Michael Lichtblau: „Zuhause liegt der Kern des ganzen Problems!“ – Nicht gelingende Kooperation zwischen Familie und Bildungseinrichtung und deren negativer Einfluss auf die kindliche Entwicklung

Abstract:Wie empirische Längsschnittuntersuchungen nachweisen (u.a. Arndt, Rothe, Urban & Werning, 2012; Lichtblau, 2013c, 2014), ist eine gelingende Kooperation zwischen Familie und Bildungseinrichtung eine wichtige Voraussetzung für positive (Lern-)Entwicklungsverläufe von Kindern. Dies gilt insbesondere in der Transition von der Kindertagesstätte in die Schule (vgl. Rimm-Kaufman & Pianta, 2000). Wertschätzende Kooperation ist dabei immer auch das Ergebnis anschlussfähiger Kommunikationsprozesse zwischen den Systemen. Aus professioneller Sicht ist es gerade im Hinblick auf Austauschprozesse mit soziokulturell belasteten Familien von elementarer Bedeutung, sich bestmöglich über deren konkrete Lebenssituation zu informieren und ein Verständnis für die multiplen Stressoren, denen entsprechende Familien ausgesetzt sind, zu entwickeln. Gelingt dies nicht, werden kommunikative Missverständnisse begünstigt und können in einen konflikthaften und wechselseitig anschuldigenden Austausch führen, der sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Der Beitrag stellt im Sinne eines mahnenden Beispiels ein solches Fallgeschehen vor und diskutiert die individuelle Konfliktdynamik sowie mögliche Lösungsansätze.

Stichworte: Kooperation; Soziokulturelle Benachteiligung; Transition; Übergang; Familie; Kindertagesstätte; Grundschule; Kindliche Entwicklung; Konflikt; Interessen; Interessenentwicklung; Inklusion

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Theoretische Grundlagen
  3. Projektdesign
  4. Datenerhebung und –auswertung
  5. Erläuterung zur Fallauswahl
  6. Fallbeispiel „Ines“
  7. Ergebnisse der Untersuchungsphasen 1+2 im letzten Kindergartenjahr
  8. Ergebnisse der Untersuchungsphase 3 in der Grundschule
  9. Diskussion
  10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der folgende Beitrag versucht anhand der Darstellung eines Fallbeispiels, das aus dem Kontext einer Längsschnittuntersuchung zur Interessenentwicklung von Kindern aus soziokulturell benachteiligten Familien im Übergang vom Kindergarten zur Schule (u.a. Lichtblau, 2013b, 2014) stammt, nachzuzeichnen, wie geringe soziale Integration und fehlende soziale Eingebundenheit (vgl. Deci & Ryan, 2008) zu negativen Konsequenzen für die kindliche (Bildungs-)Entwicklung führen. Im Sinne der Schwerpunktsetzung dieser Ausgabe von Inklusion online spielen im Fallgeschehen kulturelle Differenzen eine tragende Rolle und behindern eine erfolgreiche Kooperation zwischen Elternhaus und Bildungseinrichtungen (vgl. Amirpur, 2015). Eine gelingende Kooperation dieser unterschiedlichen Mikrosysteme in der Transition vom Kindergarten zur Grundschule ist eine wichtige Voraussetzung zur Förderung einer kontinuierlichen (Lern-)Entwicklung des Kindes und die Basis für einen erfolgreichen Start in der Schule (Dockett et al., 2013; Dockett & Perry, 2007; Iorio & Parnell, 2015; Latte, 2012; Margetts & Kienig, 2013; Perry, Dockett & Petriwskyj, 2014). Es geht in diesem Kontext um die Schaffung bestmöglich anschlussfähiger Unterstützungsbedingungen der Systeme, in denen das Kind aufwächst, mit dem Ziel, den Wechsel vom Elementar- in den Primarbereich kooperativ und möglichst störungsfrei zu gestalten. So zeigen Untersuchungen, dass die Kooperationsbeziehung und damit verbundene Austauschprozesse zwischen Elternhaus und Bildungseinrichtung bedeutsame Einflussfaktoren für die kindliche Entwicklung darstellen, deren Gestaltung positive, wie auch leider negative Entwicklungsverläufe im Übergang moderiert (u.a. Arndt, Rothe, Urban & Werning, 2012, (Lichtblau, 2013c, 2014).

2. Theoretische Grundlagen

Die theoretische Operationalisierung der Transition Kita-Schule im Interessenentwicklungsprojekt (Lichtblau, 2013) erfolgte anhand des Ecological and Dynamic Model of Transition von Rimm-Kaufman & Pianta (2000). Die Transition von einer elementarpädagogischen Einrichtung zur Primarschule wird darin unter ökosystemischer Perspektive (Bronfenbrenner, 1993) als ein Prozess beschrieben, der durch die Wechselwirkungen der beteiligten Mikrosysteme (Familie, (Vor-) Schule, Peergroup, Nachbarschaft) bestimmt ist und sich unmittelbar auf das Kind auswirkt. Die Entwicklung des Kindes und speziell die erfolgreiche Bewältigung des „kritischen Lebensereignisses“ (vgl. Filipp, 1990) der Transition zur Schule gestaltet sich dem Modell folgend als direkter und indirekter transaktionaler Prozess der einzelnen Mikrosysteme (vgl. Griebel & Niesel, 2004).

Abbildung 1: Ecological and Dynamic Model of Transition (Rimm-Kaufman & Pianta, 2000).

Die theoretische Einordnung der kindlichen Interessen basierte in diesem Projekt auf der Person-Gegenstands-Theorie des Interesses (PGT) (u.a. Krapp, 2002; Krapp & Prenzel, 1992; Prenzel, 1988; Schiefele, 1974) und ist damit theoretisch anschlussfähig an relevante Vorläuferstudien zur kindlichen Interessenentwicklung in Vorschule und Schule (u.a. Kasten, 1991). In dieser Theorie wird ein Interesse als eine herausgehobene und sich anhand spezifischer Merkmale charakterisierende Beziehung einer Person zu einem Gegenstand definiert (weiterführend vgl. Lichtblau & Werning, 2012). Die Analyse der Anschlussfähigkeit der Unterstützungsbedingungen in den Mikrosystemen erfolgte wiederum auf Basis der Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci und Ryan (2008), nach der die Erfüllung grundlegender psychologischer Bedürfnisse („Basic Needs“) des Individuums durch die soziale Umwelt eine Voraussetzung für die optimale Funktionsweise des psychischen Systems ist. Diese im Kontext der PGT bereits diskutierte Theorie (vgl. Krapp, 2005) wurde mit der Intention in das theoretische Design einbezogen, differente Unterstützungsbedingungen theoretisch konzeptionalisiert und strukturiert unter motivationspsychologischer Perspektive erfassen und analysieren zu können. Der Fokus richtete sich dabei auf die Erfüllung der Basic Needs in den untersuchten Systemen, die sich in drei Dimensionen gliedern und im Sinne der vorgestellten Untersuchung, wie folgt operationalisiert wurden:

Alle drei Basic Needs bilden ein ganzheitliches System, das die motivationale Situation der Person in Abhängigkeit zur Konfiguration der Umwelt beschreibt und in der Untersuchung als Raster zur Analyse der interessenbezogenen Unterstützungsbedingungen verwandt wurde. Speziell für den schulischen Kontext konnte die positive Wirkung der Befriedigung der Basic Needs auf den Lernerfolg bereits in einer Vielzahl von Untersuchungen nachgewiesen werden (u.a. Furrer & Skinner, 2003; Hattie & Timperley, 2007; Moller, Deci & Ryan, 2006). In Anbetracht dieser empirischen Erkenntnisse wurden im Interessenentwicklungsprojekt erstmals Einflüsse der Befriedigung der Basic Needs auf die kindliche Interessenentwicklung in den Systemen „Familie“, „Kindergarten“ und „Schule“ und damit in der Transition „Kita-Schule“ explorativ untersucht und der Frage nachgegangen, ob diese auch für eine erfolgreiche Interessenentwicklung von Bedeutung sind und darüber hinaus sich einzelfallspezifisch Wechselwirkungen infolge differenter soziokultureller Benachteiligung der Familien zeigen.       

3. Projektdesign

Bis dato im deutschsprachigen Raum nicht gezielt in Studien berücksichtigt, wurden von 2009 bis 2011 an der Leibniz Universität Hannover die Interessenentwicklungsverläufe von 15 Kindern aus soziokulturell benachteiligten Familien im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule längsschnittlich untersucht (vgl. Lichtblau, 2013a, 2013b, 2013c, 2014; Lichtblau, Thoms & Werning, 2013; Lichtblau & Werning, 2012). Es wurde dabei bewusst ein exploratives Vorgehen verfolgt, das anhand erweiterter Fragestellungen eine weniger vordeterminierte Annäherung an den Forschungsgegenstand erlaubt, um in Folgeuntersuchungen dann konkrete Wirkmechanismen hypothesenbasiert zu erforschen. Entsprechend dieser erweiterten Suchperspektive des Projekts und in Anbetracht der Heterogenität der Kategorie „Soziokulturelle Benachteiligung“ wurde diese in Anlehnung an das Lebenslagenkonzept (vgl. Döring, Hanesch & Huster, 1990) als Unterversorgung in mindestens drei der zentralen Lebensbereichen „Einkommen“, „Bildung“, „Beruf“, „Wohnen“ und „Gesundheit“ definiert, als Auswahlkriterium zugrunde gelegt und zunächst explorativ bewusst breit gefasst. Ziel der Untersuchung war es im Sinne der Grundlagenforschung, erste Erkenntnisse über spezifische Interessenorientierungen und Interessenentwicklungsverläufe von Kindern aus soziokulturell benachteiligten Familien zu generieren und diese mit dem Stand der Forschung abzugleichen (vgl. speziell Lichtblau & Werning, 2012). Unter Anwendungsperspektive wurden darüber hinaus Unterstützungsbedingungen in den Systemen „Familie“, „Kindergarten“ und „Schule“ untersucht und spezifischen Einflüssen differenter Umweltbedingungen im Sinne der Befriedigung der Basic Needs (Deci & Ryan, 1993), auf die Interessenentwicklung der Kinder des Samples nachgegangen. Unter diesem Fokus der Untersuchung sollten Erkenntnisse über interessenförderliche, sowie die Interessenentwicklung hemmende Systemkonfigurationen erlangt werden, die Hinweise zur Interessenförderung von Kindern aus soziokulturell benachteiligten Familien liefern.

4. Datenerhebung und –auswertung

Die Datenerhebung erfolgte in drei Phasen, zwei im letzten Kindergartenjahr und einer drei Monate nach Einschulung, in den Systemen „Familie“, „Kindergarten“ und „Schule“. In jeder Untersuchungsphase wurden Hospitationen in den Elternhäusern (ca. 4 Stunden am Nachmittag) und den pädagogischen Einrichtungen (ca. 1-2 Tage) vorgenommen und leitfadengestützte Interviews mit den Kindern, ihren Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräften geführt. Methodisch orientierten sich die Interviews mit den Bezugspersonen an den Konzepten des problemzentrierten Interviews von Witzel (2000) und des themenzentrierten Interviews (vgl. Schorn, 2000). Zu Beginn jedes Interviews wurde eine allgemeine Beschreibung des Kindes erhoben. Anschließend dann eine spezifischere Darstellung der kindlichen Interessen und damit verbundener Handlungen erfragt. Weiterführend wurde das Interview dann stärker leitfadenorientiert fortgesetzt, blieb dabei jedoch offen für individuelle Erzählimpulse der Interviewpersonen. Der Leitfaden fokussierte Fragen im Sinne der theoretischen Kategorien zur Aktualisierung und Entwicklung von Interessen und zu den Basic Needs Dimensionen. Beispielsweise wurde unter ontogenetischer Perspektive nach der Häufigkeit der Aktualisierung, interessenbezogenen Wissens und Fähigkeiten, der subjektiven Bedeutung der Interessen für das Kind bzw. unter selbstbestimmungstheoretischer Perspektive nach der sozialen Kontextualisierung, Möglichkeiten zur selbstbestimmten Aktualisierung der Interessen und damit verbundener Kompetenzerlebnisse gefragt. Die soziokulturelle Situation der Familien wurde einerseits  fragebogenbasiert erhoben, jedoch auch durch die Befragten selbstinitiiert in die Interviews eingebracht und überaus explizit ausgeführt.
Insgesamt liegen infolge zweier Dropouts (Krankheit; Ausstieg ohne Begründung) für 13 Fälle 117 transkribierte Interviews (13 Fälle x 3 Erhebungsphasen x 3 Interviews) vor und bilden den Hauptdatensatz des Forschungsprojektes. Das Interviewmaterial wurde auf Basis theoretisch abgeleiteter Kategorien mit MAXQDA© kodiert (vgl. Hopf & Hartwig, 2001). Die Kategorien leiteten sich aus der Person-Gegenstands-Theorie des Interesses (Krapp, 2002) (u.a. „Interessenorientierung“, „Häufigkeit/Dauer“, „Interessenbezogenes Wissen“), der Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci & Ryan, 2008) („Soziale Eingebundenheit“, „Kompetenzerleben“, „Autonomie“) und dem Lebenslagenkonzept (vgl. Döring, Hanesch & Huster, 1990) („Einkommen“, „Bildung“, „Beruf“, „Wohnen“ und „Gesundheit“) ab. Zusätzlich wurden materialbasiert ergänzende Kategorien im Sinne des offenen Kodierens entwickelt und bezogen sich auf fallspezifisch relevante Merkmale (z.B. „Familiäre Gewalt“, „Trennung“, „Migration“) (vgl. (Glaser & Strauss, 1998). Insgesamt kann dieses Vorgehen als „theorieorientierte Analyse“ (Friebertshäuser,  Richter & Boller, 2010, S. 384) bezeichnet werden, in der Rahmentheorien die Datenerhebung und -analyse strukturieren, der Forschungsprozess jedoch weiterhin offen bleibt für Ergänzungen und Veränderung in Anbetracht der Feldbedingungen und des Untersuchungsgegenstandes.

5. Erläuterung zur Fallauswahl

Nachdem bereits in einer Reihe von Veröffentlichungen auf verschiedene Teilergebnisse des Interessenentwicklungsprojektes differenziert eingegangen worden ist (vgl. Lichtblau, 2013a, 2013b, 2013c, 2014; Lichtblau, Thoms & Werning, 2013; Lichtblau & Werning, 2012), wird in diesem Beitrag bewusst ein extremer Fall des Samples ins Zentrum gerückt und unter der Perspektive einer nicht gelingenden Kooperation zwischen Familie und Bildungseinrichtung beschrieben. Der ausgewählte Fall „Ines“ ist bereits innerhalb der Erhebung und Auswertung der Daten aufgefallen und stellt leider ein Paradebeispiel für eine sehr konflikthafte und daher wenig erfolgreiche Kooperationsbeziehung zwischen einer alleinerziehenden Mutter mit Migrationshintergrund und den pädagogischen Mitarbeiterinnen in Kindergarten und Grundschule dar. Im Sinne der Schwerpunktsetzung „Kultur“ diese Inklusion-Online-Ausgabe ist der Fall vor allem auch deswegen interessant, da in den Interviews speziell von der Mutter immer wieder auch auf Differenzen zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes und der durch sie individuell konstruierten „deutschen“ Kultur eingegangen wird. Unter Kultur wird dabei nach Nieke (1995, S. 35) das Gesamt an Deutungs- und Orientierungsmuster (sog. „Kognitive Standards“) eines Kollektivs verstanden, die das Erleben und Verhalten der zugehörigen Individuen steuern. Unter Kultur-Perspektive zeigte dieser Fall sehr anschaulich die Problematik einer  migrationsbedingt weitgehend auf sich allein gestellten Mutter, sich in einer fremden und teilweise sogar feindlich erlebten Kultur des Einwanderungslandes zurecht zu finden und den in dieser Umwelt gestellten Anforderungen, gerecht werden zu müssen. Deutlich erschwert wird dieser Prozess durch multiple sozioökonomische Stressoren, die auf die Familie einwirken und vornehmlich von der Mutter aufgefangen bzw. ausgehalten werden müssen, von Seiten der Bildungseinrichtungen jedoch leider nicht ausreichend gesehen und in die Kommunikation mit ihr einbezogen werden. So entsteht im Fall „Ines“ eine negative Verstärkungsspirale (vgl. Lichtblau, 2013c) wechselseitiger Schuldzuweisungen mit massiven negativen Konsequenzen für die kindliche Entwicklung.

6. Fallbeispiel „Ines“

Bei Eintritt in das Interessenentwicklungsprojekt (September 2009) ist Ines 5;7 Jahre alt und lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer eineiigen Zwillingsschwester Hanna in einem Vorort einer norddeutschen Großstadt. Die Familie bewohnt eine drei-zimmer Wohnung. Aufgrund der geringen Wohnungsgröße teilen sich Ines und ihre Schwester ein Zimmer. Aus diesem Grund sucht die Mutter zu dieser Zeit eine neue Wohnung.
Ines Mutter stammt aus Lateinamerika und hat dort den deutschen Vater der Kinder kennengelernt, mit dem sie dann nach Deutschland gezogen ist. Nach der Heirat werden wenig später Ines und ihre Schwester Hanna geboren. Ein Jahr nach der Geburt hat sich die Mutter aufgrund massiver ehelicher Konflikte von ihrem Mann getrennt. Zwischen beiden besteht kein persönlicher Kontakt mehr. Die Kinder haben nur sporadisch telefonischen Kontakt zum Vater, der sich mittlerweile wieder im Ausland aufhält. Ein enger Kontakt besteht weiterhin zur Mutter des Vaters, die regelmäßig in den Ferien besucht wird. Während Ines´ Mutter in ihrem Heimatland als Finanzbuchhalterin arbeitete, ist sie seit ihrer Migration nach Deutschland ohne Arbeit. Um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, nimmt sie seit einiger Zeit an einer Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau teil, in dessen Rahmen auch ihre zweitsprachlichen Fähigkeiten gefördert werden. Die soziale Integration der Familie ist sehr gering ausgeprägt und sie lebt weitgehend isoliert ohne regelmäßige Kontakte zu Menschen des sozialen Nahraums. 
Beide Kinder besuchen seit ihrem dritten Lebensjahr einen Kindergarten. Auf Anraten der Kindergartenleitung sind die Zwillinge seit einiger Zeit in zwei getrennten Gruppen untergebracht. Die Mutter hat hierzu auch aus organisatorischen Gründen zugestimmt, da sie durch die neu geschaffene Situation ihre Kinder bis zum Nachmittag im Kindergarten betreuen lassen kann. In der Einrichtung sind die Kinder in altersheterogenen Stammgruppen untergebracht. Der Alltag der Kinder ist durch Freispielphasen bestimmt, die durch gezielte Angebote und Projekte, sowie vorschulische Förderung strukturiert werden.
Während die Entwicklung der Schwester Hanna unproblematisch verläuft und auch die Kooperation mit den Pädagoginnen in Kita und Schule gelingt, stellt sich die Situation für den Fall „Ines“ kontrastierend dar. Ines´ Entwicklung wird negativ beschrieben und die Beziehungen zum pädagogischen Personal in Kita und Schule sind durch Konflikte und wechselseitige Schuldzuweisungen bestimmt, die im gesamten Untersuchungsverlauf nicht aufgelöst werden können, sondern sich noch verschärfen.

7. Ergebnisse der Untersuchungsphasen 1+2 im letzten Kindergartenjahr     

Ines gehört innerhalb des Samples zu einer kleinen Gruppe von Kindern mit einer stagnierenden  fragmentarischen Interessenentwicklung, für die über den gesamten Untersuchungsverlauf keine dauerhaften individuellen Interessen beschrieben werden (vgl. Lichtblau & Werning, 2012). Ihre Kind-Umwelt-Interaktion wird allgemein als wechselhaft, wenig kontinuierlich und häufig von Handlungsabbrüchen gekennzeichnet, dargestellt. „Sie gucken Fernsehen, oder, was haben sie gestern gemacht? Sie spielen mit Puppen. Und alles hier im Wohnzimmer. Und manchmal sie spielen mit Lego, mit diese Holzsteine ein Weg, so bis hier (lacht). Ich lasse die Kinder, ich bin allein, ich habe keinen Mann, ich sage, ja, sie können spielen. Wenn sie beschäftigt sind, das ist gut.“ (1I_El, 169)[1] Aufgrund der hohen soziokulturellen Belastung der Familie, wirkt die Mutter sehr erschöpft und kann ihre Kinder nicht ihren Wünschen entsprechend fördern. „Ich muss mit den Kindern mehr spielen. Ich denke, es ist gut für die Kinder, für ihre Entwicklung. Ich bin ein bisschen müde, deswegen ich kann nicht.“ (1I_El, 204) Auch im Kindergarten wird für Ines kein individuelles Interesse beschrieben. „Hm...wüsste ich jetzt spontan nichts Spezielles. Das ist da glaub ich, also hier bei uns ist es eher weit gefächert. Was jetzt der Fokus zu Hause für sie ist, dass weiß ich jetzt nicht, ob das, also, sie wär Barbiepuppenalter, sowas haben wir alles da, aber da ist sie nicht diejenige, die permanent nur damit spielt. Ja, sie spielt damit, aber es wechselt immer, da gibt’s nichts so, wo sie sich immer drauf stürzt.“ (1I_Erz, 78) Ines wird zudem sehr antriebslos erlebt. „Ines ist ein (betont) ruhiges Kind, manchmal nen bisschen zu introvertiertes Kind, antriebslos ganz oft, also man muss sie wirklich ankurbeln, aber dann, wenn man sie angekurbelt hat, dann tut sie, dann ist sie unterwegs.“ (1I_Erz, 10) Auch Ines´ Darstellungen wirken wenig fokussiert. „Wir spielen, wir gehen draußen und gehen die Gruppen besuchen.“ (1I_Erz, 31) „Verstecken, Malen und Fangen.“ (1I, 89-107) Das Verhältnis zwischen Kindergarteneinrichtung und der Mutter ist sehr angespannt und wechselseitig werden negative Zuschreibungen vorgenommen. „Dann sie sagen, ja, was ist das Problem. Und dann, ich habe gesagt, Ines ist traurig. Ines sagt nicht einmal Ines fühlt sich gut in der Gruppe. Das ist das Problem. Nein, bei uns ist alles okay, hat sie mir gesagt.“ (1I_El, 107) Die Erzieherin sieht die Entwicklung von Ines ebenfalls sehr kritisch und denkt über die Notwendigkeit einer therapeutischen Intervention nach, führt die Probleme jedoch auf die familiäre Situation zurück. „Ines ist nach wie vor ein sehr ruhiges Kind. Die nach wie vor an geschubst werden muss. Die motiviert werden muss zu tun, zu handeln. Im Zeitraum vom letzten Gespräch her hat sie sich eher zum Negativen verändert. Das heißt, ich weiß nicht, inwiefern es ne Sache ist, um die sich ein Kinderpsychologe kümmern sollte, ich denke das ist so ne familiäres Dreiecksproblem. Ein Zwillingsteil kriegt immer mehr als der andere in irgendeiner Form. Und das scheint da schon über Jahre ne Problematik zu sein, die jetzt erst durchkommt.“ (1I_Erz, 5)
Wie bereits erwähnt, gelingt es in der Kooperation nicht, diesen Konflikt zu überwinden und die  wechselseitigen Schuldzuweisungen ab- und ein lösungsorientiertes Vorgehen zum Wohle des Kindes aufzubauen. In diesem Kontext formulieren beide Seiten immer wieder Anforderungen und Wünsche, die jedoch unerfüllt bleiben. „Ja, weil ich möchte, wenn sie mich verstehen, sie müssen mich helfen. Wenn ich sage normal, no no ist kein Problem.“ (1I_El, 107) „Und da hatten wir dann halt n ziemlich langes Gespräch und dann kam dann so innerfamiliäre Problematiken raus, die erzieherischen Probleme. Was auch ein Teil dazu beigetragen hat vielleicht, dass das heute so ist. Weil die Ratschläge auch nicht unbedingt umgesetzt worden sind. Oder (imitiert): „Och, das ist aber so anstrengend.“ Ja, na klar. Veränderungen sind immer anstrengend. Und n bisschen ist das auch gar nicht so unlogisch, dass das jetzt so ist. Nur. Dass die Mutter halt auch noch so ihre persönlichen Problemchen hat. Das kam dann jetzt als I-Tüpfelchen noch oben drauf.“ (2I_Erz, 27) Sehr eindrücklich schildert die Mutter in den Interviews das, was die Erzieherin etwas ironisch konnotiert als „ihre persönlichen Problemchen“ kennzeichnet. Dabei wird deutlich, dass die Mutter durch verschiedene Stressoren stark belastet wird und deren alltägliche Bewältigung zu einer Überforderung und fehlenden Ressourcen im Kontext der Erziehung ihrer Kinder führen. „Ja, manchmal ich explodiere auch, weil ich kann das nicht so viel auch tragen. Ich bin auch nicht aus Stein. Manchmal ich kann nicht.“ (1I_El, 140) „Zuerst, die erste sagen, die möchten zu Kiosk gehen. Und kaufen, das macht mich aaahh, nein. Sie möchten immer raußen gehen, ja. Manchmal ich kann das nicht oder ich bin müde und ich möchte eine Pause machen.“ (I2_El, 217) „Ich habe nicht zu viel Geld. Ich kann nicht alles kaufen. Und das ist, da kommt meine Stress, ne?“ (2I_El, 204) Jedoch stehen die begrenzten finanziellen Mittel der Familie nicht im Zentrum der Reflexion der Stresssituation durch die Mutter, sondern vielmehr die Problematik sich in einer fremden und teilweise feindlich erlebten deutschen Kultur zurecht zu finden, in der ihr subjektiv empfunden auch die sprachlichen Fähigkeiten fehlen, sich angemessen mitteilen zu können. „Vor ein bisschen Situation reicht das nicht. Zum Beispiel mit diese Leute, wenn Probleme machen und ich möchte das sagen: „Warum machst du so viel Problems?“ Und erklären, versuchen das mit den Leute, äh, erklären, dass Situation, warum so viele Stress. Ich kann das nicht und dann ah, aber diese Leute aggressiv.“ (2I_El, 344) „Und auch alle sagen, ich bin Ausländer hier, das ist nicht meine Land und ich habe immer Angst, wenn ich nicht akzeptiere mit die Deutsche oder wenn sie, die Deutsche sagen, oh, eine Ausländer, ich hab das immer, dass sie sind mit den Ausländer bisschen. Andere Ausländer sind frech, es ist ihre Reaktion, bei mir nicht, ich bin ein bisschen zurück und ich versuche das immer, ehm, mich mit den Deutschen, wie sagen das, Kontakt suchen, aber nicht mich auch auf den Fußboden legen, oh, bitte ich möchte deine Freundin sein. Nur wenn es eine vernünftige Deutsche, bisschen versuchen Kontakt, aber ich bin schüchtern, das ist mein Problem.“ (2I_El, 121) Dabei stellt die Mutter im Rahmen ihres  Integrationsprozesses Veränderungen der eigenen Persönlichkeit fest. „Ich bin mittelintegriert und ich lach auch nicht wie früher. Manchmal ich denke, was ist mit mir. Aber ich hab ein bisschen gekriegt, ich hab fast Integration ist siebzig Prozent ich kann das sagen. Ich denke wie eine Deutsche manchmal. Naja, ich denke, früher hab immer gelacht, für alles, einfach spontan, aber jetzt nicht, ich denke, wenn ich muss etwas sagen, ich programmiere, ich mach meine Plan jede Tag und alles muss das, das macht Stress auch.“ (2I_EL, 124) Letztlich führen diese Schwierigkeiten mit der Kultur des Einwanderungslandes in Kombination mit migrationsbedingten ökonomischen Problemen zu einer familiären Lebenslage, die durch eine hoher Stressbelastung und soziale Isolation charakterisiert ist und unter der nicht nur die Mutter, sondern speziell auch ihre beiden Kinder sehr leiden. „Im Schwimmbad auch sind viele Mutters, wir grüßen uns nett, Hallo, Hallo alles, aber in Deutschland sind zurückhaltend, ich hab das gemerkt, sie reden nicht so schnell mit jede. In Heimat würde mehr schneller reden. Aber ich hab das gemerkt, die Deutsche gegen Deutsche sind auch ein bisschen zurück.“ (2I_El, 123) In Teilen scheint der soziale Rückzug jedoch auch Ängsten der Mutter geschuldet zu sein, die zu einer Überbehütung der Kinder neigt und deren Autonomie merklich einschränkt. „Weil ich bin anders (lacht). Das ist das Problem. Und ich bin sehr vorsichtig mit Ines und Hanna, ich kümmer gut meine Kinder, ich bin immer da, wenn die Kinder draußen gehen, ja weil ich vertraue das nicht hier, die Kinder hier sind ein bisschen, sind frech, sind freche Kinder. Und die schlagen. Deswegen ich lasse nicht an meine Kinder alleine.“ (1I_El, 25) „Ines und Hanna möchten mehr Kontakt, aber ich kann nicht. Am Wochenende wir machen das. Aber ich bin immer, ich muss das machen, muss das machen, muss das machen. Leider in Deutschland ist so.“ (2I_El, 71)    

8. Ergebnisse der Untersuchungsphase 3 in der Grundschule

Nach der Transition vom Kindergarten in die Schule setzt sich die soziokulturelle Belastungssituation der Familie trotz Umzug in eine andere Wohnung fort und Formen intensiverer sozialer Kontakte  begrenzen sich weiter notgedrungen auf die Familie des Vaters. „Jede Person konnte sagen, ich möchte keine Kontakt mehr mit diese Familie, hat mich verletzt, hat mich beleidigt, hat mich niedergemacht und dann ich möchte nicht mehr. Aber ich bin alleine in Deutschland und die Kinder brauchen eine Familie.“ (3I_El, 298) Auch in Untersuchungsphase 3 ist die soziokulturelle Problemlage der Mutter sehr bewusst und gezielt reflektiert sie in diesem Kontext, wie sie ihren eigenen Erziehungsansprüchen gegenüber nicht gerecht wird. „Und, ja, ich muss mehr Zeit, ich musste mit den Kindern spielen, sie können nicht alleine spielen, es mussen ein Erwachsener dabei, aber ich habe immer nicht geschafft, ich bin, ich kann mich nicht teilen, in ein Teil, in zehn Personen. Haushalt, Einkaufen, Lernen, mich selber, Wohnung und dann ist zu viel.“ (3I_El, 99)

In Bezug auf die Wahl einer geeigneten Grundschule für ihre beiden Kinder geht die Mutter auf ihre mangelhaften Kenntnisse des deutschen Schulsystems ein. „In mein Land ich kann das wissen. Welche Schule ist besser, welche nicht. Eine private Schule in mein Land ist natürlich besser als eine staatliche. Das ist ganz klar. Ich brauch das nicht so viel Gedanken machen, aber hier ist total anders.“ (3I_El, 53)    Auch die Konflikte in der Auseinandersetzung mit der Bildungseinrichtung bestehen nach Einschulung weiter und verschärfen sich leider noch. Das Erziehungsverhalten der Mutter beschreibt die Klassenlehrerin wie folgt: „Mein Wille geschehe, sagt das Kind, ja? Hier, einfach den Schuh hinhalten, da weiß Mutti schon, geht in die Knie und macht die Schuhbänder auf, ne? […] Da bin ich dann dazwischen gegangen, hab gesagt: Das können die gut alleine. Nein, das mach ich zuhause auch und so. Also diese Selbstständigkeit, ne Erziehung zur Selbstständigkeit findet da (betont) überhaupt nicht statt nach meinem Eindruck.“ (3I_Le, 43) Ebenso ernüchternd fällt die Einschätzung der  Unterstützungsbedingungen sowie des Anregungsreichtums in der Familie aus. „Es macht auch keiner mit ihr richtig Hausaufgaben. Das hilft ja immer sehr viel, wenn da einer intensiv mal dabei ist, dann  geht das.“ (3I_Le, 10) „Also wie gesagt, mein Eindruck ist, dass da sehr viel Fernsehen ne große Rolle spielt. Und zwar alleine in der Wohnung dann. Dass die beiden alleine sind. Fernsehen. Wenn ich ihr dann sage: Erzähl doch mal, was habt ihr euch angeguckt? Dann kann sie auch nichts erzählen. Sie sitzen einfach da und es flimmert.“ (3I_Le, 111) Analog zur Schilderung der Mutter in der Untersuchungsphase 1 (s.o.) wünscht sich diese auch von der Lehrerin Hilfestellung und versucht erneut Unterstützung einzufordern, die ihr jedoch nicht gewährt wird. „Sie kam sonst immer morgens und wollte sich um alles und jedes Rat holen. Ist völlig unsicher. Und dann hab ich sie zu ner Beratungsstelle überwiesen sozusagen. Und bis sie da in die Pötte kam, hat’s auch ewig gedauert. (atmet laut aus) Ja, es liegt zuhause der Kern des ganzen Problems, ne?“ (3I_Le, 17) Seit dieser Abweisung meidet die Mutter den Kontakt zur Lehrerin. „Ja und ich höre (betont) nichts. Ich höre nichts, ich muss sie jetzt bestellen, richtig einbestellen, weil ich wissen will, ob das nun endlich mal angelaufen ist. Glaub ich nicht.“ (3I_Le, 35) Zudem wird bei diesem Fall erneut ein Phänomen in den Interviews dargestellt, das auch in anderen Fällen der Untersuchung zu finden ist. Der Informationstransfer zwischen Kindergarten und Schule erfolgt vor und auch nach der Einschulung maßgeblich auf Basis mündlicher Informationen, in dessen Kontext positive, wie auch negative Beschreibungen der Familien durch die Erzieherinnen an die Lehrkräfte rückgemeldet werden, während die schriftlichen Informationen (so die Zustimmung der Eltern zum Transfer erfolgte) von den Klassenlehrkräften wiederum bewusst nicht gelesen werden, um unvoreingenommen an die Kinder herantreten zu können. Dieses Paradoxon führt im Resultat zu einer transitionsstabilen Fortsetzung familienspezifischer Kooperationsbeziehungen zu den Bildungseinrichtungen. „So ungefähr nach sechs Wochen machen wir so ne pädagogische Konferenz, wo alle Erzieher eingeladen werden der abgebenden Kindergärten. Und wir dann jedes Kind durchsprechen. […] Da, das deckte sich völlig. Also das war (betont) absolut deckungsgleich.“ (3I_Le, 48-50) Trotz dieser übereinstimmenden Einschätzung stellt sich die Konfliktdynamik in der Grundschule aber insofern different dar, als dass die Mutter nun beginnt, die Schuldzuweisungen der Klassenlehrerin zu akzeptieren und sich selbst als alleinige Ursache für Ines´ Entwicklungsprobleme anzuerkennen. „Frau Lehrerin1 hat das gesagt, ich bin, ist ein Problem der Erziehung.“ (3I_El, 18) „Ja, ich wünsche mich, dass die Kinder nicht so faul sind, und ein bisschen, sie haben keine Lust, hat Frau Lehrerin 1 Recht. Aber das ist meine Schuld, aber ich weiß nicht, wie kann anders machen.“ (3I_El, 108) Unter dieser Perspektive beginnt die Mutter nun ihr unangemessenes Erziehungsverhalten auf ihre kulturellen Wurzeln zurückzuführen. „Weil ein Problem ist meine Erziehung. Ich bin nicht so streng wie eine deutsche Mutter, aber ich glaube nicht alle deutsche Mutter sind anstreng. Aber das erwartet Frau Lehrerin 1,  dass ich mehr anstreng mit die Kinder, aber das ist meine Kultur, leider (lacht), aber ich lerne, ich versuche das zu machen.“ (3I_El, 84) „Ich muss anstrengend sein, aber ist auch für mich viel Konzentration (lacht), weil für mich kommt nicht automatisch. Vielleicht für die Deutsche kommt diese Anstrengung automatisch, aber bei mir nicht.“ (3I_El, 109) Wie bereits zu Beginn dieses Abschnittes erwähnt, wirken die unaufgelösten Konflikte weiterhin negativ auf Ines´ Entwicklung und die Kindbeschreibungen in der Untersuchungsphase 3 fallen noch alarmierender aus. „Sie brummelt am liebsten so vor sich hin. Malt auf’n Tisch, zerschneidet Radiergummis, zerbröselt was, dieses Fummeln dann so. Man kann bei ihr überhaupt nicht sagen, dass man mal das Gefühl hat, oh, das ist (betont) ihr Thema, das ist ihr Interesse.“ (3I_Le, 109) Ines zeigt in der kurzen Zeit nach Einschulung bereits deutliche Anzeichen einer Schulunlust. „Es ist durchgängig,  völlig durchgängig, sie hat einfach keine Lust in die Schule zu gehen. Sie hat keine Lust, ne Herausforderung anzunehmen, macht ihr (stark betont) nichts Spaß. Zuhause vorm Fernseher sitzen, das scheint das einzige zu sein.“ (3I_Le, 15) Zudem sind bereits psychosomatische Belastungsreaktionen bei Ines vorhanden und im Kontext des (im Gegensatz zur Annahme der Lehrerin) durch die Mutter durchgeführten Besuchs einer Erziehungsberatungsstelle wurde auf deren Anraten ein Kinderpsychologe aufgesucht. „Hat nicht gesagt, ich möchte nicht gehen und jedes Mal hat sie gesagt, ich habe Bauchschmerzen, ich habe Kopfschmerzen und der Psychologe hat gesagt, sie hat diese Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, aber es ist, psychosomatisch. Sie kriegt in diese Moment Bauchschmerzen und Kopfschmerzen, weil sie möchte nicht in die Schule gehen.“ (3I_El, 15) Aus Sicht der Lehrerin nimmt Ines nun aber regelmäßig am Unterricht teil, führt dies aber nicht auf einen Rückgang der psychosomatischen Beschwerden zurück. „[Ines hat] sich immer in Krankheiten geflüchtet als Grund dafür, dass sie nicht zur Schule gehen könnte. Hat auch viel gefehlt am Anfang. Jetzt nicht mehr, jetzt muss die Mutter ja auch sehen, dass sie die irgendwie los wird, weil sie ja geht. Sie muss ja zu diesem Kurs.“ (3I_Le, 79) Abschließend auf eine Prognose zu Ines´ weiterer schulischer Entwicklung angesprochen, formuliert sie folgenden wenig hoffnungsvollen Ausblick: „Sie ist einfach nicht bereit, sich Leistungsanforderungen zu stellen. Sie möchte aus ihrer Welt, dieser kleinen Kinderwelt, dieser Babywelt, nicht raus gerissen werden. Das ist so meine Einschätzung. […] [Und] das würde [dann] so aussehen, dass sie n ständigen Förderbedarf hat und immer in dem Förderkonzept drin ist.“ (IP_3_Ines_Le, 145)  

9. Diskussion

Gleich zu Beginn der Diskussion sei natürlich festgestellt, dass es sich bei der Schilderung um eine Einzelfalldarstellung handelt und die Ergebnisse nicht generalisiert werden können. Trotzdem beschreibt dieser Fall sehr anschaulich und dynamisch verschiedene Teilaspekte, einer wenig erfolgreichen Unterstützung der (Bildungs-)Entwicklung eines Kindes im Übergang vom Kindergarten in die Schule, die bereits an anderer Stelle als bedeutsam gekennzeichnet bzw. in Längs- und Querschnittstudien empirisch nachgewiesen wurden und nachfolgend speziell unter Bezugnahme auf die fallspezifische Kulturdimension stichpunktartig diskutiert werden (u.a. Albers & Lichtblau, 2014; Griebel & Niesel, 2011; Haug, 2003; Lichtblau, 2014; Perry et al., 2014; Schaeffer, 2013; Schründer-Lenzen, 2006; Windzio, 2015):

 

10. Literaturverzeichnis

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[1] An der Untersuchung war ebenfalls Ines´ Zwillingsschwester beteiligt und die Ausführungen beziehen sich daher teilweise auf beide Kinder.