Abstract: Im theoretischen Teil dieses Beitrages stellen wir einige grundlegende Überlegungen für das Begleiten und Gestalten inklusiver Veränderungs- und Entwicklungsprozesse vor. Im zweiten Teil widmen wir uns einem Praxisbeispiel und legen den Fokus auf den Beginn einer externen Prozessbegleitung mit dem Index für Inklusion.
Stichworte: Prozessbegleitung für Institutionen auf dem inklusiven Weg, Praxisbeispiel, Wie beginnen wir den inklusiven Weg?
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung: Bevor der Beginn einer Organisationsentwicklung exemplarisch dargestellt wird, beschreiben wir einige grundlegende Überlegungen bezüglich notwendiger Bedingungen für das Gelingen inklusiver Entwicklungsprojekte. Für ein ausgewogenes Ausbalancieren von Inklusion als Referenzrahmen und lokaler Organisationsentwicklung vor Ort erachten wir aufgrund der Erfahrung mit der Arbeit mit dem Index für Inklusion folgende Größen für wesentlich:
Dabei soll, unabhängig von den vor Ort so unterschiedlich agierenden Bildungseinrichtungen, ein Ideal beschrieben werden. Die folgenden Ausführungen sind dementsprechend als idealtypische Forderungen zu verstehen.
Aus der Seefahrt kennen wir den Begriff des Lotsen. Das Wort ‚Lotse’ kommt aus dem Englischen von ‚loadsman’ und das heißt so viel wie ‚Geleitsmann’. Die Hauptaufgabe der Lotsen ist der Schutz von Menschen, Schiffen und Umwelt, sowie die Unterstützung einer effizienten Verkehrsführung auf den Wasserstraßen und in den Häfen. Seelotse ist, wer Schiffe berufsmäßig auf Seeschifffahrtstraßen außerhalb der Häfen oder über See als orts- und schifffahrtskundige_r Berater_in geleitet. Er/sie gehört nicht zur Schiffsbesatzung. Mit dieser Definition wird klargestellt, dass ein Lotse nur Berater_in ist, also nicht die Führung des Schiffes selbst übernimmt. Ein Lotse ist in der Seefahrt meist ein_e Praktiker_in mit langjähriger Erfahrung. Untiefen, stetig wechselnde Strömungen und andere Ereignisse wie etwa Nebel, allgemeine Hindernisse und der übrige Schiffsverkehr beeinflussen die sichere Führung eines Schiffes. Ein Lotse kennt bestimmte Reviere so gut, dass er/sie dabei helfen kann, Schiffe mit ihren Mannschaften und Ladungen zuverlässig zum Zielort zu bringen. In vielen Gewässern der Welt ist die Unterstützung durch einen Lotsen vorgeschrieben.
Im Bildungsbereich übernehmen externe Prozessbegleiter_innen die Aufgabe des sicheren und ‚Sturm erprobten’ Schulentwicklungs-‚Geleits’. Begleitend und beratend stehen sie Schulentwicklungsvorhaben aller Art, wie z.B. einer Weiterentwicklung des Schulprogramms oder der Entwicklung und Nutzung eines maßgeschneiderten Evaluationskonzeptes zur Seite. Eine weitere und eher neuartige Anforderung, mit der jede Schule konfrontiert ist, ist ein Veränderungsprozess in Richtung Inklusion. Hier bedarf es besonders qualifizierter Begleiter_innen, welche werte-, prozess- und systemorientierte Veränderungen im Blick haben. Ihr Einsatz in inklusiven Entwicklungsprozessen ist vielfältig und in einigen Phasen sinnvoll:
Da die Qualität der Beratungen und Begleitungen eine wesentliche Rolle für ein gutes Gelingen der angestrebten Veränderungsprozesse spielt und in Deutschland bis vor ein paar Jahren kein qualitätsvolles Fort- und Weiterbildungsangebot zur Verfügung stand, entwickelte die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft eine Qualifizierung von Begleiter_innen von Schulentwicklungsprozessen. Hierbei steht ganz im Sinne Booths (2000, 2011) die Umsetzung inklusiver Werte in der Praxis im Vordergrund. Grundlage aller neun bisher entwickelten Module dieser Qualifizierung ist die kontinuierliche Reflexion der eigenen Haltung und des eigenen Handelns sowie die variantenreiche Anwendung des Index für Inklusion.
Über den Erfolg eines gelingenden inklusiven Veränderungsprozesses bestimmen nicht allein die Qualifikation und das Engagement der Moderator_innen und Prozessbegleiter_innen, sondern auch jedes einzelne Mitglied einer Organisation. Eine Schule lebt von der Gemeinschaft und von den Menschen, die in ihr gemeinsam wirksam sind. Unsere Gesellschaft befindet sich fortwährend im Wandel und somit müssen wir Menschen uns den aktuellen Herausforderungen stellen. Es bedarf geeigneter Kulturen, Formen und Praktiken zur erfolgreichen Bewältigung der Veränderungssituationen (vgl. Gloystein 2014). Die pädagogischen Herausforderungen unserer Zeit fordern die meisten Institutionen dazu auf, sich von Grund auf neu zu definieren: wer sind wir, wofür sind wir hier, was wollen wir in die Welt bringen, wie gehen wir vor (vgl. Scharmer 2005, 11)?
In Reaktion auf die Neuorientierung stehen Umstrukturierungen und organisationale Veränderungen an. Ein tradierter, überwiegend hierarchisch und autoritär angelegter Führungsstil, welcher noch in vielen deutschen Schulen vorherrscht und in dem Macht und Ergebnisorientierung zu stark im Mittelpunkt stehen, gilt als überholt und weicht zunehmend einer kollektiven Führung, die alle Menschen, welche Veränderung bewirken wollen, unabhängig von ihrer Position einschließt (vgl. Scharmer 2005, 16). Die derzeitige Komplexität von Schule begünstigt einen Paradigmenwechsel. Keine Schulleitung ist heutzutage mehr in der Lage, das breite Themenspektrum und die umfassenden Gestaltungsmöglichkeiten zu überblicken. Moderne institutionelle Steuerung und Entwicklung benötigt partizipatorische Konzepte im Sinne einer Netzwerk- und Beteiligungskultur, um erfolgreich Veränderungsprozesse in Richtung Inklusion auf den Weg zu bringen. In der schulischen Praxis sind partizipative Veränderungsprozesse oft nur scheinbar partizipativ, d.h. die Schulgemeinschaft wird zwar über anstehende Veränderungen informiert, möglicherweise wird sie auch nach ihrer Meinung gefragt, hat aber letztendlich keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen. Gefragt sind daher Ansätze einer ‚echten’ Partizipation. Nach Pundt (2010, 25ff.) wird in drei Idealtypen solcher Beteiligungskulturen unterschieden, nämlich einer führungsgetragenen, einer institutionengetragenen und einer mitarbeitergetragenen Beteiligungskultur. In jedem dieser drei Typen wird die Beteiligung der Mitarbeiter_innen auf ganz unterschiedliche Weise praktiziert. So kümmern sich bei einer mitarbeitergetragenen Beteiligungskultur die Mitglieder einer Schulgemeinschaft selbst darum, „dass sie in ausreichendem Maß an den Geschehnissen im Unternehmen (bzw. in der Organisation) teilhaben und darauf Einfluss nehmen können. Hier dominiert eine umfassende und konsequent direkt umgesetzte Beteiligung“ (Pundt 2010, 15). Plausibel scheint es da zu sein, „dass die Beteiligungskultur ihre Wirkung auf veränderungsbezogene Einstellungen über das Verhalten der Führungskräfte entfalten“ (ebd., a.a.O.), was darauf zurückzuführen ist, dass die Führungskräfte die Kultur einer Organisation symbolisieren und sie ihren Mitarbeiter_innen über ihr Verhalten vorleben. Eine etwas klarere und „veränderungsorientiertere Führung“ (Pundt 2010, 71) gilt als eher in der Lage, die Werte und Einstellungen der Mitarbeiter_innen nachhaltig zu verändern. Dementsprechend bedeutsam für die Wirkung von Veränderungsprozessen sind die Einstellungen der Mitarbeiter_innen. Je positiver ihre veränderungsbezogenen Einstellungen zu den geplanten Veränderungen sind, umso mehr Eigeninitiative werden sie zeigen (Pundt 2010, 71).
Eine solche aktive ‚Beteiligungs- und Strömungskultur’, deutlich erkennbar in dem seemännischen Bild ‚wir sitzen alle im selben Boot’, schafft für alle Mitglieder bzw. Teilkulturen der Organisation die Möglichkeit sich einzubringen und miteinander verbunden zu fühlen. Eine Schulgemeinschaft, die möglichst viele ihrer Belange basisdemokratisch regelt, kann von den Fähigkeiten und Kompetenzen ihrer Mitglieder profitieren. Je mehr Menschen ihre eigene Wirksamkeit erleben, desto mehr bringen sich ein. Gemeinsam gelingt es leichter in Veränderungsprozessen angesammelten ‚Ballast’ abzuwerfen, in Fahrt zu bleiben, weiter am ‚Wind zu segeln’ und damit ‚stetig den Kurs der Veränderungen zu halten’, anstatt sich auf Grund von schnell entstehenden Turbulenzen (immer wieder) fest zu fahren. Wichtig zu wissen ist dabei: Ein Boot lässt sich nur so lange steuern, so lange es Fahrt macht.
In der Einleitung des Kommunalen Index für Inklusion (vgl. Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, 2011, 25f.) sowie in einem Erfahrungsbericht von Brokamp/Lawrenz (2013) werden fünf verschiedene Ebenen auf der jede_r Einzelne selbst wirksam werden – oder von der Wirksamkeit anderer profitieren – kann identifiziert. Insgesamt verdeutlicht das Gesamtspektrum aller im Folgenden aufgezeigten Ebenen von System zu System, also von der individuellen (persönliche Bedingungen wie z.B. Motive, Interessen, Erfahrungen) bis hin zur Mundo-Ebene (globale Bedingungen wie z.B. Globalisierung, Schulvergleiche, aktuelle Entwicklungen) ein zunehmendes Beziehungsgeflecht sowie eine Komplexitätssteigerung auf der inklusiven Gestaltungs- und Handlungsebene. Wie bei einem Mobile haben Veränderungen in einem System Auswirkungen auf die anderen und müssen im weiteren Prozessverlauf berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt die erste Ebene des ‚Ich mit mir’ als Grund oder Unterbau für das, was auf den ‚öffentlichen’ Ebenen erreicht und umgesetzt werden kann. Je mehr Beteiligte und Engagierte sich auf dieser Ebene „Klarheit über ihre eigenen Handlungsmotive verschaffen, über die antreibenden Werte und ihre ethische Haltung, d.h. über das, was sie für sich verantworten wollen, umso mehr Möglichkeiten ergeben sich, dass die Gestaltungsinitiativen auf den folgenden Ebenen gelingen und Ergebnisse bewirken“ (Brokamp/Lawrenz 2013,2f.).
Um inklusive Entwicklungsprozesse in Bildungseinrichtungen erfolgreich zu gestalten, bedarf es also gemeinsamer Anstrengungen durch eine verstärkte Beteiligungs- und Vernetzungskultur. Diese entfaltet ihre Wirkung durch veränderungsbezogene Einstellungen von Führungskräften und Mitarbeiter_innen. Ein weiteres Merkmal ist die aktive Beteiligung der Schüler_innen. Dabei wird auch hier unter Beteiligung mehr als nur ein fest verankertes Recht auf Mitsprache verstanden, sondern meint vielmehr die volle und verbindlich geregelte Teilhabe (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012) im Sinne von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung (vgl. Boban, Hinz u.a. 2012). Neben der grundsätzlichen Bereitschaft sich notwendigen Veränderungen positiv und aktiv zu stellen, bestimmt über den Erfolg eines gelingenden inklusiven Veränderungsprozesses auch die inklusive Grundeinstellung einer Schulgemeinschaft. Inklusion beginnt mit einer Haltung des Respekts und der Wertschätzung gegenüber allen Menschen in ihrer Verschiedenheit, unabhängig von persönlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten, unabhängig von Alter, Behinderung, Herkunft und sozialem Status, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Es geht darum, gemeinsam ein System, ein Umfeld derart zu gestalten, dass es auf Vielfalt eingehen kann und zwar so, dass alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen wertgeschätzt werden. Wichtig ist dabei der veränderte Blick auf die Institution. Es gilt darüber nachzudenken, zu beobachten sowie sich darüber zu verständigen:
Als Impulsgeber bietet der Index für Inklusion mit seinen Indikatoren, Fragen und Materialien die Möglichkeit, den Veränderungsprozess in Gang zu setzen.
Zielführend sollten die Diskussions- und Verhandlungsergebnisse in ein für alle verpflichtendes inklusives Leitbild einfließen. Inklusive Schulen beschließen hierzu eine Vereinbarung, die für alle an der Schule Beteiligten (Lernende, Lehrende, Eltern, weitere Beschäftigte, Partner_innen etc.) bindend ist. Die vereinbarten Handlungsverpflichtungen zur Unterstützung von Inklusion mit ihren Standards und Regeln werden konkret genannt und engagiert umgesetzt. Dabei sind sowohl das verbindliche Leitbild als auch die Aktivitäten zu deren Einhaltung transparent und öffentlich zugänglich zu machen (vgl. Reich 2012, 91ff.).
Schulen auf dem Weg brauchen also
Um uns näher mit den Feinheiten eines solchen umfassenden Prozesses zu beschäftigen beschreiben wir nun ein Praxisbeispiel. Es handelt sich um eine allgemein bildende Gemeinschaftsschule, die bereits vor vielen Jahren mit einem integrativen Teilkonzept begann. Nach vielen Jahren der Konzeptentwicklung und Umgestaltung stellt sich den Kolleg_innen der Schule die logische Frage, wie sie nun als ganze Schulgemeinschaft inklusiv werden könnten.
Am Beginn wird von den Moderatorinnen ein tiefgreifender Veränderungsprozess, der in langjähriger und intensiver Arbeit dem Moment der Anfrage vorausgeht, vorgefunden. Das Ergebnis des Prozesses bis zu diesem Zeitpunkt war eine Schulentwicklung auf dem Weg von der Integration zur Inklusion, die beim ersten Eindruck wenig transparent und festgefahren wirkte. Im Sinne eines Projektverlaufsmusters nach Jäger (2012) haben die Akteur_innen neben Phasen der Euphorie auch Phasen der Konzept- und Umsetzungskrisen erlebt. Zum Zeitpunkt der Anfrage war die Schule fast um das Doppelte der Anzahl von Schüler_innen und Pädagog_innen angewachsen und es stellten sich eine Reihe ungelöster Fragen und Probleme (wie kann beispielsweise ein Inklusionsmodell auf alle Klassen übertragen werden, da bislang nur ein Klassenzug hierfür ausgestattet ist; wie können neue Kolleg_innen eingearbeitet und mentoriert werden um sie einerseits in die Erfahrungen inklusiver Unterrichtsmethodik und -didaktik einzuführen und andererseits diese auch miteinander fortentwickeln zu können u.ä.). Der konkrete Auftrag an die Moderatorinnen ergab sich aus einer direkten Anfrage von Eltern an den Trägerverein der Schule, die die Gestaltung einer inklusiven Schule betraf. Hier stellten die kleine Gruppe der Akteur_innen des bisherigen Prozesses fest, dass sie sich in einer Phase befinden, in der der Wunsch nach Planung und Umsetzung des schulinternen Entwicklungsprozesses durch Prozessbegleiter_innen trotz langjähriger und erfolgreicher Selbstverwaltung notwendig wird.
Innerhalb der Schulgemeinschaft schien die explizite Forderung nach einer ganzheitlichen Ausrichtung auf eine inklusive Schule groß zu sein. Die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten zur Umwandlung in eine inklusive Schule wurde gestellt. Mit dem Wissen, dass die Herausforderung Inklusion nur partizipativ gemeistert werden kann und der wachsenden Erkenntnis dabei professionelle Begleitung zu benötigen, beschloss die Schulgemeinschaft, eine schulinterne Arbeitsgruppe sowie externe Moderatorinnen mit diesem anspruchsvollen Veränderungsprojekt zu beauftragen.
Die Schule wurde 1985 durch Eltern als eine Schule für alle Kinder am Standort Berlin-Kreuzberg gegründet. 1997 wurde zum ersten Mal das Abitur abgenommen. Die Schule hatte fast von Anfang an einen Förder- und Therapiebereich installiert. Ein Schularzt ist seit dem Jahr 2002 fest angestelltes Kollegiumsmitglied.
Trotz des Förder- und Therapiebereiches konnten die Kolleg_innen nie allen 32-36 Kindern pro Klasse gerecht werden. Es gab viele Ansätze und hohe Ansprüche zur Integration von Kindern mit unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderbedarfen. Immer wieder verließen Kinder mit besonderen Bedürfnissen die Schule, denn sie fühlten sich in den großen Klassen überfordert und schlecht begleitet. Früh schon wurde an der Schule begonnen in Teams zu arbeiten.
Nach einer Erweiterung im Jahr 2003 um zusätzliche Gebäudeteile eröffnete die Schule einen zweiten – integrativen – Zug. Diese Entscheidung war wie ein Sprung ins kalte Wasser, eine Bewegung hin in die völlige Öffnung, etwas Neuem zugewandt ohne viel Erfahrung. Es hatte aber die deutliche Entscheidung im Hintergrund: Kein Status Quo und keine Rückwärtsbewegung. Etwas Neues sollte entstehen.
Die konzeptionelle Idee für die integrativen Klassen war ca. 20 Schüler_innen + 5 mit jedwedem sonderpädagogischem Förderbedarf mit einem Lehrer_innenteam zu beschulen.
Über viele Jahre hinweg führten die Lehrer_innen der integrativen Klassen, später auch mit Beteiligung der Eltern, jährliche Schulentwicklungswochenenden durch. Hier wurden neue Konzepte und Stundenpläne entworfen, hier wurden Visionen entwickelt. Ideen und Bedürfnisse wurden benannt und daraus das Konzept fürs nächste Schuljahr erarbeitet. Dieses Konzept fand nach vielen Diskussionen und erfolgter Evaluation eine strukturierte Form. Es sollte Lernen, Spielen und gemeinsames Arbeiten in die gesamte Schule holen.
Die Schule begann einen offenen Ganztagesbetrieb und mischte die Schüler_innen beider Klassen im Hort und in höheren Jahrgängen im Nachmittagsunterricht, sodass der integrative Strang nicht als Alleinstellungsmerkmal blieb.
Im Lauf der Jahre wurde somit eine gut funktionierende Schule komplett verändert. Die Veränderungen geschahen nach Bedürfnissen, die Lehrer_innen und Eltern für die Schüler_innen sahen. Die Schüler_innen selbst wurden an diesen Prozessen nicht beteiligt. Ein weiteres Problem stellte sich im Laufe der Jahre ein: Es gab keinen Gesamtentwurf für die Leitidee der Schule. Die Entwicklung ergab sich immer nur aus den anstehenden Notwendigkeiten. Die ursprüngliche Idee war, einen integrativen Klassenzug aufzubauen. Dies machte in einzelnen Schritten eine Überarbeitung von zunächst einzelnen Klassenstufen, Fachbereichen und auch Inhalten und schließlich eine Neuausrichtung des gesamten Unterrichtskonzeptes der Schule notwendig, teilweise aus rein praktischen Erwägungen, teilweise auch unter inklusivem Blickwinkel. Zunächst wurden diese Prozesse in kleinen Kolleg_innengruppen ausgearbeitet. Nach einigen Jahren waren jedoch zu viele beteiligte Eltern und Lehrer_innen in diesem Prozess. Im Nachhinein lässt sich auch feststellen, dass die partizipative Leitungsstruktur der Schule nur bedingt in den Prozess eingreifen konnte oder wollte und über die Jahre sich ein tradiertes System der Prozessentwicklung ohne Feedback- und Abstimmungskultur einschlich. Zu diesem Zeitpunkt wären bereits Berater_innen von außen gefragt gewesen. Eine ehrliche Frage wäre, warum erst viel später Hilfe von außen geholt wurde? Woran liegt es, dass die Entwicklung stagniert? Wie kommt die Schule mit diesen beiden unterschiedlichen Klassenzügen zur Inklusion?
Das ursprüngliche Motiv war eine Schule für alle. Während der Jahre der kontinuierlichen Entwicklung wurde die Realität einer Spaltung in eine integrative und eine nicht-integrative Lerngruppen geschaffen. Manche der konzeptionell gut durchdachten Ideen waren nicht umsetzbar. So wird es für die Einrichtung nun maßgeblich die weitere Entwicklung unter inklusiven Gesichtspunkten, wie im Index für Inklusion vorgesehen, zu erarbeiten.
Die Schulgemeinschaft versteht sich seit Anfang an als Schule für alle Kinder und Jugendliche des Einzugsgebietes bei der Verschiedenheit erwünscht ist und Gemeinsamkeit gelebt werden kann. Das bisherige Konzept wird als eine der vielen Fassungen ‚auf dem Weg zu einer inklusiven Schule’ verstanden. Es ist geprägt von dem Gedanken eines nicht endenden Prozesses. Bis dieser Veränderungsprozess nachhaltig entwickelt ist, braucht es aus Sicht der sich entwickelnden Schule sichere Partner_innen auf politischer und finanzieller Ebene.
Auf dem Entwicklungsweg zur inklusiven Schule benötigt die Einrichtung Steuermänner oder -frauen oder Lotsen, die sie sicher durch ‚schwierige Gewässer geleiten’. Manches Unwetter hat sich ereignet, so mancher ist unterwegs von Bord gegangen, manche Segel haben ordentlich gelitten: Daher wurde nun nach langen eigenverantwortlichen Entwicklungsschritten, die einzelne Mitarbeiter_innen oder kleine Teams vorantrieben, ein Lotse an Bord geholt. Das System ist zu groß geworden, zu unübersichtlich, zu viele neue Mitarbeiter_innen wurden in den vergangenen Jahren eingestellt, die nicht immer in der Schulentwicklung gut ‚mitgenommen’ werden konnten. Auch das Fortbestehen des Grundproblems – der Einteilung in integrative und nicht-integrative Klassen – führt immer wieder zu einem ‚schlingernden’ Kurs und innerhalb des Kollegiums zu Meinungsverschiedenheiten, Problemen in der Kommunikation, Setzen von Werten und Abstecken von Zielen.
Hier starten wir nun aus Sicht einer der Moderatorinnen in die Verlaufsbeschreibung einer Schulbegleitung, der mit dem ‚Blick ins Seegebiet’ startet.
Zu Beginn einer Prozessbegleitung geht es in der Regel darum, in der Organisation ein Bewusstsein für die Relevanz des Themas zu wecken. Möglicherweise stammt die Idee für ein inklusives Entwicklungsprojekt von ‚unten’ und wurde durch engagierte Mitarbeiter_innen oder Eltern initiiert. Eventuell wurde es von ‚oben’ durch die Schulleitung der Schulgemeinschaft verordnet oder angeregt. Gut ist es deshalb, sich in der Vorbereitung ein Bild vom Kontext oder um im maritimen Bild zu bleiben, vom ‚Seegebiet’ zu machen und zu überprüfen, ob die Revier-Karten mit denen der Schiffsbesatzung übereinstimmen. Sich zu Beginn eines Auftrages mit dem Ziel eines Veränderungsprozesses und dessen Kontext zu befassen, heißt auszuloten, wo die Chancen auf Grund zu laufen oder abgetrieben zu werden am größten sind, von wem die Kreuzfahrt gebucht wurde, wie viele Kapitäne versuchen das Schiff zu steuern, wer mit wem in einem Boot sitzt, wer bestimmt, wann in See gestochen wird und wie lange die Reise gehen soll oder welcher Hafen angesteuert wird. Vieles unterhalb der Wasseroberfläche sowie ‚unter Deck’ bleibt ebenso wie im sozialen Feld einer Organisation im Verborgenen und damit für das Auge der Berater_in „gänzlich unsichtbar“ (Scharmer 2009, 36).
Wie ein Lotse setzt sich also die/der Prozessbegleiter_in zunächst mit der Frage auseinander: Wie ist das Feld bestellt? Oder auch: Auf welche Situation treffe ich? Was ist sichtbar? Und noch wichtiger für die weiteren Schritte: Was ist das für unser Auge Unsichtbare? Was liegt unter dem Sichtbaren versteckt? Was nehme ich als soziale Wirklichkeit der Organisation wahr (vgl. Scharmer 2005, 7)?
Letztendlich geht es bei der Weiterentwicklung einer inklusiven Schule um die Frage: Wie kann die Tiefenstruktur unseres Systems für uns alle sichtbar und damit systematisch zugänglich gemacht werden? Das gemeinsame Hinsehen und Wahrnehmen beleuchtet eine Schulsituation – entsprechend der zweiten Index-Phase. Dies ist ein Schlüssel auf dem Wege hin zu einer Organisation, in der sich möglichst viele Menschen für inklusive Veränderungsprozesse verantwortlich fühlen. Damit verändert sich eine weitere Wahrnehmungsstruktur, nämlich die des Zuhörens, die sich laut Scharmer in vier Grundtypen von Aufmerksamkeit unterscheidet und im Ergebnis jede für sich eine andere Handlung hervorbringt:
„Wenn ich von der Ebene 1 zuhöre, erfriert das Gespräch in alten Mustern der Vergangenheit (downloading). Wenn ich von der Ebene 2 zuhöre, stelle ich mich dem anderen diskursiv gegenüber. Wenn ich von der Ebene 3 zuhöre, evoziere ich ein dialogisches Feld, indem ich eine unmittelbare Berührung, Verbindung und Einheit (Identität) mit dem Anderen erlebe, in dem sich die trennende Grenze zwischen mir und dem anderen auflöst. Wenn ich von Ebene 4 zuhöre, beginne ich an der Bildung eines neuen Innenraums teilzunehmen … durch den hindurch eine direkte Resonanz zu meiner höchsten zukünftigen Möglichkeit real erlebbar und produktiv werden kann.“ (Scharmer 2005, 10). Die Chancen für den Start in einen nachhaltigen Wandel zu erhöhen, heißt also sich zunächst intensiv mit dem Raum des Gegenwärtigen einer Organisation auseinanderzusetzen und den Fokus auf eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstruktur sowie der Entschlüsselung bestehender Prinzipien und Praktiken zu setzen.
Die Moderatorinnen halfen bei einer Bestandsaufnahme. Sie schärften den Blick auf und die Auseinandersetzung mit dem Organigramm der Schule, ihrer Internetpräsenz, Verschriftlichungen zur bisherigen Schulentwicklung. Nach einer ersten groben Organisationsanalyse in Verbindung mit einer Auftrags-, Schwerpunkt- und Terminabklärung erfolgte die Vorbereitung eines geplanten Studientages. Mit dem erklärten Ziel der Etablierung einer Steuergruppe, welche zukünftig inklusive Organisations- und Schulentwicklung an der Schule beauftragt, begleitet und evaluiert, sollte die Veranstaltung von Seiten der Schule der Selbstvergewisserung über die Aufgabenstellung und Entscheidungsbefugnisse der Gruppe dienen.
An der ersten Veranstaltung nahmen offiziell delegierte Mitglieder der Organisation (Lehrer_innen, Erzieher_innen und Eltern) teil. Die Orientierung an einem inklusiven Referenzrahmen sowie das Aushandeln eines gemeinsamen Verständnisses von Inklusion standen in der Startphase neben dem Kennenlernen des Index für Inklusion im Mittelpunkt der wertebasierten Moderation. Zu Beginn des Begleitprozesses sollte es darum gehen, die Kultur der Schule und ihr Verständnis von Inklusion sichtbar zu machen und gemeinsame Verantwortlichkeiten zu erkennen und festzuhalten. In einem nächsten Schritt wurde die konkrete Situation der Schule sowohl inhaltlich als auch strukturell in den Blick genommen und – wieder orientiert an inklusiven Grundideen – gemeinsam bilanziert. Die reflektierenden Blicke auf das Gelungene und die unterstützende Begleitung im „kollektiven Sehen“ der Tiefenstruktur (Scharmer 2005, 8) ließ „Hebelpunkte“ (vgl. Scharmer 2005, 8) für inklusive Veränderungsprozesse erkennen. Der gezielte Blick ins Zukünftige brachte eine grundsätzlich inklusive Haltung und ein klares Verständnis von Vielfalt als Potential und Bereicherung zu tage, welches es weiterhin zu befördern gilt. Im Ergebnis wurde entsprechend dem Wunsch nach einer partizipativen Schulentwicklung die Gründung einer Steuergruppe vereinbart, welche mit den Aufgaben:
- Konzeptentwicklung,
- Steuerung eines maßgeschneiderten schulischen Entwicklungsprozesses,
- Dokumentation/Evaluation,
- Kooperation, und
- Fortbildungsplanung.
beauftragt wurde.
Die Beschlüsse wurden mehrheitlich von der Schulgemeinschaft angenommen. Die Steuergruppe wird die Ausarbeitung eines Konzepts begleiten. Der tief greifende Veränderungsprozess erlebt seine Fortsetzung in einer Bilanzierung mit inklusiver Brille in der fachspezifischen Struktur der Schule. Der Index für Inklusion wird in die Arbeit mit einbezogen und dient als Impulsgeber und Reflexionsinstrument. Geplant sind regelmäßige Evaluationen zurückliegender Prozesse sowie die Dokumentation des Entwicklungsvorhabens. Das Schiff hat also wieder Fahrt aufgenommen. Es wird jetzt eine Steuergruppe geben, die den Kurs hält, aber jederzeit auch wieder den Lotsen an Bord holen kann. Es wird eine lange Reise, bei der es nicht um das Ankommen geht. In inklusiven Prozessen ist erklärtermaßen die Reise das Ziel.
Ohne den erklärten Willen zur Umgestaltung der Organisation kann man sich die Umsetzung dieser anspruchsvollen schulischen Veränderungsprozesse kaum vorstellen. Neben einer gezielten politischen Steuerung und Vorbildfunktion von Entscheidungsträger_innen in Politik, Bildung und Kultur brauchen Organisationen eine Führungskultur im Sinne von Heterarchie (keine Zentren, sondern Knotenpunkte). Die Steuerbewältigung komplexer inklusiver Systeme kann nicht allein durch die Aufweichung ‚bewährter’ hierarchischer Strukturen in Form von Mehr-Beteiligung gelingen. Vielmehr sind Organisationsstrukturen gefragt, die nicht von einem Führen in einem Über- und Unterordnungsverhältnis, sondern von einem gleichberechtigten Neben- und Miteinander ausgehen. Eine Schulgemeinschaft ist ein soziales System, das am wirkungsvollsten agiert, wenn sich seine Mitglieder als Elemente dieses Systems begreifen und entsprechend handeln. Das erfordert einen hohen Grad an Identifikation und Raum für Gestaltung. Die Entwicklung derartiger sozialer Systeme folgt einer eigenen systemimmanenten Logik und ist ausgewiesen durch Ungerichtetheit, aber Passgenauigkeit und unterliegt permanenten Veränderungen. Die Richtung der Schulentwicklung findet sich von selbst beim Treibenlassen in Haupt- und Nebenströmungen, durch den konsequenten Blick durch die inklusive Brille. Allein diese Disziplin vermag es das Schiff auf inklusivem Kurs zu halten
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