Liebe Leser_innen,
als Gastherausgeber_innen der Zeitschrift Inklusion möchten wir die bislang fast ausschließlich im anglophonen Wissenschaftsraum geführte Debatte um „Ableism“ im Rahmen der deutschsprachigen Sozial-, Erziehungs- und Kulturwissenschaften, insbesondere der Disability Studies aufgreifen, weiterführen und ausweiten. Mit der Kritik an Ableism wird vorgeschlagen, in der Forschung zu Behinderung den Blick „umzukehren“, und all jene Prozesse zu untersuchen, die Fähigkeiten herstellen und/oder zuschreiben. Diesen Vorschlag halten wir für sehr produktiv und haben uns im Rahmen einer Veranstaltung auf dem 35. Kongress der DGfE an der HU Berlin damit auseinandergesetzt. Das Ergebnis präsentieren wir Ihnen nun in Form dieses Special Issues „Ableism: Behinderung und Befähigung im Bildungswesen“. Das Heft umfasst insgesamt acht Beiträge, die wir Ihnen kurz vorstellen möchten:
Der einführende Beitrag „Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen“ von Tobias Buchner, Lisa Pfahl und Boris Traue gibt einen Ein- und Überblick über die Debatte. Neben einer Beschäftigung mit der Herkunft und dem Potential des Begriffs Ableism wird aufgezeigt, dass mit der Forschung im Umfeld dieses Terminus eine thematische Erweiterung und Perspektivenverschiebung der Untersuchung von Behinderung vorgenommen wird. Behinderung wird nicht mehr nur als abweichende Differenz zur Normalität verstanden, sondern als zwischenmenschliches und gesellschaftliches Verhältnis, das in der Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet. Der Begriff Ablesim bezeichnet all jene sozialen, soziotechnischen und technischen Prozesse, die Individuen, Gruppen oder Dingen Fähigkeiten und Begabungen zuschreiben, sei es in auf- oder abwertender Weise. Untersuchungen von Ableismus setzen dazu an, die gesellschaftliche Anschauung von Fähigkeiten und (vorgeblich oder real) fähige Personen zu untersuchen.
Hanna Meissner greift in ihrem Beitrag „Studies in Ableism – Für ein Vorstellungsvermögen jenseits des individuellen autonomen Subjekts“ die Frage nach dem theoretischen Zusammenspiel von Ableism, Subjektivität und Sozialität auf. In einem ersten Schritt dekonstruiert sie in Referenz auf Theoretiker_innen der Disability Studies jene fraglosen Normalitäten, die von einem Subjektideal getragen werden, das auf Fähigkeiten und absolute Autonomie ausgerichtet ist. Individualisierende und gleichzeitig normalisierende Imperative produzieren jene Denkschemata, welche die eigentliche Interdependenz eines jeden Subjekts verunsichtbaren. Genau diese historische Situation der konstitutiven Verneinung von Abhängigkeiten kann als grundlegendes Hindernis für Inklusion erachtet werden – und nicht die scheinbare erhöhte Vulnerabilität von bestimmten Körpern. Vielmehr geht es bei Inklusion als gesellschaftlichem Projekt darum, genau diese Denkstrukturen zu verschieben und das Subjekt anders zu denken, nämlich als grundsätzlich verletzlich und von anderen abhängig.
Swantje Köbsell stellt in ihrem Aufsatz „Disability Studies in Education“ einen Forschungsbereich vor, der im deutschsprachigen Raum bisher relativ wenig Beachtung erfahren hat: die Disability Studies in Education. Dieser Forschungsstrang hat im Laufe der letzten Jahre nicht nur wesentliche theoretische Impulse zur Weiterentwicklung von Inklusion geliefert, sondern auch praktische Fragen bearbeitet, wie die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts. Disability Studies in Education sind mittlerweile, wie Köbsell aufzeigt, eine etablierte Strömung innerhalb der bildungswissenschaftlichen Landschaft in Nordamerika, was sich an einer verzweigten Organisations- und Netzwerkstruktur ablesen lässt. Die Auseinandersetzung mit der Herstellung von Normalitäten in Bildungskontexten und das Herausarbeiten von alternativen, die benannten problematischen Normalitäten aufbrechenden Praktiken, machen auch vor dem Hintergrund der in diesem special issue enthaltenen empirischen Ergebnisse die Bedeutung der Disability Studies in Education als „kritische Begleiterin“ der Inklusion deutlich.
Diese Perspektive wird im nachfolgenden Beitrag „Mediating Ableism: Border work and resistance in in the biographical narratives of young disabled people“ aufgegriffen, in dem Tobias Buchner unter einer subjektivierungstheoretischen Perspektive biographische Erzählungen von ehemaligen Schüler_innen der sogenannten 'ersten integrierten Generation“ hinsichtlich der in die Narrationen eingelagerten schulischen Normalitäten befragt. Wie die Schulbiographien zeigen, ist die Subjektposition „Schüler_in mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ mit Transformationsimperativen verwoben, die in Richtung einer ableistischen Körpernormalvorstellung zu erfolgen haben. Ableistische Schulkulturen und die damit verflochtenen Praktiken von Lehrer_innen bieten die Grundlage für ein „othering“, das von den Mitschüler_innen aufgegriffen und schließlich gewaltvoll aufgeladen wird. Peers mutieren dabei zu „Normalitätsrichtern“ (Foucault 1994, 392), die als „Grenzpatrouillen“ die Demarkationslinie zwischen „normal“ und „nicht normal“ überwachen und normalisierend auf als different identifizierte Individuen einwirken. Behinderte Schüler_innen entwickeln als Antwort auf die verpflichtenden ableistischen Normalitätsvorgaben mit unterschiedlichen Selbsttechniken. Anhand eines Fallbeispiels kann jedoch rekonstruiert werden, dass die biographische Präsenz von Gegen-Diskursen der Behindertenwirkung trotz fähigkeitsorientierter Schulnormalitäten Subjektivitäten ermöglicht, die nicht ableistisch strukturiert sind – was die Bedeutung und Notwendigkeit der Zugänglichkeit dieser Diskurse im schulischen Alltag unterstreicht.
Marianne Hirschberg nimmt in dem Beitrag „Die überaus fähige Lehrkraft. Zur Wirkungsweise von Ableism in der Subjektivierung von Lehrkräften“unter einem ableismuskritischen Blickwinkel einen anderen Schauplatz des Bildungswesens ins Visier: Die Konstruktion von Behinderung in den Einstellungspolitiken von Lehrkräften. Dazu werden Texte von deutschen Bildungsministerien und -behörden herangezogen, in denen Einstellungs-Regelungen für Lehrer_innen definiert werden. Eine diskursanalytische Beleuchtung der Texte zeigt, dass hierin Behinderung überwiegend als individuumsbezogene, defizitäre Kategorie konstruiert wird und die überaus fähige, ('weiße'), „nichtbehinderte“ Lehrkraft als wünschenswertes Zentrum der Ausschreibungstexte erscheint.
Gregor Wolbring und Sophya Yumakulov untersuchen in ihrer Analyse von Zeitschriftenartikeln der New York Times „ability expectations“, die an Kinder im Kontext von Bildung in den Vereinigten Staaten seit 1851 adressiert wurden. Die fähigkeitsbezogenen Erwartungen sind, wie der englischsprachige Beitrag mit dem Titel „Education through an Ability Studies Lens” zeigt, historisch kontingent und hängen mit gesellschaftlicher Veränderung und den daraus resultierenden Anforderungen an 'fähige Kinder' zusammen. In einem weiteren Schritt wird das Sample der Zeitschriftenanalyse bezüglich der Kategorie Lernbehinderung („learning disability“) untersucht. Lernbehinderung tritt darin erst ab den 1960er Jahren in Erscheinung. Dieser empirische Befund wird schließlich hinsichtlich seiner Bedeutung für die Produktion und Funktion der Kategorie betrachtet: die „Erfindung“ der Lernbehinderung steht demnach im engen Zusammenhang mit einem ableistischen Wettrennen mit der UDSSR, ausgelöst durch den „Sputnik-Schock“. Mit dem Verweis auf die Kontingenz der Konstruktion „Lernbehinderung“ wird im Anschluss kritisch nach deren Zukunft gefragt, auch in Bezug auf den emergierenden Diskurs zu „human enhancement“.
Julia Biermann richtet die ableismuskritische Linse auf ein anderes Feld im Bereich von Bildung. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Fiona Campbell, Gregor Wolbring und Jan Weisser fragt die Autorin in dem Beitrag „Dimensions of Ableism: Educational and Developmental Ability-Expectations”nach der Konstruktion hegemonialer, ableistischer Erwartungen, die in Kontexte von Bildung und Entwicklung eingelagert sind. Konkret werden die genannten Zusammenhänge an empirischem Material untersucht, dass auf Interviews zur Entwicklung von inklusiver Bildung in Nigeria mit verschiedenen Stakeholdern basiert. In den Aussagen der Akteure überlagern sich Elemente eines „educational“ und eines „developmental ableism“, die sowohl die Konstruktion von Nigeria als 'Entwicklungsland' als auch die Errichtung eines Schulsystems, das vermeintlich „Bildung für alle“ ermöglicht, als Teile eines kolonialistischen Projekts entlarven. Der sich abzeichnende „developmentalism“ basiert auf westlichen Normen und Werten, die als oktroyierte Wegweiser für die sozioökonomische Entwicklung eines Landes fungieren.
Das Special Issue schließt mit dem Beitrag „Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft“ von Rebecca Maskos. Darin erachtet die Autorin Ableism als Form der Beurteilung Einzelner hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie Funktionen, die scheinbar 'natürliche' Körpernormalitäten und damit verbundene Hierarchien entstehen lässt. Ableistische Normen führen zu diskriminierenden Praktiken, die sich in Denkmustern von Behinderung manifestieren, wie zum Beispiel von Beeinträchtigung als „Leiden“ oder dem Applaudieren der Heldentaten der sogenannten „supercrips“. Im Hauptteil des Aufsatzes wird Ableism schließlich als Kernelement verschiedener staatlicher Praktiken im Kontext von Behinderung analysiert. Dabei steht die Relevanz der Kategorie 'arbeitsfähig' im Vordergrund, die von Maskos hinsichtlich ihrer Verwobenheit mit der Produktion von „bürgerlichen Subjekten“ im Kapitalismus befragt wird.
Wir hoffen, das Special Issue trifft auf Ihr Interesse und würden uns freuen, mit Ihnen in eine lebendige Diskussion zu treten. Wir bedanken uns herzlich bei allen Beitragenden sowie bei der Redaktion der Zeitschrift Inklusion und wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!
Mit vielen Grüßen
Lisa Pfahl und Tobias Buchner