Myriam Hummel: Die Entwicklung inklusiver Bildung in Malawi: zwischen makro-politischer Deklaration und lokaler Umsetzung

Abstract: Inklusive Bildung wird im Rahmen von internationalen Konventionen und Zielvorgaben derzeit, geleitet von einem globalen Diskurs, in vielen unterschiedlichen Ländern umgesetzt. In diesem Beitrag werden empirische Befunde aus einem qualitativen, mehr-perspektivisch angelegten Forschungsprojekt unter einer Governance-theoretischen Perspektive dargestellt. Die Autorin stellt die Rekontextualisierung des Konzepts der inklusiven Bildung in Malawi auf den jeweiligen Ebenen des Bildungssystems dar und leitet daraus die besondere Bedeutung der Mikro-Ebene in der Umsetzung von pädagogischen Reformen ab im gegebenen Kontext ab.

Stichworte: Inklusive Bildung; Rekontextualisierung; Entwicklungsländer; Entwicklungszusammenarbeit; Malawi

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Das Forschungsdesign
  3. Inklusive Bildung im Mehrebenensystem: eine theoretische Kontextualisierung
  4. Darstellung ausgewählter Forschungsbefunde aus Malawi
  5. Perspektiven in der Umsetzung von inklusiver Bildung
  6. Literatur

 

1. Einleitung

Inklusive Bildung wurde bereits vor fast 20 Jahren als globale Agenda betitelt (Pijl et al., 1997). Artiles und Dyson (2005, S. 37) beschreiben das Spannungsverhältnis von inklusiver Bildung durch globale und regionale Diskurse. Im globalen Diskurs wird inklusive Bildung als internationale Bewegung bezeichnet, die einerseits weltweit die nationale Politikgestaltung beeinflusst, andererseits getragen wird von internationalen Abkommen (vorrangig Salamanca-Deklaration 1994) und Organisationen (wie UNESCO, aber auch internationale Nichtregierungsorganisationen). Der regionale Diskurs wird in unterschiedlichen lokalen Kontexten umgesetzt, dies gilt auch für sogenannte Entwicklungsländer[1]. Dabei werden Ansprüche und Konzepte von inklusiver Bildung aus den sogenannten Industrieländern scheinbar direkt importiert. Im Folgenden werden Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojektes vorgestellt, wobei insbesondere auf Grundlage der Forschungsperspektive der Educational Governance die Bedingungen der Umsetzung von Inklusion in der Mehrebenenarchitektur des Bildungssystems in Malawi näher beleuchtet werden.

2. Das Forschungsdesign

Das 14-monatige Forschungsvorhaben Research for Inclusive Education in International Cooperation[2] setzte sich zum Ziel ein Verständnis über die Entwicklung von inklusiven Bildungssystemen in sogenannten Entwicklungsländern zu erhalten. Insgesamt zielte das Projekt auf die Identifikation institutioneller Handlungsmuster ab, welche dazu beitragen können inklusive Bildungsprozesse zu fördern und beeinträchtigende Bedingungen zu minimieren.
Bei dem Forschungsprojekt stand die angewandte Forschung im Mittelpunkt. Diese Forschungsorientierung zeichnet sich dadurch aus, dass neue Erkenntnisse gewonnen werden, um konkrete praktische Handlungsperspektiven für die Lösung aktueller Probleme zu entwickeln (Walker, 1985). Ziel war es, aufzuzeigen, ob, wo und wie etwas verändert werden kann, um die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung von inklusiver Bildung in Malawi und Guatemala zu erhöhen. Die Zielsetzung war zunächst eine möglichst genaue, dichte und mehrperspektivisch fundierte Beschreibung der Sichtweisen der beteiligten Subjekte und ihrer subjektiven und sozialen Konstruktionen von benachteiligten Gruppen und inklusiver Bildung. Darauf aufbauend wurden die Differenzen und Übereinstimmungen der beteiligten Personengruppen innerhalb und zwischen den unterschiedlichen Systemebenen identifiziert . Darüber hinaus ging es darum, die hinter den Beschreibungen liegenden Begründungsmuster für spezifische Einstellungen, Perspektiven und Handlungsoptionen bzw. Handlungseinschränkungen zu untersuchen.
Die übergeordneten Forschungsfragen des Vorhabens waren:

Die spezifischen Forschungsfragen orientierten sich an den vier Dimensionen von inklusiver Bildung: Zugang, Akzeptanz, soziale Partizipation und Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung (Booth et al., 2000; Kalambouka et al., 2005). Vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Zeit und Mittel fokussierte sich das Forschungsvorhaben auf die ersten drei Dimensionen.
Das Forschungsdesign war qualitativ und mehrperspektivisch angelegt und versuchte Makro-, Meso- und Mikroebenen zu verbinden. Nach den Annahmen des Paradigmas einer konstruktivistischen Methodologie prägt dabei nicht nur die theoretische Bestimmung des Gegenstandes, was beobachtet werden kann und wie das Forschungsdesign angelegt wird (Graue & Hawkins, 2005, S. 45), sondern der Gegenstand selbst wird in einem Wechselwirkungsprozess durch die verwendeten Methoden (mit-)konstituiert (vgl. Flick, 1999).
Diverse Methoden der Datenerhebung wurden angewendet:

Die gesamte Datenbasis umfasst insgesamt ca. 245 Transkripte von Interviews, Gruppendiskussionen und Feldnotizen. In Anlehnung an das thematische Kodieren nach Flick (1996; 2004) und unter Einsatz von Techniken des offenen Kodierens nach Strauss (1994; Strauss & Corbin, 1996) wurden zunächst die einzelnen zuvor transkribierten und übersetzten Gruppendiskussionen, Interviews sowie die Beobachtungs- und Feldnotizen unter Nutzung von QDA-Software ausgewertet. Dieser Auswertungsprozess wurde durch einen vorab entwickelten Kodebaum vorstrukturiert, der während des Auswertungsprozesses angepasst und erweitert wurde.  
Die Datenerhebung und -analyse wurde durch ein nationales Forschungsteam in Guatemala und eins in Malawi in Kooperation mit internationalen Forscherinnen und Forschern durchgeführt[3]. Um der Diversität der Bevölkerung beider Länder, die für die Forschungsergebnisse eine elementare Bedeutung spielt, Rechnung zu tragen, wurde in der personellen Zusammensetzung der Forschungsteams auf Diversität hinsichtlich ethnische Zugehörigkeit, Sprachkenntnisse und Geschlecht geachtet. Die erhobenen Daten aus Interviews und Gruppendiskussionen verfügen über eine besondere Qualität, da Interviewende und Interviewte sich derselben sprachlichen und kulturellen Gruppe zugehörig fühlten, sodass u.a. die Teilnehmenden der Studie in ihrer Erstsprache sprechen konnten. Zugleich stellte der Aspekt Sprache eine erhebliche Herausforderung für dieses Projekt dar (Mertens, 2009). Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des gesamten Forschungsteams verfügten über unterschiedliche Erstsprachen, sodass auf Englisch als Sprache für die allgemeine Projektkommunikation zurückgegriffen wurde, obwohl diese häufig nur Zweit- oder Drittsprache der beteiligten Personen war. Die Daten wurden aus lokalen Sprachen (z.B. Chichewa, K’iche’, Kaqchikel) von den beiden nationalen Forschungsteams ins Englische bzw. Spanische übersetzt. Daher musste jede Forscherin und jeder Forscher sorgfältig die eigene Interpretation der Daten und der spezifischen Konzepte überprüfen und ein tiefgreifendes Verständnis der umfassenden kulturellen Implikationen des Sprachgebrauchs entwickeln.
In diesem Beitrag werden die Forschungsergebnisse aus Malawi aus einer Governance-theoretischen Perspektive dargestellt. Die Darstellung und Zusammenführung der Ergebnisse beider Länder würde diesen Rahmen sprengen und erfolgt unter unterschiedlicher Fokussierung an anderer Stelle (Werning et al., i.E.).
Malawi ist in Bezug auf seine Bevölkerung und Landesgröße eine verhältnismäßig kleine Nation im südlichen Afrika. Die Unabhängigkeit von Großbritannien erreichte das Land mit vorwiegend friedlichen Mitteln 1964 (Dickovick, 2014). Auf dem 174. Platz von insgesamt 187 Ländern des Index der menschlichen Entwicklung (United Nations Development Programme, 2014, S. 159ff) zählt Malawi zu den ärmsten Ländern. Malawi ist ein Agrarland mit einem sehr hohen Anteil der Bevölkerung, der im ländlichen Raum lebt. Die Bevölkerung setzt sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, die insgesamt mindestens neun verschiedene Sprachen sprechen (Dickovick, 2014).
In Malawi umfasst eine abgeschlossene Primarschulbildung acht Jahre. In den staatlichen Primarschulen wurden 1994 Schulgebühren abgeschafft, was in einem enormen Anstieg der Einschulungsquoten resultierte (Inoue & Oketch, 2008). Die Unterrichtssprache ist in den ersten vier Klassenstufen Chichewa. In den darauffolgenden Klassenstufen wird auf Englisch unterrichtet. Wie im restlichen Sub-Sahara Afrika stellt eine hohe Schulabbrecher-Quote ein Hauptproblem im Bildungssektor dar: nur 31% der eingeschulten Erstklässler verbleiben in der Schule bis zur achten Jahrgangsstufe (Ministry of Education, Science and Technology, 2013, S. 21).

3. Inklusive Bildung im Mehrebenensystem: eine theoretische Kontextualisierung

Die Educational Governance-Perspektive betrachtet komplexe soziale Systeme, wie das Bildungssystem eines jeweiligen Landes, als Mehrebenensysteme und thematisiert insbesondere Fragen der grenzüberschreitenden Koordination zwischen den Systemebenen (Altrichter & Maag Merki, 2010, S. 24f). Die Fokussierung auf die Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteuren innerhalb einer Ebene und zwischen verschiedenen Ebenen stellt einen elementaren Forschungsansatz der Governance-Forschung dar. Das Konzept des Mehrebenensystems ermöglicht „einen auf Akteure und Institutionen bezogenen Analyserahmen zu entwerfen, mit dem sich die Interdependenz, die Interdependenzbewältigung und das Interdependenzmanagement der Akteure studieren lässt“ (Kussau & Brüsemeister, 2007, S. 32). Die genaue Fassung der einzelnen Ebenen in Bildungssystemen wird im Fachdiskurs derzeit verschiedentlich vorgenommen (vgl. Altrichter & Maag Merki, 2010, S. 25). In diesem Forschungsvorhaben wurde mit der Makro-Ebene die nationale Ebene, mit der Meso-Ebene die Ebene der Distriktverwaltung und der Mikro-Ebene die einzelne Schule inklusive der sie umgebenden „Community“ bezeichnet.

In der Betrachtung des Bildungssystems als Mehrebenensystems wird deutlich, dass auch die Umsetzung von inklusiver Bildung auf den diversen Ebenen des Bildungssystems stattfindet. Hierdurch erhalten die Akteure auf jeder Ebene eigene Handlungsperspektiven und aktive Gestaltungsmöglichkeiten. Jede Ebene hat dabei zum einen „den Blick nach oben“, der spezifische Vorgaben, Regularien aber auch Erwartungen umfasst; zum anderen betrachtet jede Ebene die nachfolgende, um spezifische Auswirkungen des eigenen Handelns zu antizipieren. Vorgaben werden somit auf keiner Ebene einfach übernommen. Jede Ebene adaptiert vielmehr die Vorgaben der jeweilig nächst höheren Ebene und passt diese aktiv an die eigenen Kontextbedingungen an. Das Konzept der Rekontextualisierung (Fend, 2008, S. 26) stellt damit heraus, dass auf den Ebenen – abhängig von den jeweiligen Umweltbedingungen – spezifische Handlungsperspektiven entstehen, die auf divergenten Handlungslogiken, Werthierarchien, „Sprachen“ und Aufmerksamkeitsprioritäten der jeweiligen Ebene beruhen (Altrichter & Maag Merki 2010, S. 25) und spezifische Kompetenzen, Handlungsinstrumente, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten mit sich bringen .
Fend präzisiert das Rekontextualisierungskonzept anhand fünf Definitionsmerkmalen (vgl. Fend, 2008, S. 27), welche hier auf die Einführung inklusiver Bildung bezogen werden:

4. Darstellung ausgewählter Forschungsbefunde aus Malawi

Die Republik Malawi hat alle relevanten UN-Konventionen wie das Übereinkommen über die Rechte des Kindes und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet und ratifiziert (United Nations Treaty Collection, o.D.a, United Nations Treaty Collection, o.D.b). Die durchgeführte Dokumentenanalyse hat gezeigt, dass die legislativen Voraussetzungen in Malawi das Recht auf Bildung für alle regeln und somit einen adäquaten Rahmen für die Umsetzung von inklusiver Bildung bilden. Darüber hinaus zeigt sich in den relevanten Politikpapieren ein Verständnis von unterschiedlichen existierenden Dimensionen der Benachteiligung, vorrangig in Bezug auf den Zugang zu formaler Bildung. Im aktuellen nationalen Plan für den Bildungssektor Malawis werden z.B. Maßnahmen besonders für jene, die aufgrund von Geschlecht, Armut, besonderen Bedürfnissen und geographischer Lage benachteiligt sind, formuliert (Ministry of Education, Science and Technology, 2008, S. 12).
Durch die Auswertung der malawischen Politikpapiere wird deutlich, dass ein uneinheitliches und unklares Konzept von inklusiver Bildung existiert (Research for Inclusive Education in International Cooperation, 2015). Die Begrifflichkeit der inklusiven Bildung wird in mehreren Papieren verwendet, allerdings umschreibt sie meist ein traditionelles sonderpädagogisches Verständnis, das auf ein medizinisches, defizitäres Modell von Behinderung begründet ist. So ist das Gros der erwähnten Umsetzungsmaßnahmen auf Menschen mit körperlicher Behinderung, gehörlose und blinde Menschen ausgerichtet und umfasst vorrangig die Ausstattung mit medizinischen und technischen Hilfsmitteln, wie z.B. Mobilitätshilfen, Materialien in Braille, Verwendung von Gebärdensprache (Ministry of Education, 2009, S. 8). Ein Verständnis für unterschiedliche Benachteiligungsdimensionen – jenseits von Behinderung und sonderpädagogischem Förderbedarf –, die zu Exklusion in Bezug auf formale Bildung führen können (wie Geschlecht, Armut und geografische Lage), wird in den Politikpapieren deutlich, jedoch werden diese Aspekte nicht unter dem Begriff und dem Konzept von inklusiver Bildung gefasst.
Die durchgeführten Gruppendiskussionen mit verschiedenen Akteuren der Makro-Ebene zeigen, dass auch zwischen den unterschiedlichen Teilnehmenden der Studie das Verständnis von inklusiver Bildung stark variiert. Manche Studienteilnehmerinnen oder -teilnehmer lassen ein breites Verständnis von inklusiver Bildung im Sinne einer Reduzierung von Barrieren in Bezug auf Bildung für alle Kinder erkennen; wohingegen andere den Begriff inklusive Bildung verwenden, um einen sonderpädagogischen Ansatz der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung zu beschreiben.
Die Rekontextualisierung des globalen Diskurses über inklusive Bildung findet auf makro-politischer Ebene in Malawi vorrangig in einer terminologischen Weise statt. Die auf internationaler Ebene verwendete Fachterminologie wird übernommen, ohne eigene, kritische konzeptionelle Auseinandersetzung, ohne Anpassung auf den nationalen Kontext und ohne die Definition von konkreten Schritten der Umsetzung auf den untergeordneten Ebenen. Das Bemühen der nationalen politikgestaltenden Akteure könnte als Versuch internationale Vorgaben zu erfüllen verstanden werden. Das Bemühen und vielleicht auch die Notwendigkeit, internationale Vorgaben aufzugreifen und in bestehende nationale Entwicklungspläne zu integrieren, kann in den Anforderungen der Geberländern der Entwicklungszusammenarbeit begründet liegen. Der Blick der Makro-Ebene scheint stärker nach oben auf die internationale Ebene als auf die unteren lokalen Ebenen ausgerichtet zu sein.
Die Meso-Ebene ist in Malawi in einer diffizilen Situation. Auf der einen Seite mit „Blick nach oben“ sind die Herausforderungen sehr anspruchsvoll, denn inklusive Bildung stellt hohe Anforderung an die Entwicklung von Schulen. Gleichzeitig sind die auf Makro-Ebene formulierten Ziele eher unspezifisch gehalten und geben keine konkreten Handlungsperspektiven für die nachfolgenden Ebenen vor. Wenn die Akteure der Meso-Ebene „nach unten“ blicken, erkennen sie die konkreten Schwierigkeiten auf der lokalen Ebene. Da sie selbst über wenig oder keine Ressourcen verfügen, können sie nur begrenzt Entwicklungen anregen und umsetzen und verharren in einer verwaltenden Funktion. Viele Akteure der Meso-Ebene in Malawi beschreiben sich selbst im System als nahezu handlungsunfähig. In einzelnen Regionen werden zwar innovative Ansätze angestrebt, diese scheitern jedoch häufig an einer überwältigenden Ressourcenknappheit. Das Auseinanderklaffen von abstrakten und gleichzeitig sehr anspruchsvollen Zielvorgaben und den eingeschränkten konkreten Handlungsmöglichkeiten führt hier meist zu einer schwierigen „Sandwichposition“ der Akteure der Meso-Ebene.
Die Akteure auf der Mikro-Ebene sind mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Der überwältigende Mangel an Ressourcen (personell, finanziell, materiell) wird in den Schulen besonders deutlich und betrifft die Bildungsqualität aller Kinder in Malawi. Durchschnittlich kommen nach Angaben des malawischen Bildungsministeriums in der Primarschule in Malawi auf einen Lehrer oder eine Lehrerin derzeit 69 Schülerinnen und Schüler (Ministry of Education, Science and Technology Malawi, 2013, S. 19). Durch die teilnehmenden Beobachtungen der Studie wurden Klassengrößen von bis zu 160 Schülerinnen und Schülern dokumentiert. Aus der Sicht der Lehrkräfte bildet die hohe Klassengröße eine zentrale Herausforderung in ihrer Arbeit. Zudem sind die Klassen in Malawi durch eine hohe Heterogenität geprägt. Ein Aspekt der Heterogenität betrifft das Alter der Schülerinnen und Schüler in einer Lerngruppe. Daten des Bildungsministeriums belegen, dass im Schuljahr 2012/13 in der ersten Klasse der Primarschule Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 4 und 17 Jahren waren (ebd., S. 36).
Die durch die Studie identifizierten Barrieren sind auf den verschiedenen Ebenen des malawischen Bildungssystems sehr ähnlich und umfassen vorrangig ein diffuses und uneinheitliches Verständnis von inklusiver Bildung und eine enorme Ressourcenknappheit. Die auf den jeweiligen Ebenen identifizierten Erfolgsfaktoren und Chancen hingegen variieren zwischen den Ebenen. Auch im horizontalen Vergleich der Erfolgsfaktoren innerhalb der Mikro-Ebene werden Unterschiede in den Erfolgsfaktoren der einzelnen Fallstudien deutlich. Einige Fälle von innovativer Problemlösung und einem Einsatz weit über die beruflichen Anforderungen hinaus konnten auf der Mikro-Ebene bei einzelnen Akteuren identifiziert werden. So gibt es einige Lehrkräfte, die für die herausfordernde Unterrichtssituation in großen, heterogenen Klassen mit mangelhafter materieller Ausstattung eigene innovative Unterrichtsmethoden und Präsentationsform entwickeln oder einzelne Kinder nach der Unterrichtszeit zusätzlich individuell fördern. Einen weiteren Erfolgsfaktor bilden die sogenannten Mother bzw. Father Groups (lose organisierte Gruppen von Erwachsenen aus der die Schule umgebenden „Community“), die verantwortlich Schulspeisungsprogramme unterhalten oder ehrenamtlich Reparatur- oder Bauarbeiten an der Schule vornehmen. Mädchen und junge Frauen, die aufgrund einer frühen Heirat oder Schwangerschaft den Schulbesuch abgebrochen haben, werden durch Mother Groups ermutigt und unterstützt den Schulbesuch fortzusetzen.
Die Forschungsergebnisse zeigen, wie von verschiedenen Akteuren auf Mikro-Ebene trotz der herausfordernden Kontextbedingungen Handlungsansätze entwickelt werden, die insbesondere benachteiligte Schülerinnen und Schüler adressieren und deren Verbleib im Bildungssystem und Lernentwicklung fördern. Diese Maßnahmen sind aus der unmittelbaren Notwendigkeit im jeweiligen lokalen Kontext entstanden und summieren sich in der Wahrnehmung der Akteure nicht unter der Terminologie ‚inklusive Bildung‘. In ihren Effekten tragen diese Handlungsansätze jedoch bezogen auf die zentralen Dimensionen Zugang, Akzeptanz, Partizipation und Lern- und Leistungsentwicklung (Booth et al., 2000; Kalambouka et al., 2005) zu einer Umsetzung von inklusiver Bildung im genannten Sinne bei. Durch die Forschungsergebnisse wird deutlich, dass der Mikro-Ebene eine besondere Bedeutung in der Umsetzung von pädagogischen Innovationen wie der inklusiven Bildung zukommt.

5. Perspektiven in der Umsetzung von inklusiver Bildung

Rolff beschreibt die Einzelschule als die Gestaltungseinheit und den entscheidenden Motor von Schulentwicklung (2006); eine Wahrnehmung, die sich auch in den Forschungsergebnissen von Malawi widerspiegelt. Unter Bezugnahme auf verschiedene Implementationsstudien hat Rolff (2006, S. 43) vier Gründe aufgeführt, warum zentral verordnete Interventionsstrategien scheitern:

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Mehrebenendiskurses über die Umsetzung von inklusiver Bildung in Malawi. Unter der Beteiligung aller Ebenen des Bildungssystems sollten Kriterien, wie eine inklusive Schule und ein inklusiver Unterricht aussehen sollen, bestimmt werden. Das Konzept von inklusiver Bildung muss klar gefasst werden. Übergeordnete Ziele, die im Falle von inklusiver Bildung unspezifisch und hoch sind, können so konkretisiert werden. Auf der Meso- und Mikro-Ebene muss eine Analyse der bestehenden Bedingungen vorgenommen werden. Ein wesentlicher Schritt besteht dann in der Festlegung realistischer Ziele für Schulentwicklungsprozesse, die unter den gegebenen Bedingungen sinnvoll und praktikabel erscheinen.

Um überhöhte Ziele im Diskurs über die Umsetzung von inklusiver Bildung zu vermeiden, sollte Inklusion – nicht nur in Malawi – weniger als Ziel, d.h. als idealer Status, den es zu erreichen gilt, betrachtet werden, statt als Prozess der Reflexion und Schulentwicklung. Das Konzept der inklusiven Bildung kann als kritische Reflexionsfolie dienen, durch die die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler anerkannt, wertgeschätzt und bewusst im Unterrichtsprozess eingesetzt wird. Inklusion als Aufgabe der Minimierung von Diskriminierung und Maximierung von Zugang, Akzeptanz, Partizipation und Lern- und Leistungsentwicklung setzt somit den Fokus auf das System. In diesem Verständnis kann Inklusion als eine zielführende Perspektive angesehen werden, auch für sogenannte Entwicklungsländer wie Malawi.


6. Literatur

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[1] Die Kategorisierung von Ländern als „entwickelt“ oder „unter-entwickelt“ ist höchst problematisch. Daraus resultieren Fragen nach der Definition und Messung von „Entwicklung“ und der damit verbundenen Deutungshoheit. Terminologische Alternativen, um die Ungleichheiten zwischen Ländern der Welt zu beschreiben, sind ebenfalls ungenügend (Werning et al., i.E.). Daher wird weiterhin der Begriff „Entwicklungsland“ unter Berücksichtigung der damit verbundenen Einschränkungen genutzt.

[2] Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) führte die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kooperation mit dem Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover und GOPA Consultants das Forschungsvorhaben Inklusive Bildung durch.

[3] Mitglieder des Forschungsteams Guatemala: Marta Caballeros, Héctor Canto, Magaly Menéndez, Cristina Perdomo, Gerson Sontay. Mitglieder des Forschungsteams Malawi: Dr. Grace Mwinimudzi Chiuye, Anderson Chikumbutso Moyo, Evance Charlie, Dr. Elizabeth Tikondwe Kamchedzera, Lizzie Chiwaula. Internationale Forscherinnen und Forscher: Prof. Dr. Rolf Werning, Myriam Hummel, Prof. Alfredo Artiles, Prof. Petra Engelbrecht, Antje Rothe.