Abstract: Die Entwicklung der Ingtegration in Intalien hat nicht erst mit der Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung begonnen, sondern geht eigentlich zurück auf die Einführung der Einheitsmittelschule im Jahre 1962. Fortgeführt wurde sie durch die flächendeckende Einführung der Integration von Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung in die Regelklasse im Jahre 1977. Seither kann man eine Reihe von Entwicklungen nachverfolgen, die letzendlich zu einem inklusiven Bildungssystem geführt haben. Südtirol hat in seiner Brückenfunktion zwischen Norden und Süden dabei eine besondere Rolle gespielt. Aufgezeigt werden aber nicht nur die besonderen Rahmenbedingungen für ein inklusives Bildungssystem, sondern auch die zahlreichen immer noch bestehenden Stolpersteine und Altlasten, insbesondere in der Ausbildng der Lehrpersonen, die diesen Weg des gemeinsames Lernens auch immer wieder behindern.
Stichworte: Bildungssysteme im Vergleich; Schulgesetzgebung; Lehrerbildung
Inhaltsverzeichnis
Alter |
Klassenstufe |
Schultyp |
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14-19 |
9 - 13 |
Oberschule/Berufsbildung |
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11-14 |
6 - 8 |
Mittelschule |
Einheitliche Rahmenrichtlinien von der 1. – 8. Klasse |
6-11 |
1- 5 |
Grundschule |
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3-6 |
Kindergarten als Teil des Bildungssystems |
Abb. 1 Überblick über das Bildungssystem
Der Großteil der Grund- und Mittelschulen des Landes ist zu schulstufenübergreifenden Schulsprengeln[2] zusammengefasst. Dies erleichtert einen nahtlosen Übergang zwischen Grundschule und Mittelschule ohne jegliche Zwischenprüfungen. Diese Kontinuität wird auch durch die einheitlichen Rahmenrichtlinien von der 1.- 8. Klasse (Autonome Provinz Bozen 2009a) unterstrichen, Kontinuität, die sowohl in der Bearbeitung der Themenbereiche als in einer einheitlichen didaktisch-pädagogischen Grundausrichtung ihren Niederschlag findet.
Die Beanspruchung all dieser Rechte hängt jedoch von einer klaren Diagnose ab, die von den Diensten der Sanitätsbetriebe auf der Grundlage der ICD-10 und DSM IV erstellt wird. Genau definiert sind die Diagnosen, die Anrecht auf spezifische Maßnahmen geben (Deutsches Schulamt 2013, Leitlinien für die Zuweisung von zusätzlichem Personal). Diese immer noch stark medizinische Ausrichtung und insbesondere die Koppelung an das Recht auf spezifische Maßnahmen stehen eigentlich im Gegensatz zu einem inklusiven Ansatz im Bildungswesen und haben immer noch die Etikettierung der Kinder, Schüler und Schülerinnen zur Folge. Dies auch dann, wenn die eigentliche Diagnose ergänzt wird durch eine auf der ICF beruhenden Beschreibung, die sich an den Kompetenzen des Kindes, nicht an seinen Defiziten orientieren sollte (Autonome Provinz Bozen 2013, Programmabkommen zwischen Kindergärten, Schulen und territorialen Diensten) Sicher ist im Fall funktionaler Schädigungen eine professionelle Abklärung notwendig und auch hilfreich, um Barrieren für das Lernen und die Teilhabe besser erkennen und in der Folge zu vermindern bzw. abbauen zu können. Nur sollte diese Abklärung nicht die Voraussetzung für die Anerkennung bestimmter Rechte darstellen. Hier sollte in erster Linie die diagnostische Kompetenz der Lehrpersonen greifen, die für alle Kinder und Schüler und Schülerinnen deren Entwicklungsstand, ihre persönlichen Stärken und Kompetenzen erheben und daraufhin individuell abgestimmte Angebote planen.
Die Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen und den Diensten des Südtiroler Sanitätsbetriebes ist durch ein Programmabkommen zwischen Kindergärten, Schulen und territorialen Diensten geregelt (ebd.), das auch die Zuständigkeiten der verschiedenen Abkommenspartner klar definiert. So fallen die medizinisch-psychologische Diagnostik sowie sämtliche Therapien [5] klar in den Aufgabenbereich der Dienste des Sanitätsbetriebes während jene der pädagogischen Diagnostik, der Lernprozessdiagnostik und der Lernbegleitung sowie der Planung der didaktischen Maßnahmen und Unterstützungsangebote sowie die Bewertung in den Aufgabenbereich der Schule fallen. Durch die kontinuierliche Zusammenarbeit und Absprache zwischen den einzelnen Professionen, unter Einbeziehung auch der Eltern und ab einem bestimmten Alter auch der Schüler und Schülerinnen, sollte ein möglichst koordiniertes und aufeinander abgestimmtes Bildungsangebot entstehen. Der Vorteil einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit liegt gerade in den unterschiedlichen Kompetenzen, die zur Verfügung gestellt werden. Nur das, was auf dem Papier sehr klar konzipiert erscheint, stößt in der Umsetzung immer noch auf erhebliche Probleme. Die Schwierigkeit entsteht, wenn nicht alle dasselbe Grundverständnis, in diesem Fall jenes einer inklusiven Schule, verfolgen, wenn die einzelnen Verwaltungen nicht genügend zeitliche und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen, wenn sich die verschiedenen Professionen nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen und nicht allen mit Respekt und Wertschätzung begegnet wird, seien dies nun Professionelle oder Eltern oder Schüler und Schülerinnen.
Nach Einführung der Integration in den verschiedenen Bildungsstufen und einer detaillierteren Festigung der verschiedenen Rechte der Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung durch das staatliche Rahmengesetz 104/1992 (MIUR 1992[6]) wurde es ziemlich still rund um die schulische Integration. 2007, also 30 Jahre danach, auch in Erinnerung an Don Lorenzo Milani (La scuola di Barbiana, Lettera a una professoressa, 1976), hat das Ministerium für Unterricht, Universität und Forschung ein großangelegtes Fortbildungsprogramm gestartet „I Care“ (Imparare Comunicare Agire in una Rete Educativa) mit dem Ziel, Schulen als professionelle Lerngemeinschaften zu etablieren, die ihren Weiterbildungsbedarf erheben, eigenverantwortlich entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen planen, um Themen rund um den Schwerpunkt Beeinträchtigung zu vertiefen, zu reflektieren und didaktische Maßnahmen zu planen, die eine effektive schulische Integration im Alltag zum Ziel haben. Insgesamt haben 250 Schulen auf Staatsebene daran teilgenommen.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein waren die umfassenden Leitlinien zur schulischen Integration der Schüler mit einer Behinderung (MIUR, 2009b). Es galt in einem Dokument die wichtigsten Grundsätze und Ausrichtungen, die sich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre ergeben hatten, zusammenzufassen. Und dies in einer klar verständlichen und leicht lesbaren Form. Als wesentliche Neuerungen werden die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung und der neue Blickwinkel, der sich durch die ICF ergibt, angegeben. Die ICF eröffnet durch den Übergang vom vordergründig medizinischen zum bio-psycho-sozialen Modell einen neuen Zugang zur Behinderung. Behinderung wird nicht mehr als Konstante des einzelnen Menschen gesehen, sondern als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt, „wobei als „Barriere“ alles bezeichnet werden kann, was die Aktivität und die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderung beeinträchtigt, und als fördernd all das, was ihnen die Beteiligung erleichtert“ (MIUR 2009b, Deutsches Schulamt, Leitlinien für schulische Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung, 10). Dadurch wird der Schule als Bildungseinrichtung eine hohe Verantwortung zugeschrieben, und zwar jene, die Barrieren bestmöglich zu beseitigen und förderliche Bedingungen für Lernen und Teilhabe der Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung zu schaffen. Hier wird erstmals in einem offiziellen nationalen Dokument der Begriff „Inklusion“ verwendet, wenn auch in einer sehr ambivalenten Form „integrazione/inclusione“, also als Synonyme. Es geht in diesen Leitlinien vordergründig um die Gestaltung der Rahmenbedingungen für eine gelingende schulische Integration. „In diesem Sinne ist die Anwesenheit von Schülern und Schülerinnen mit Behinderung keine Notfallsituation, die bewältigt werden muss, sondern eine Gegebenheit, die eine Umgestaltung des Systems erfordert, eine Umgestaltung, die bereits in der Planungsphase berücksichtigt werden sollte und die gesamte Schulgemeinschaft bereichern kann.“ (ebd.,12) „Im Widerspruch… steht die Errichtung von Lernwerkstätten, in denen mehrere Kinder oder Jugendliche mit Behinderung auch nur für einige Stunden, aber auch länger bzw. wiederholt, von den anderen Lernenden getrennt werden.“ (ebd.,14) Und weiter „Integriert in ein Umfeld oder Teil dieses Umfelds ist nämlich nur, wer Erfahrungen und Lernprozesse gemeinsam mit anderen erlebt, wer Ziele und Arbeitsstrategien mit anderen teilt; nebeneinander her leben oder nebeneinander sitzen allein reicht nicht aus, um Menschen zu integrieren.“ (ebd., 10) Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang der Rolle der Schulführungskraft zugesprochen. Durch eine überzeugte und entschlossene Leadership sorgt sie für die Gestaltung der Rahmenbedingungen, indem sie Projekte und Maßnahmen unterstützt, Fortbildungen plant, Netzwerke organsiert, Eltern und andere außerschulische Akteure einbindet und die Gestaltungsfreiräume der autonomen Schule nutzt, um den Bildungserfolg aller Schüler und Schülerinnen zu ermöglichen. Sehr differenziert werden auch im Programmabkommen des Landes Südtirol die Aufgaben der Schulführungskraft im Rahmen der schulischen Integration aufgezeigt (Autonome Provinz Bozen 2013, Programmabkommen, 11ff).
Diese insgesamt sehr fortschrittliche Gesetzgebung hat dazu geführt, dass Italien auch international immer noch als führend im Bereich der schulischen Integration von Kindern, Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung gesehen wird. So wurde Italien im Februar 2016 im Rahmen der Jahreskonferenz des „ Zero Projects“ in Wien für seine fortschrittliche Gesetzgebung in diesem Bereich ausgezeichnet (MIUR, 2016 ).
Dieser Übergang zeichnet sich einerseits bereits im Landesgesetz zur Autonomie der Schulen (Autonome Provinz Bozen 2000, L.G. 12/2000) ab. Wenn man dort auch noch nicht von Inklusion spricht, so kann die Grundaussage sehr wohl in diese Richtung verstanden werden. Besondere Beachtung findet dies im Rahmen der didaktischen Autonomie. Hier geht es darum, „die allgemeinen und spezifischen Ziele in Lernwege umzusetzen, die das Recht aller Schüler und Schülerinnen auf Bildung und Erziehung gewährleisten. Sie [die Schulen] erkennen und nutzen die Unterschiede, fördern die Fähigkeiten jedes Einzelnen, indem sie alle zweckdienlichen Maßnahmen treffen, um den Bildungserfolg zu erreichen.“ (ebd. Art. 6, Abs.1). Hier spricht man nicht von einzelnen Kategorien von Schülern und Schülerinnen, sondern der Auszug bezieht sich auf alle, unabhängig vom sozialen, kulturellen, sprachlichen Hintergrund oder von den kognitiven Voraussetzungen. Bildungsauftrag der Schule ist nicht die Selektionsfunktion, sondern die Erreichung des Bildungserfolgs. Dem widerspricht die immer noch bestehende Möglichkeit der Nichtversetzung von Schülern und Schülerinnen, wenn dies auch prozentuell nur zu einem geringen Prozentsatz [8]erfolgt und sicher nicht in erster Linie Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung betrifft (Autonome Provinz Bozen 2015, Landesinstitut für Statistik, 15ff ).
In der offiziellen italienischen Übersetzung der UN-Konvention (Ministero del Lavoro, della Salute e delle Politiche Sociali 2009) wird im Art. 24 das Recht auf ein inklusives qualitativ hochwertiges Bildungssystem unterstrichen. Doch hat sich Italien sehr schwer getan zu definieren, was man unter einem inklusiven Bildungssystem versteht. Vielfach wurden die Begriffe synonym verwendet, so z. B. wenn es heißt: „Das Schulprogramm (Piano dell’ Offerta Formativa, POF) ist inklusiv, schließt also Menschen mit Behinderung mit ein, wenn es im Schulalltag Handlungen, Maßnahmen und Projekte vorsieht, die effektiv den individuellen Erziehungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Rechnung tragen.“ (MIUR, Deutsches Schulamt. Leitlinien zur schulischen Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung 2009, 12). Auch in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen findet das erweiterte Verständnis von Vielfalt nur langsam Einzug in den Sprachgebrauch und in das Denken der Menschen, auch der Wissenschaftler (Ianes 2008; Dovigo 2007, Pavone 2012, Fiorin 2012).Eine weitere Einschränkung des Begriffs finden wir auch, wenn sich Inklusion nur auf Schüler und Schülerinnen mit spezifischen Bildungsbedürfnissen beschränkt (Ianes 2008, 44).
In Zusammenhang mit dem ersten Erscheinen des Index für Inklusion von Booth und Ainscow, der in Italien sehr früh Anklang fand (Booth& Ainscow 2008), hat sich auch eine neue Sichtweise, ein neuer Zugang zur Inklusion entwickelt. Im Gegensatz zur Integration, die insbesondere die spezifischen Bedürfnisse der Lernenden mit einer Beeinträchtigung im Fokus hatte und zudem meist von einer defizitorientierten Sichtweise ausging, wurde Inklusion verstanden als Anerkennung und Wertschätzung der individuellen Vielfalt in all ihren Facetten, die eine systemische Veränderung notwendig erscheinen ließ aber insbesondere Haltungen und Werte in den Mittelpunkt rückte. Aufgabe der Schule sollte es sein, einen Rahmen zu bieten, der allen Kindern mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen Entwicklungsmöglichkeiten bietet (Davigo 2008, Canevaro 2013).
Diese neue Sichtweise finden wir auch in den Rahmenrichtlinien des Landes für die verschiedenen Bildungsstufen, vom Kindergarten bis zur Oberstufe, wieder. Man begann, die Diversität aller Kinder und Schüler und Schülerinnen in den Mittelpunkt zu stellen:
„Unterschiedlichkeit bedeutet Reichtum, denn daraus erwachsen beziehungsreiche Lernsituationen, die zu größerem, individuellem und gemeinsamem Lerngewinn führen. Das Konzept der inklusiven Bildung erkennt in der Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen einen besonderen Wert. …Kinder, die durch gemeinsames Leben und Lernen lebendige Vielfalt erfahren, können zu einer solidarischen Kindergemeinschaft zusammenwachsen und auf diese Weise die grundlegenden Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen in einer globalisierten Welt erwerben. (Autonome Provinz Bozen, Rahmenrichtlinien Kindergarten 2008, 17)
Derselbe Grundsatz wird auch in den Rahmenrichtlinien für die Unterstufe weitergeführt:
„Die Schule baut durch einen auf dem Grundgedanken der Inklusion beruhenden Unterricht die Haltung auf, Unterschiede der Personen und Kulturen als Bereicherung zu verstehen und dem Anderssein mit Respekt und Offenheit zu begegnen.“ (Autonome Provinz Bozen, Rahmenrichtlinien der Unterstufe 2009, 17)
Dies kann nur gelingen, wenn der Bildungsprozess gekennzeichnet ist durch vielfältige Formen von Individualisierung und Differenzierung der Angebote (ebd.17). Hier wird erstmals der Begriff der inklusiven Bildung im Sinne einer Bildung für alle unter Anerkennung der individuellen Unterschiede als grundlegende Norm unseres Bildungssystems und unseres Bildungsverständnisses festgelegt. Wenn in diesem Zusammenhang von Kindern, Schülern und Schülerinnen gesprochen wird, so sind damit alle gemeint, auch Kinder, Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung, aber auch solche mit Migrationshintergrund, mit besonderen Bildungsbedürfnissen im Lernen oder etwa mit einer Hochbegabung.
Diese Grundhaltungen finden wir auch im Qualitätsrahmen für die Deutsche Schule wieder (Deutsches Schulamt, Neuer Qualitätsrahmen für die Deutsche Schule 2014), der dem Bereich „Individuelle Förderung und Inklusion“ einen eigenen Punkt widmet und differenziert Strategien und Maßnahmen aufzeigt wie eine inklusive Schule dieser Vielfalt begegnen kann, wie sie durch einen hochwertigen qualitätsvollen Unterricht auf diese spezifischen Bedarfe eingehen kann und soll.
„7.1 Individuelle Begabungen und besondere Fähigkeiten der Lernenden werden erkannt und gefördert.
7.2 Heterogenität wird als gewinnbringender Wert gesehen. Die inklusive Haltung der Schule zeigt sich
in konkreten Maßnahmen.
7.3 Schülerinnen und Schülern mit sozialen, psychischen oder physischen Benachteiligungen oder
Problemen erhalten von der Schule Hilfe.
7.4 Der Unterricht sieht Möglichkeiten der inhaltlichen und/oder leistungsmäßigen Differenzierung vor
und bietet entsprechende Übungsfelder.
7.5 Schüler und Schülerinnen mit Lernrückständen oder Lernschwierigkeiten erhalten wirksame
Unterstützung.
7.6 Die Schule gibt Kindern aus anderen Sprach- und Kulturkreisen Hilfen zur schulischen, kulturellen
und gesellschaftlichen Eingliederung.
7.7 Die Pflichtquote mit Wahlmöglichkeit ergänzt in pädagogisch begründeter Weise den Kernunterricht.
7.8 Das Wahlangebot deckt vielfältige unterschiedliche Interessen ab und ist am Schulprogramm
orientiert.
7.9 Die Lernenden erhalten Information und Orientierung im Hinblick auf die weitere Ausbildung und die Berufsmöglichkeiten.
7.10 Die Schule gibt Unterstützung bei Schul- und Klassenwechsel.“(Deutsches Schulamt, Qualitätsrahmen für die deutsche Schule in Südtirol – Indikatoren 2014 b, 3)
Das italienische Bildungssystem wird sich zunehmend dieser Vielfalt an Lernvoraussetzungen und spezifischen Bedürfnissen der Lernenden gewahr und versucht mit einer Reihe von rechtlichen Bestimmungen den Rahmen abzustecken. So erscheint 2010 das Gesetz Nr. 170 (MIUR 2010b), das die Rechte der Schüler und Schülerinnen mit spezifischen Lernstörungen regelt. Gemeint sind damit Dyslexie, Dysgraphie, Dysorthographie und Dyskalkulie. Diese Schüler und Schülerinnen werden nicht Schülern mit einer Beeinträchtigung gleichgesetzt, auch ihnen werden aber, sofern ein klinisch psychologischer Befund vorliegt, sowohl Kompensations- als auch Befreiungsmaßnahmen zugesichert. In der Folge werden diese Bestimmungen immer wieder nachgebessert und die Gruppe der Betroffenen wird ausgeweitet. Es scheint so, als würde sich Italien erst jetzt dieser Diversität bewusst. Sehr differenzierte Leitlinien[9] sollen im Sinne der Gesetzgeber Lehrpersonen und Schulen im Umgang mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen mehr Sicherheit geben. Außerdem sehen sie eine Reihe von Kompensations- und Befreiungsmaßnahmen vor im Sinne eines Nachteilsausgleichs auch in Bezug auf die Leistungsbewertung. In der Tat wurden dadurch nur neue Kategorien etabliert, die ihrerseits wieder einen Sonderstatus in der bereits komplexen Schülerlandschaft erhielten. Zudem sind die Abgrenzungen nicht immer so eindeutig und die gewährten Maßnahmen nicht immer ausreichend, um auch diesen Schülern und Schülerinnen das Erreichen der geforderten Kompetenzen auf den jeweiligen Schulstufen zu ermöglichen. In Wirklichkeit wird dadurch alles noch stärker reglementiert, werden eher Barrieren für das Lernen und die Teilhabe auf- anstatt abgebaut, weil es immer darum geht, wer wohl in welches Kästchen passt und welche besonderen Rechte auf spezifische Maßnahmen damit verbunden sind. Eine solche Zugangsweise steht im Widerspruch zur Inklusion und führt vielmehr zu einer noch stärkeren Etikettierung und Ausdifferenzierung und in der Folge zu einer Aussonderung von Schülern und Schülerinnen in einem inklusiven Bildungssystem. Man setzt immer noch am einzelnen Schüler an und nicht am Umfeld, am Setting. Indem man Lernenden besondere Bedürfnisse zuschreibt, geht man bereits von einer defizitorientierten Sichtweise aus, werden bestimmte Kinder eben als „besonders“ im Vergleich zum Rest der Lerngruppe, im Vergleich zu einer fiktiven Norm hervorgehoben. Es geht nicht darum immer genauer die besonderen Bedürfnisse zu diagnostizieren, sondern darum, die Vielfalt an Lernvoraussetzungen, Kompetenzen und Fähigkeiten als die Norm eines inklusiven Bildungssystem anzusehen und entsprechend die Bildungsangebote zu gestalten. In letzter Zeit werden zunehmend Stimmen laut, die diese „Etikettierungs- und Diagnosewut“ kritisch betrachten (Dovigo 2015, Gasteiger-Klicpera &Wohlhart 2015, Fiorin 2016). Es sollte doch wohl möglich sein, aufgrund einer guten pädagogischen Diagnostik für alle Schüler und Schülerinnen Lernangebote so zu gestalten, dass alle ihren Möglichkeiten entsprechend erfolgreich am gemeinsamen Lernen teilhaben können, all jene Unterstützungen erhalten, die sie brauchen und für die jeweils notwendige Zeit, ohne dafür Diagnosen zur Rechtfertigung zu brauchen. Eigentlich bräuchte es für alle Schüler und Schülerinnen individuell angepasste Bildungspläne, d.h. es braucht einen allgemeinen Bildungsplan, der an die unterschiedlichen Bedarfslagen angepasst wird. Sicher Lehrpersonen brauchen spezifisches Wissen und Kompetenzen, um diesen vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden, aber in erster Linie sind Haltungen gefragt, die allen Kindern Wertschätzung entgegenbringen, aber auch allen Kindern Entwicklungsmöglichkeiten zutrauen und zumuten.
Durch die Zuwanderung von Familien nicht deutscher Muttersprache, hat sich das Spektrum an Vielfalt weiter erhöht. Und auch hier gilt es, spezifische Angebote zu machen und Maßnahmen zu planen. Wertvolle Arbeit liefern hier die Sprachenzentren in den einzelnen Bezirken der Provinz Bozen. Ihre Hauptaufgabe ist es, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen zu erleichtern, Eltern dabei zu beraten, Schulen zu unterstützen, Sprachfördermaßnahmen zu planen und durchzuführen, sowohl für Kinder, als auch in Zusammenarbeit mit andern Institutionen für Erwachsene; des Weiteren die Bereitstellung von didaktischem Material, die Unterstützung von Sprachförderprojekten, die Erarbeitung von spezifischen Fortbildungen für Kindergärten und Schulen. Auch dies erfolgt unter einem inklusiven Ansatz. Schüler und Schülerinnen werden ihrem Alter entsprechend wohnortnah Klassen zugewiesen. Dort werden die notwendigen Maßnahmen geplant und umgesetzt. Zur Unterstützung wurde ein Maßnahmenpaket 2016-2021 (Deutsches Schulamt 2015 b) beschlossen, das ebenso den Grundgedanken der Inklusion unterstreicht: „Mehrsprachigkeit ist in der Welt keine Ausnahme, sondern die Norm. Mehrsprachigkeit wird als Reichtum angesehen, als kultureller Schatz und als Chance für vielfältige Kommunikation. Mehrsprachigkeit ist keine Gefahr für die Erstsprache Deutsch, wenn der Erstsprache die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Mehrere Sprachen befruchten sich gegenseitig und können das Sprachbewusstsein erhöhen.“ (ebd. S.2)
Als Italien sich für die bedingungslose Integration aller Kinder mit einer Beeinträchtigung entschieden hat, wurde mit demselben Gesetz (MIUR 1977, l. n. 517/1977) auch die Bewertung an diese neue Situation angepasst. So wurden die Nachprüfungen im Herbst abgeschafft und die Ziffernbewertung wurde in der Grundschule und in der Mittelschule durch eine verbale Bewertung ersetzt, da man damit besser auf die individuellen Eigenarten der Lernenden eingehen kann. Nur im Rahmen der Abschlussprüfung über die Mittelschule wurden synthetische Bewertungen[10] vergeben. Gleichzeitig wurde auch die verbindliche Planung im Rahmen der Kollegialorgane (Klassenräte und Teams) eingeführt und damit die Vernetzung und Rückkoppelung zwischen Planung und Bewertung als pädagogisches Prinzip gesetzlich festgelegt. Diese Neuerung traf Lehrpersonen und Eltern völlig unvorbereitet und hat insbesondere zu Beginn zu Verunsicherungen und Widerständen geführt. Auch war die verbale Bewertung mit erhöhtem Arbeitsaufwand für die Lehrpersonen verbunden und hätte, um transparent und aussagekräftig die Lernentwicklungen der Lernenden darzustellen, auch einer umfassenden Fortbildung bedurft, die es aber nicht gegeben hat. So blieben viele Lehrpersonen, Eltern, Schüler und Schülerinnen in ihren Vorstellungen weiterhin an den Ziffernnoten verhaftet. Kaum ein Bereich im Bildungssystem wurde so oft „reformiert“ wie die Bewertung (Tirittico 2009). Für eine förderorientierte Bewertung hatte sich die Unterrichtsministerin Moratti eingesetzt (MIUR 2004, Decreto legislativo 19 febbraio 2004, n. 59 , Allegati) und neue Instrumente dafür eingeführt: das Portfolio als Dokumentation der Lernentwicklung und eine kontinuierliche Lernberatung. Und dies verbunden mit einer umfassenden Fortbildung. Nur stießen diese beiden Instrumente bei Gewerkschaften und Lehrpersonen auf großen Widerstand (Tirittico 2008), da dadurch der Arbeitsaufwand noch größer wurde. Im Hinterkopf vieler Lehrpersonen standen immer noch die Ziffernnoten, da diese für viele die einzige Möglichkeit einer eindeutigen Leistungsbeurteilung darstellten. 2008 wurden denn auch im Hauruckverfahren durch die Unterrichtsministerin Gelmini die Ziffernnoten für alle Schüler und Schülerinnen ab Klasse 1 der Grundschule wieder eingeführt, da, so ihre Aussagen, nur durch Ziffernnoten die Leistung der Schüler und Schülerinnen eindeutig definiert werden könne. Ein totaler Rückschritt und Widerspruch, wenn man dies in Verbindung mit der Zunahme der Heterogenität in den Klassen sieht. Und doch hat es damals kaum heftige Kritik gegen diese Maßnahme gegeben (D’Avolo, P., Monachesi, E.). Die häufigen Neuerungen in der Bewertung hatten viele mürbe gemacht und man war froh wieder eine einfache und leicht zu handhabende, „transparente und gerechte“ Form der Leistungsbeurteilung gefunden zu haben. Nach wie vor liegt die Verantwortung für die periodische und die Jahresbewertung bei allen Lehrpersonen des Klassenrates (Beschluss L.R. vom 12. Oktober 2009, Nr. 2485, Art. 6, Abs.1). Während des Schuljahres erfolgt die Bewertung „kontinuierlich, ist förderorientiert und berücksichtigt Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen und Kenntnisse in Form von verbalen Beschreibungen und Ziffernnoten“ (ebd. Art. 7, Abs. 1), wobei man aus pädagogischen Überlegungen sich auf die Notenskala von fünf bis zehn beschränken sollte.[11] In der Grundschule kann der Klassenrat nur in Ausnahmefällen, mit besonderer Begründung und mit Stimmeneinhelligkeit Schüler und Schülerinnen nicht in die nächste Klasse der Grundschule sowie in die erste Klasse der Mittelschule versetzen (ebd. Art. 8). In der Mitteschule erfolgen Nicht-Versetzungen mit Mehrheitsbeschluss des jeweiligen Klassenrates (ebd. Art. 15). Besondere Vorgehensweisen sind für Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung, mit Lernstörungen und mit Migrationshintergrund vorgesehen, wo entweder differenzierte Bewertungskriterien oder entsprechende Befreiungs- und/oder Kompensationsmaßnahmen zum Tragen kommen. Derzeit wird in Südtirol der Entwurf für ein neues Bildungsgesetz diskutiert, in dem man wieder bis zum Ende des zweiten Bienniums der Oberstufe die Möglichkeit einer kompetenzorientierten Bewertung vorsieht (Landesgesetzentwurf „Unsere gute Schule“ 2015, Art. 1 septies)[12]. Auf der Grundlage dieses Bewertungskonzeptes kann auch auf die Bewertung mittels Ziffernnoten verzichtet werden. Damit wäre ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiven Bewertung gegeben, d.h. nicht mehr aufbauend auf der Vergleichbarkeit durch Noten, sondern durch Kompetenzen, die auch auf sehr unterschiedlichem Niveau erreicht werden können. Auch im Staatsgesetz „La buona scuola“ (MIUR, l.107/13 luglio 2015) ist ein Passus enthalten, mit dem eine Überarbeitung der bisherigen Bewertungsmodalitäten vorgesehen wird. Wichtig in diesem Bereich ist nur, dass häufige Wechsel der Bestimmungen vermieden werden. Nur so kann sich eine Bewertungskultur auch langfristig etablieren.
Einen letzten nicht unbedeutenden Schritt in Richtung Inklusion stellt das neue Landesgesetz (Autonome Provinz Bozen 2015, G. Nr. 7) dar. Typisch für sämtliche Gesetze in diesem Bereich ist die Tatsache, dass es sich um umfassende, sämtliche Lebensbereiche betreffende Gesetze handelt; Schule und Bildung ist nur ein Bereich von vielen.
Diese Einbettung in einen globalen Lebenszusammenhang ermöglicht einerseits eine gute Verknüpfung und Anbindung zwischen den verschiedenen Bereichen aber auch eine gute Lesbarkeit. Im Abschnitt „Schule und Bildung“ (ebd. Art.6 – 13) wird nochmals eindeutig das Recht aller Kinder sowie der Schüler und Schülerinnen mit Behinderungen auf eine Schule bestätigt, „die das Prinzip der Inklusion“ (Art. 6, Abs.1) verwirklicht. In der Folge wird dieses Recht noch genauer definiert. Es geht um ein Bildungssystem, das „die Vielfalt und individuelle Unterschiede aller Kinder, Schülerinnen und Schüler als Normalität und Ressource betrachtet,… das die vielfältigen Bedürfnisse, Lernmöglichkeiten, Interessen und Begabungen der Kinder, Schülerinnen und Schüler [berücksichtigt] und spezifische, auf die einzelne Person abgestimmte Maßnahmen und Bildungsangebote [verwirklicht], das Barrieren in Bildung und Ausbildung [beseitigt] (ebd. Art. 6, Abs.1). Diese Definition von Normalität steht im Gegensatz zu einem Diskurs, der Normalität aufgrund vordefinierter Standards definiert. Wer dem nicht entspricht, ist „besonders“. Unterstrichen wird auch die Notwendigkeit einer inklusionsorientierten Aus- und Fortbildung des gesamten Personals, sowie die Zuweisung von Personal mit spezifischen Kompetenzen. Hier wird nicht von spezifischen Berufsbildern gesprochen, da man der Vielfalt an den Schulen nicht mehr nur mit spezifischen Berufsbildern begegnen kann, vielmehr müssen der Vielfalt der Lernenden vielfältige Kompetenzen auf Lehrerseite entsprechen. Diese können sowohl durch verschiedene Master, aber auch durch eine kontinuierliche Fortbildung erworben werden. Neben den spezifischen Fortbildungsangeboten auf Landesebene, hat sich in den letzten Jahren auch der Index für Inklusion als wichtiges Instrument für die Selbstevaluation und Prozessbegleitung der Schulen etabliert (Brugger, E. et al. 2013). Um diesen Ansatz zu unterstützen werden Schulen besonders gefördert, die Projekte im Sinne des Index für Inklusion initiieren und umsetzen (Deutsches Schulamt, Mitteilung des Schulamtsleiters vom 25.3.2015). Das Gesetz für die „Gute Schule“ (Gesetzesentwurf „Änderung zu Landesgesetzen im Bereich Bildung, Art. 12-novies) sieht außerdem erstmals wieder seit vielen Jahren eine für alle verpflichtende Fortbildung vor, die von den einzelnen Schulen entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse geplant, durchgeführt und verantwortet werden muss. Alles kleine Schritte hin zu einer Qualitätssteigerung einer inklusiven Schule. Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen, wird es wohl auch nie sein.
Aktuelle Daten zur schulischen Integration gibt es nur bezogen auf die gesamtstaatliche Situation[13]. Prozentuell hat sich die Anzahl der Kinder, Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt. Italienweit wurden im Schuljahr 2015/16 223.567 Kinder, Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung gezählt. Davon fallen 7,4% auf den Kindergarten, 36% auf die Grundschule, 29% auf die Mittelschule und 27% auf die Oberschule. Der stärkste Anstieg an Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung ist an der Oberschule zu verzeichnen[14] (Govi 2016, 16); dies in Folge der Anhebung der Bildungspflicht und des Bildungsrechts für mindestens 12 Jahre bzw. bis zur Erlangung einer mindestens dreijährigen beruflichen Qualifikation (Autonome Provinz Bozen, LG. Nr. 5/2008). Gleichermaßen angestiegen ist auch die Anzahl der Stellen für Integrationsunterricht, die sich im selben Zeitraum ebenfalls mehr als verdoppelt hat (Govi 2016, 14) Rein numerisch würde damit pauschal das Verhältnis Integrationslehrperson/Schüler und Schülerin mit einer Beeinträchtigung 1,73 betragen. Die Realität sieht dann etwas komplexer aus. In Südtirol erfolgt die Zuweisung der Integrationslehrpersonen an allen staatlichen Schulen unter Berücksichtigung der Chancengerechtigkeit und unter Anwendung transparenter Kriterien im Rahmen eines von der Landesregierung beschlossenen Landesstellenplans. Schüler-innen mit einer Beeinträchtigung werden nach Schweregrad in drei Gruppen zusammengefasst; für jede Gruppe wird dieselbe Mindestanzahl von Integrationsstunden pro Schüler und Schülerin vorgesehen. Aufgrund der jeweiligen Schulsituation werden die restlichen Stunden laut eigenen Kriterien (Klassen- und Schulgröße, Komplexität des jeweiligen Sprengels usw.) der Schule zugewiesen. Auch hier kommt wieder der Grundsatz zum Tragen: Integrationslehrpersonen werden dem Schulsprengel[15] nicht dem einzelnen Schüler, der einzelnen Schülerin mit einer Beeinträchtigung zugewiesen. Es ist dann Aufgabe der Schulführungskraft die Integrationsstunden aufgrund der jeweiligen Schulsituation und der internen Ressourcen den einzelnen Klassen zuzuweisen, wobei die Förderung der Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung Vorrang hat und bestmöglich garantiert werden muss. Zusätzlich kann um Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter für Integration angesucht werden, wenn im Vordergrund pflegerische oder rehabilitative Maßnahmen stehen (Deutsches Schulamt, Leitlinien für die Zuweisung zusätzlicher Personalressourcen 2013). Derzeit verfügt in der Grundschule in Südtirol der Großteil der Integrationslehrpersonen über eine spezifische Zusatzqualifikation, während wir in der Mittelschule nur auf 30% und in der Oberschule auf 28% kommen (Deutsches Schulamt 2015 c). Die restlichen Integrationslehrpersonen haben zwar eine universitäre Ausbildung als Lehrpersonen, verfügen aber nicht über die Zusatzqualifikation für den Unterricht mit Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung. Diese rechtlich prekäre Situation führt auch zu einem hohen Lehrerwechsel gerade bei Integrationslehrpersonen und diese mangelnde Kontinuität wirkt sich negativ auf die Arbeit im Lehrerteam, aber insbesondere auch in der Begleitung der Familien und der Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung aus.
Wenn auch Italien von der gesetzlichen und wohl auch von der gesellschaftlichen Ausrichtung her sehr fortschrittlich ist in Bezug auf das Recht aller Kinder auf einen gemeinsamen Unterricht in einer gemeinsamen Schule, so hat es doch die dazu notwendige Ausbildung der Lehrpersonen sträflich vernachlässigt. Erst im Jahre 2000 wurde die Lehrerausbildung für Kindergarten und Grundschule auf universitärem Niveau eingeführt. Für die Sekundarschulen, war bis zum Jahr 2012 nur eine fachspezifische universitäre Ausbildung vorgesehen (als Physiker, Mathematiker, Biologe, Architekt usw.) aber ohne weitere pädagogisch-didaktische Ausbildung. Und auch derzeit sind die Universitären Berufsbildungskurse und Sonderlehrbefähigungskurse für Sekundarschulen ersten und zweiten Grades, noch sehr begrenzt, insbesondere was den Bereich der Inklusion betrifft. Ein inklusiv ausgerichtetes Bildungssystem erfordert auch eine entsprechende Ausbildung des Personals. Dies kann aber nur gelingen, wenn bereits im Grundstudium zukünftige Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen auf die Aufgabe vorbereitet werden, sich für die gesamte Gruppe/Klasse mit all den Facetten an Heterogenität zuständig zu fühlen. Es gilt, ein Grundverständnis für diese Thematik aufzubauen, Studierende für den Themenbereich zu sensibilisieren, Haltungen aufzubauen, die eigene Lernbiografie in Bezug auf Anderssein zu thematisieren. Dies ist ein nicht immer leichter Weg, weil es auch nicht leicht ist, Altlasten abzuwerfen und neue Weg zu beschreiten. Bis vor Kurzem hatten Studierende der Bildungswissenschaften ab dem 3. Studienjahr, als Ergänzung zum Grundstudium, die Möglichkeit die Zusatzbefähigung für den Integrationsunterricht zu erlangen. Dafür waren jedoch nur insgesamt 400 Stunden vorgesehen, 100 davon für Praktika in integrierenden Gruppen und Klassen. Eine Ausbildung, die für alle ziemlich unbefriedigend war, da sie zeitlich zu gedrängt war und somit nicht zur Erlangung der für diese Spezialisierung erforderlichen Kompetenzen führte. Integrationskindergärtnerinnen und –lehrpersonen verfügen demnach über eine vertiefte Ausbildung im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Regelunterricht. Dies ermöglicht es dem spezialisierten Personal bei grundlegenden pädagogisch-didaktischen Entscheidungen, die Gruppe, Klasse betreffend, kompetent mit zu reden, aber auch den Unterricht für die gesamte Klasse zu übernehmen. Der Schwerpunkt der Zusatzqualifikation liegt nicht in der Fachdidaktik, sondern vielmehr im Erfassen und Erkennen von Situationen, individuellen Bedürfnissen, in der Planung und Ausarbeitung entsprechender inklusiver Lernsituationen, in der Unterstützung der Fachkräfte bei der Differenzierung und Individualisierung der Angebote, aber auch in Kenntnissen über bestimmte Behinderungsarten und Störungsbilder. Weiter gehören dazu besondere diagnostische Kompetenzen, Kompetenzen in der Planung individuell auf die Bedürfnisse von Kindern mit Beeinträchtigung abgestimmter Maßnahmen und der Evaluation derselben.
Mit dem Übergang zum fünfjährigen einstufigen Masterstudium für Kindergarten und Grundschule hat man nun versucht, eine Reihe von Lehrveranstaltungen den Bereich Integration und Inklusion betreffend in diese Grundausbildung einzubauen, so Integrative Didaktik und Integrationspädagogik, Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Pädagogik der Inklusion, Sprachenvielfalt und Lernen, Interkulturelle Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften, Neuropsychiatrie des Kindesalters, Klinische Psychologie, Diversität, Lernschwierigkeiten und Lernbeeinträchtigungen, Pädagogik der Sehbeeinträchtigungen Pädagogik der Hörbeeinträchtigungen (Freie Universität Bozen, 2015) [16] Damit wird für das Grundstudium ein Modell vertreten, das abgeht von der immer genaueren Kategorisierung von Kindern hin zu einem Bildungsangebot, das die Diversität als grundlegendes Paradigma anerkennt. Gelingen kann dies nur, wenn Studierende auch in den Praktika entsprechende Erfahrungen machen, wenn die Größe der Lerngruppe reflexives Arbeiten ermöglicht, wenn das gesamte Curriculum nach diesen Grundsätzen ausgerichtet ist und unter den Dozenten und Dozentinnen ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Philosophie der Inklusion besteht. Noch scheinen Integrationspädagogik und –didaktik als Parallelveranstaltungen zur Allgemeinen Pädagogik und Didaktik auf. Und gerade darin liegt der Widerspruch. Wenn wir den Auftrag der Rahmenrichtlinien ernst nehmen, dann kann es eigentlich nur eine Pädagogik und Didaktik geben, die alle Kinder und Schüler und Schülerinnen mit ihren individuellen Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen in den Mittelpunkt der Bildungsarbeit stellt, also eine „Allgemeine inklusive Pädagogik und Didaktik“. Die inklusionsorientierten Grundsätze müssen als durchgehendes Prinzip in allen Lehrveranstaltungen auch in den Fachdidaktiken grundgelegt werden, auch wenn der Begriff „Inklusion“ nicht im Titel der Veranstaltung aufscheint. Inklusion kann nicht an einzelne Lehrveranstaltungen delegiert werden. 2011 hat die Europäische Agentur für Entwicklung in der sonderpädagogischen Förderung einen Bericht herausgegeben zu einer inklusionsorientierten Lehrerbildung. Teil dieses Berichtes ist ein „Profil für inklusive Lehrerinnen und Lehrer“ (Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung 2012), das die Grundlage für die universitäre Ausbildung darstellen kann. Der Fakultätsrat der Bildungswissenschaftlichen Fakultät das Profil für inklusionsorientierte Lehrerbildung als verbindliche Grundlage für alle Lehrveranstaltung beschlossen. Nun gilt es dies auch in allen Lehrveranstaltungen konsequent umzusetzen. Aufgabe der universitären Ausbildung ist es, dafür zu sorgen, dass zukünftige Kindergärtner und Kindergärtnerinnen sowie Lehrpersonen aller Bildungsstufen die notwendige Professionalität erwerben, um mit der wachsenden Diversität der Schüler und Schülerinnen kompetent umzugehen, ohne sich andauernd überfordert zu fühlen.
Die derzeitige Ausbildungsstruktur sieht für alle Lehrpersonen der verschiedenen Bildungsstufen vor, dass sie vorerst eine Grundausbildung absolvieren. Erst im Anschluss kann man sich für die Zusatzausbildung entscheiden. Diese Zusatzqualifikation hat eine Dauer von einem Studienjahr (60 CP, davon mindesten 12 CP für das Praktikum, MIUR; 2010a) wurde aber in Brixen noch nicht durchgeführt, weil das Gesetz 107/2015 bereits eine weitere Reform dieser Ausbildung vorsieht, man weiß aber noch nicht, wie diese strukturiert sein wird. Im Rahmen der Tagung „La Qualità dell'integrazione scolastica e sociale“, die alle zwei Jahre in Rimini stattfindet und diesmal von 5.000[17] Teilnehmer_innen besucht war, wurde ein Abschlussdokument verabschiedet (Centro Studi Erickson 2015), das ein inklusives Curriculum für die gesamte Lehrerausbildung einfordert, ebenso wie vielfältige Zusatzqualifikationen, welche das gesamte Spektrum an Diversität und Vielfalt umfassen sollen. Also nicht eine nur auf den Bereich „Beeinträchtigung“ reduzierte Spezialisierung, sondern eine Ausbildung, die transversal vielfältige Formen der Kompetenzerweiterung vorsehen soll, damit diese Lehrpersonen, sowohl spezifische Einzelfall bezogene Kompetenzen, aber auch Beratungskompetenzen für Lehrpersonen und für die gesamte Schulgemeinschaft erwerben können. Auf alle Fälle vermieden werden sollten getrennte Ausbildungen zwischen Regellehrpersonen und Integrationslehrpersonen. Derzeit werden erstmals Wettbewerbe für den Integrationsunterricht für die verschiedenen Bildungsstufen ausgeschrieben. Damit will man eine bessere Gewähr der spezifischen beruflichen Qualifikationen der Integrationslehrpersonen sichern.
Im Vorwort zum Bericht der Expertengruppe der EA zur inklusionsorientierten Lehrerbildung in Europa betont der Direktor der EA Cor Mejor die Bedeutung der Lehrkräfte: „Wir können auf vielen Ebenen über Inklusion sprechen … aber am Ende ist es immer noch die Lehrkraft, die mit den unterschiedlichsten Schülern und Schülerinnen im Unterricht zurechtkommen muss! Es sind die Lehrkräfte, die die Grundsätze der inklusiven Bildung umsetzen müssen. Wenn eine Lehrerinnen und ein Lehrer nicht in der Lage ist, in der Regelschule Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürfnissen zu unterrichten, sind alle guten Absichten einer inklusiven Bildung wertlos.“ (Europäische Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung 2011, 5)
Auf nationaler Ebene nimmt ein Beispiel eine besondere Position ein: Daniela Boscolo, eine Integrationslehrperson an einer Berufsschule in Porto Viro (Region Venetien), wurde 2014 im Global teacher Price unter die 50 besten Lehrpersonen der Welt gereiht (Vareky, 2014). Sie hatte an dieser Schule ein besonderes Projekt geplant und umgesetzt, bei dem Schüler mit einer Beeinträchtigung mit Unterstützung ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen in einem vorerst an der Schule simulierten Supermarkt auf spezifische Kompetenzen vorbereitet wurden, die sie dann in Stages in Supermärkten in der Umgebung der Schule verfeinern und trainieren konnten.
Seit 2006 haben zudem mehrere Studierende mit Down Syndrom an verschiedenen Universitäten Italiens in ganz unterschiedlichen Studiengängen Hochschulabschlüsse erreicht. Auch dies sind Beispiele positiver Praktiken (Leucci 2011, Tiso 2011).
Realität ist aber auch, dass bestimmte Grundsätze, die bereits im Gesetz 517/77 verankert waren, noch immer nicht für alle zur Selbstverständlichkeit geworden, so z.B.,
Von Inklusion im eigentlichen Sinn können wir erst dann sprechen, wenn die Vielfalt nicht als Belastung, sondern als Bereicherung erlebt wird, wenn sie von allen als die Normalität empfunden wird, wenn die dafür notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen als systemimmanente Grundausstattung gesehen werden und nicht als Mehrausgabe, an der man immer wieder feilen und Abstriche machen kann. Und dies macht sich insbesondere in Krisenzeiten bemerkbar.
[2] Ein Schulsprengel besteht in der Regel aus ein bis zwei Mittelschulen und mehreren Grundschulen.
[3] Die Integration in die Oberschule wurde 1987 geregelt, jene in die Universität mit dem Rahmengesetz 104/92.
[4] Diese Bezeichnung wurde im Jahre 2013 mit dem neuen Programmabkommen ersetzt durch „Individueller Bildungsplan“
[5] Diese Angebote sind in der Regel unentgeltlich. Therapien sind tickettpflichtig.
[6] MIUR ist die gebräuchliche Abkürzung für „Ministero dell’Istruzione, dell’Università e della Ricerca“.
[7] Damit meint man das Recht auf spezifische Maßnahmen für Kinder, Schüler und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung in einem inklusiven Bildungssystem. Diese Rechte werden durch die Inklusion nicht aufgehoben.
[8] Bezogen auf das Schuljahr 2014/15 sehen die Repetentenquoten folgendermaßen aus: Repetenten Grundschule 0,3%, Mittelschule 2,2%, in den Oberschulen 6.2%, wobei anhand der Daten keine Unterscheidung zwischen Schülern und Schülerinnen mit und ohne Beeinträchtigung möglich ist.
[9] Ministro dell’Istruzione, dell’Università e della Ricerca. Direttiva ministeriale 27/12/2012: Strumenti d’intervento per alunni con bisogni educativi speciali e organizzazione territoriale per l’inclusione scolastica, http://hubmiur.pubblica.istruzione.it/alfresco/d/d/workspace/SpacesStore/8d31611f-9d06-47d0-bcb7-3580ea282df1/dir271212.pdf
Circolare Miur n.8 del 6 marzo 2013: Indicazioni operative alunni con BES
[10] ungenügend, genügend, gut, sehr gut und ausgezeichnet
[11] In Italien ist 10 die beste Note, 5 ist ungenügend.
[12] Hier ist noch die Genehmigung durch das Ministerium für Unterricht, Universität und Forschung abzuwarten.
[13]Für Südtirol gibt es aus Gründen der Privacy keine offiziellen Daten zu den Kindern, Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung.
[14] von 11,7 im Jahre 1997/98 bis auf 27% in diesem Schuljahr.
[15] Ein Schulsprengel besteht in der Regel aus mehreren Schulstellen bis zu einem Maximum von 500-700 Schülern. Hier spielt auch die Entfernung der einzelnen Schulstellen und deren Erreichbarkeit eine wesentliche Rolle bei der Zuweisung von zusätzlichen Personalressourcen. In der Grundschule sind die Hälfte der Schulen niederorganisierte Schule, d.h. diese Schulen haben weniger als 5 Klassen. In Italien hat die Grundschule eine fünfjährige Laufzeit.
[16] In keinster Weise ist derzeit diese Vielfalt an Lehrveranstaltungen im Bereich Integration und Inklusion in der Grundausbildung der Sekundarschullehrpersonen abgesichert.
[17] Es handelt sich nicht um einen Tippfehler!