distanz halten, um Übergriffigkeit zu vermeiden.

[6]       Dass dieses aber nicht hinderlich, sondern deren fiktionaler Gehalt gewissermaßen den Motor der Formgebung von Menschen darstellt, hat Plessner (1928/1975, 337f; auch: 1924/2015, 75f) nicht zuletzt in seinen Überlegungen zur Expressivität des Menschen dargelegt.

[7]       Zudem kann Walzer (2006, Kap. 11) zeigen, dass eine komplexe Gleichheit in der Sphäre der Anerkennung zu verschieden ausgeprägter Wertschätzung führen kann, ohne aber Personen grundsätzlich ein angemessenes Maß an Achtung zu verwehren.

[8]       Anschließend an Plessner darf gefolgert werden, dass dieser gleiche Raum der Freiheit jedoch in der pädagogischen Praxis in Institutionen über die Fiktion der Gleichheit „für einander“ (102) vermittelt wird „während in Wirklichkeit jeder von dem anderen verschieden ist“ (ebd.). Diese Erfahrung ermöglicht es dann aber in Formen der Geist- und Kulturgemeinschaft (Mitwelt des Wir: vgl. Plessner 1928/1975, 302f) auf Basis geteilter Überzeugungen die Gleichheit der Anerkennung und Würde zu erfahren (vgl. Plessner 1924/2015, 103, 108).

[9]       Hier ist nun auch der ›Ort‹, an dem Anerkennung sich als Bildsamkeit entwickeln lässt (anregend dazu Benner 2005, 72).

[10]     Hegel (PG, 143-147) konzipiert ‚Anerkennung‘ als jenen Modus von Erkenntnis, in welchem ein Ich sich als Ich und als Beziehung in Form von Selbstbewusstsein zu erkennen vermag, was an ein Ringen mit einem von ihm fremden Bewusstsein gebunden ist.

[11]     Im Anschluss an Flores d’Arcais (1991, 113ff) meint ‚Möglichkeit‘ die „unbestimmte und theoretisch unbestimmbare Zukunft“ (114), die mit einer angemessenen Praxis zusammenfallen müsse, um so mittels Formgebung allmählich Festigkeit zu erlangen.

[12]     Z.B. als Berufung eines Menschen: „Berufung ist die Soll-Struktur eines Ich, wie sie herauswächst aus der Ist-Struktur“ (ebd., 450).

[13]     Siehe dazu die korrespondierenden Überlegungen Plessners (1924/2015, 108) im Rahmen des Zusammenhangs von taktvollem Umgang und Schutz der Würde im öffentlichen Raum.

[14]     Durchaus verwandt dazu sind der Konnex von Welt- und Denktätigkeit und damit die komplexe Verschränkung von Denken und Handeln als Praxisformen bei Benner (2005, 84-91).