Abstract: Ableism bezeichnet eine Form der Beurteilung Einzelner hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten und Funktionen: Personen werden damit auf ihren Körper reduziert und zu Stellvertreter*innen einer vermeintlichen Gruppenidentität. So ist Ableism die treffendere Bezeichnung für etwas, das sonst oft vereinfacht Behindertenfeindlichkeit genannt wird. Das Konzept öffnet den Blick auf die Kontingenz von Körperbewertungen: Was in dem einen Gesellschaftskontext durch Hilfsmittel oder kulturelle Akzeptanz ausgeglichen und ‚normalisiert’ werden kann, bleibt in anderen als Behinderung bestehen. So ist Ableism auch ökonomisch situiert – die Fähigkeiten von Personen und ihre Einbettung in vorhandene Ressourcen entscheiden über die Anerkennung als Subjekt. Umgekehrt erscheint der Verlust der Verwertbarkeit als existentielle Bedrohung für die sich als „fähig“ und autonom verstehende Subjekte. Deren Kampf gegen diese Bedrohung führt zu Abgrenzungsprozessen gegenüber den als behindert Markierten und mündet wiederum in ableistische Diskursen. Der Beitrag diskutiert die Bedeutung dieser Diskurse für die Etablierung von kollektiven sozialen Identitäten und der sozialen Positionierung von Subjekten in den kulturellen und ökonomischen Verhältnissen der Gegenwartsgesellschaft.
Stichwörter: Behindertenfeindlichkeit, Selbstbestimmung, Kapitalismus, Neoliberalismus, Subjekt
Inhaltsverzeichnis
Bei der Vortragsveranstaltung im Kulturzentrum war ich die Erste.
Klar, ich hatte hier ja vorher auch noch ein bisschen was zu tun. Der
Hausmeister war schon da, und er war sehr nett. Er machte mir die Türen
zum rollstuhlgerechten Zugang auf, zeigte mir den Fahrstuhl. Nachdem
er die Mikrophone aufgestellt und sich noch einmal vergewissert hatte,
dass alle Stühle am richtigen Platz stehen, ging er wieder in sein
Büro. Vorher sagte er noch zu mir: „Die Referentin kommt dann gleich“.
Ein Irrtum – die Referentin war schon da. Denn das war ja ich.
So ein Irrtum kann natürlich jedem bzw. jeder mal passieren. Kann er
ja auch nicht wissen, dass ich die Referentin bin. Ich hatte mich zwar
mit Namen vorgestellt, aber warum sollte er den Einladungsflyer
auswendig kennen. Dennoch, vermute ich, sein Irrtum ist kein Zufall. Als
kleinwüchsige, rollstuhlfahrende Frau erlebe ich sehr oft, unterschätzt
zu werden. Oder einfach für etwas anderes gehalten zu werden, als ich
bin. Es gibt Annahmen über mein Leben, die manchmal auch nur zwischen
den Zeilen hörbar sind. Zum Beispiel im Kompliment für alltägliche
Leistungen wie zur Arbeit zu gehen oder allein zu wohnen. Dass ich auf
einer Party auf die Tanzfläche gehe finden viele „mutig“, dass ich
verreise oder lange in "ganz normalen" WGs wohnte, bei denen es keine
Betreuer_innen gibt, erstaunt sie. „Das hatte ja früher niemand
gedacht, dass doch mal was aus Rebecca wird“, sagte eine Nachbarin
meiner Mutter vor kurzem einmal frank und frei.
Annahmen über behinderte Menschen und ihr Leben sind vielfältig und
folgen doch oft einem ähnlichen Denkmuster. In der englischsprachigen
Behindertenbewegung und in den Disability Studies hat sich für dieses
Denkmuster seit mehr als 10 Jahren der Begriff Ableism
etabliert. In Deutschland noch recht unbekannt, wird er auch hier
zunehmend genutzt, macht er doch ein breiteres Spektrum auf als der
bekanntere Begriff Behindertenfeindlichkeit. In meinem Beitrag möchte
ich zunächst auf Begriffsbestimmungen von Ableism und Behinderung eingehen und mich dann dem Kern des Begriffs ability
– Fähigkeit – näher zuwenden. Mit einem Blick auf den aktuellen
neoliberalen Diskurs um Inklusion möchte ich die Relevanz des autonomen
Fähig-Seins, des Funktionierens und der Arbeit für die Verfasstheit
von „Nicht_Behinderung“, sowie ihre ökonomische Bedingtheit zeigen.
Was dies für die nicht_behinderte Subjektivität bedeutet und wie dies
zur Basis für Othering werden kann, ist im letzten Teil meines Beitrags Thema.
Dass Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören könnten,
schwarze Menschen musikalisch und Jüd*innen geizig seien – all dies
sind Annahmen und Zuschreibungen aus dem Reich der „-ismen“:
Denkmuster, die von der Bereitschaft zeugen, Menschen anhand recht
willkürlicher Merkmale zum Beispiel des Körpers oder der Herkunft in
Gruppen einzuteilen und diesen bestimmte Qualitäten zuzuschreiben.
Bisher fehlen in der Analyse der "-ismen" oft die Annahmen rund um
Behinderung und Nichtbehinderung. Das ist bemerkenswert, sind doch auch
sie fester Bestandteil des urteilenden Denkens über Menschen und
Grundlage für eine Reihe fundamentaler Ausgrenzungsprozesse –
zum Beispiel die institutionelle Segregation im Bereich von Bildung,
Arbeit und Wohnen. Außerdem zeigten sie sich während des
Nationalsozialismus in ihrer Extremform in der Ermordung von als
behindert geltenden Menschen. Im Deutschen werden Abwehr und
Ressentiments gegenüber behinderten Menschen oft als
Behindertenfeindlichkeit gefasst – was im Falle des medizinischen
Mordprogramms der Nazis und auch bei vielen anderen diskriminierenden
Praxen rund um Behinderung sofort einleuchtet. Manche Praxen jedoch
sind nicht eindeutig feindlich – auch nicht, wenn man versucht, eine
unbewusst feindliche Motivation auszumachen. Wenn der Hausmeister nicht
darauf kommt, dass ich trotz Kleinwuchs und Rollstuhl selbst den
Vortrag halten könnte, dann kann ich mich darüber ärgern, eine
Feindlichkeit seinerseits jedoch nicht feststellen. Eher ist es doch
so, dass er sich auf ein kulturelles Wissen bezieht, das über
Behinderung und Nichtbehinderung in der Welt existiert. Dies tut er mit
einer Selbstverständlichkeit, in der er auch andere Dinge bewertet und
einschätzt, weil sie Teil seiner normativen Realität sind.
Um diesen Formen kulturellen Wissens über Behinderung gerecht zu werden, geht der Begriff Ableism deshalb weiter als Behindertenfeindlichkeit oder auch als der verwandte Begriff Disableism. Wenn die australische Disability Studies Theoretikerin Fiona Kumari Campbell von Ableism spricht,
meint sie „ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und Praktiken,
die eine eigentümliche Art von Selbst und Körper produzieren (den
corporealen Standard), der als perfekt, spezientypisch und deshalb
essentiell und vollwertig menschlich projiziert wird. Behinderung wird
so zu einem verminderten Zustand des Menschseins geformt“ (Campbell,
2001, zit n. Campbell, 2008, Übersetzung R.M.).
Das heißt, anders als der Begriff Behindertenfeindlichkeit setzt Ableism
Behinderung nicht als gegebenes Faktum voraus, gegen das sich die
Abwehr richtet, sondern nimmt die normative Einteilung in
Behinderung und Nichtbehinderung in den Blick. Nichtbehinderung
und Gesundheit werden zum Ideal erhoben, an dem sich alle Körper
zu bewähren haben – indes ist dieses Ideal auch auf seine Gegenseite
verwiesen. Für Fiona Kumari Campbell stellt Ableism deshalb
„eine binäre Dynamik [her], die nicht vergleichend ist, sondern eher
ko-relational konstitutiv“ (Kumari Campbell, 2008, Übersetzung R.M.).
Dadurch kann der Begriff Ableism den Disability Studies
helfen, sich auch den „Pathologien der Nichtbehinderung“ (Hughes,
2007, zit. n. Campbell, 2008) zuzuwenden, wie es Autor*innen wie Goffman
schon früh forderten (vgl. Goffman, 1967, S. 157). Damit macht Ableism eine ähnliche Bewegung wie zum Beispiel Rassismus und Sexismus – bei letzterem wird Gender in den Blick genommen; statt verkürzt von „Frauenfeindlichkeit“ zu sprechen.
Ich möchte betonen, dass dieses „Netzwerk von Überzeugungen,
Prozessen und Praktiken“, oder wie ich vereinfacht sagen würde, dieses
Denkmuster, vor allem um einen Faktor kreist – Fähigkeit(en). Ableism
ist die Beurteilung von Körper und Geist danach, was jemand "kann"
oder "nicht kann" – ein biologistischer, essentialisierender
Bewertungsmaßstab, der anhand einer erwünschten körperlichen oder
geistigen Norm Menschen be-, auf- und abwertet (vgl. Maskos, 2011, S.
4). Die Person wird auf ihre körperliche und geistige Verfassung
reduziert und steht als Stellvertreter*in für eine ganze Gruppe so
Beurteilter, oder wie Simi Linton sagt: „dass Ableism auch die
Vorstellung beinhaltet, dass die Fähigkeiten oder Charakterzüge einer
Person durch die Behinderung determiniert werden. Oder, dass Menschen mit
Behinderungen als Gruppe nichtbehinderten Menschen unterlegen sind“
(Linton, 1998, S. 9, Übersetzung R.M.).
Gregor Wolbring geht noch darüber hinaus und versteht Ableism
mit seinem Kern des normativen Körperideals auch als ein „-ismus“, den
man allen „-ismen“ überordnen könnte, als ein Dach vieler
diskriminierender Praktiken: „Ableism ist einer der am
tiefsten sozial eingebetteten und akzeptiertesten "-ismen" und eine der
besten Voraussetzungen für andere "-ismen". (…) Auf Fähigkeiten
basierende Bewertungen sind gesellschaftlich so tief verwurzelt, dass
ihr Einsatz für exkludierende Zwecke kaum jemals wahrgenommen oder gar
hinterfragt wird“ (Wolbring, 2008, S. 353f, Übersetzung R.M.). Als
Beispiele nennt er rassistische und sexistische Praktiken, in denen die
Fähigkeiten von Männern höher als die von Frauen und die von Weißen
höher als die von People of Color eingeschätzt werden.
Umgekehrt würde ich noch hinzufügen, dass Ableism auch
Menschen betreffen kann, die nicht als behindert eingeordnet werden, zum
Beispiel Rothaarige oder Linkshänder*innen. Teilweise kann Ableism
meines Erachtens auch mit einer gesellschaftlichen Aufwertung
verbunden sein: Besonders gut aussehende Menschen zum Beispiel, denen
mit der Feststellung ihrer Schönheit oder ihrer großen Statur auch
herausragende geistige Fähigkeiten oder Führungsqualitäten
zugeschrieben werden. Die Überschneidung von Ableism mit Denkmustern des Sexismus und des Lookism wird an dieser Stelle deutlich (siehe dazu auch Wolbring in dieser Ausgabe).
Die Vorstellung, dass behinderte Menschen „qua Behinderung“ viele
Tätigkeiten schlechter ausführen können – egal ob es sich dabei um
solche handelt, die sich mit der Beeinträchtigung überschneiden oder
nicht – wäre ein Beispiel für Ableism, aus dem sich eine
Vielzahl von abwertenden und im wahrsten Sinne des Wortes behindernde
Urteile und Praxen ableiten. Denn auf Basis dieser Vorstellung wird
ihnen meist von vornherein weniger zugetraut. Auch wenn Kleinwüchsigkeit
nicht die geistigen Fähigkeiten beeinflusst, ist die reflexhafte
Einschätzung, dass man als Kleinwüchsige nicht die Vortragende sein
kann, nicht unüblich. Behinderten Menschen – oft unabhängig von der Art
ihrer Behinderungen – werden regelmäßig Kompetenzen
abgesprochen. Gesellschaftlich sieht man dies z.B. an den Vorbehalten
vieler Arbeitgeber*innen, sie einzustellen (vgl. Kardorff, E.v.,
Ohlbrecht, H., Schmidt, S., 2013). Aber auch in alltäglichen
Interaktionen fällt dies immer wieder auf: Ich erlebe zum Beispiel
regelmäßig, dass nicht mit mir selbst, sondern mit meiner vermeintlich
nichtbehinderten Begleitperson gesprochen wird – selbst wenn ich es
war, die Fragen gestellt hat, bekommt sie die Antworten. Mir ist es
auch schon passiert, dass man im Restaurant nur meiner nichtbehinderten
Begleitung die Speisekarte reicht oder ganz selbstverständlich die
Rechnung. Auf solche ableistische Praktiken und die ihnen zu Grunde
liegenden Zuschreibungen möchte ich im Folgenden näher eingehen.
Im Fall der mir vorenthaltenen Restaurantrechnung mischt sich in die
Kompetenzzweifel möglicherweise auch das im Christentum und in anderen
Religionen verwurzelte Gebot der Barmherzigkeit gegenüber „Schwachen
und Kranken“. Statt den Behinderten Geld abzuknöpfen soll man ihnen
Geld geben – auf Basis dieser Tugend bin ich schon oft in den
zweifelhaften Genuss von Geldspenden wildfremder Menschen gekommen,
oder wurde an der Kasse freundlich aber bestimmt genötigt, Waren
unbezahlt mitzunehmen. In beiden Fällen – in der Infragestellung der
Kompetenzen als auch im Bild der Fürsorge- und Almosenempfänger*innen –
zeigt sich, wie oft behinderten Menschen der volle Subjektstatus
abgesprochen wird. Als ernstzunehmende Erwachsene mit möglicherweise
eigenem Einkommen, der Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen und
Entscheidungen zu treffen, werden wir mitunter nicht wahrgenommen.
Besonders Menschen mit Lernschwierigkeiten werden oft ganz
selbstverständlich geduzt oder mit dem Vornamen angesprochen, auch wenn
sie die Dreißig schon weit überschritten haben.
Parallel zu Bevormundung und Fürsorge gibt es eine ganz grundlegende
Überzeugung, die sich durch fast alle Herangehensweisen zieht:
Behinderung wird gleichgesetzt mit Leiden. Das „schwere Schicksal“
Behinderung ruft entweder nach Mitleid und Bedauern für die armen
„Opfer“, oder es evoziert Bewunderung für diejenigen, die es in den
Augen der nichtbehinderten Welt tapfer und heldenhaft ertragen.
Regelmäßig erntet man deswegen als behinderter Mensch entweder
Erschrecken ob der „schlimmen Krankheit“ und ihrer Unheilbarkeit oder
„zwei Daumen hoch“ für Alltägliches – zu arbeiten, einkaufen zu
gehen, ins Kino oder Café zu gehen. Und „Supercrips“, wie sie die
amerikanische und britische Behindertenbewegung leicht spöttisch nennt –
also zu Deutsch etwa „Superkrüppel“ – erzeugen sogar eine noch größere
Faszination, denn sie wachsen über ihr „Schicksal“ noch hinaus:
Sie führen im Rollstuhl Unternehmen, steigen blind auf Berge oder
schaffen es vom Stotterer zum Motivationsredner. Bei den Medien,
insbesondere jenen, die vor allem mit Sensationen ihre Rezipient*innen
erreichen wollen, sind sie beliebte Protagonist*innen: „Inspiration
Porn“ („Bewunderungs-Porno“), wie die verstorbene Aktivistin und
Komödiantin Stella Young diese Art der Darstellung süffisant nannte
(Young, 2012). „Supercrips“, aber auch die ganz normalen behinderten
„Held*innen“ wirken wie ein Trostpflaster auf dem „Schrecken
Behinderung“, der alle treffen kann – und der offenbar mit ausreichend
„eisernem Willen“ überwindbar scheint. So kann Ableism auch ein
aufwertender Vorgang sein – die Behinderung wird zur exotisierenden
und glorifizierenden Auszeichnung, die allen Handlungen und Äußerungen
ihrer Träger*innen eine noch größere Legitimation verschafft.
Vergessen sind da fast die alten Bilder behinderter Menschen, denen
eine positive Konnotation oft abging. „Monstren“ und
„Monstrositäten“ kennen wir heute aus Grusel- und Horrorfilmen, in
Gestalt des „Buckligen“, des „bösen Zwergs“, des einarmigen oder
einbeinigen Bösewichts. Vom 16. Jahrhundert an war „Monster“ lange
Zeit ein ganz selbstverständlicher Begriff für behinderte Menschen,
sowohl in den Wunderkammern, in denen sie ausgestellt wurden (vgl.
Flieger; Schönwiese, 2007), als auch in der „Teratologie“ des 19.
Jahrhunderts, einem Vorläufer der medizinischen Analyse körperlicher
Behinderungen (vgl. Mürner, 2003). Auch die als „Freaks“ zum Beispiel
in den US-amerikanischen Sideshows des späten 19. und frühen 20.
Jahrhundert ausgestellten behinderten Menschen hatten einen
ambivalenten Ruf (vgl. Garland Thomson, 1996).
Dass die Reaktionen auf Behinderung zudem oft nicht ambivalent-ableistisch
sondern auch ganz direkt und offen behindertenfeindlich sein können,
erleben behinderte Menschen auch nach wie vor. Spottwörter wie
„Spasti“, „Krüppel“, „Mongo“ oder die Allzweckwaffe „voll behindert“
sprechen Bände über die gesellschaftlich immer noch sehr lebendige
behindertenfeindliche Abwehrhaltung.
Dass wir es bei "Nichtbehinderung" und Gesundheit mit sozialen
Konstruktionen zu tun haben, ist leicht ausgemacht. Genau wie
Behinderung sind "Nichtbehinderung" und Gesundheit schwer bestimmbar.
Wann ist man gesund? Wenn man es schafft in einer bestimmten Zeit eine
Treppe hinaufzulaufen? Wenn die Blutwerte stimmen? Wenn man nur so ein
paar Dioptrin Sehschwäche hat? Oder ist man als Brillenträgerin bereits
krank? Und – noch schwieriger – wo fängt eigentlich Behinderung an?
Schon beim Bandscheibenvorfall; beim Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom
oder beim Burn-Out? Reicht die Dauer einer bestimmten Beeinträchtigung
oder muss es doch eine bestimmte Schwere sein?
Offizielle und gesetzliche Bestimmungen von Behinderung und
Schwerbehinderung versuchen Antworten auf diese Fragen zu finden und
bleiben dabei doch auffallend hilflos und vage. In Deutschland gilt ein
Mensch als behindert, wenn „die körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger
als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen“ und so seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigen (vgl. SGB IX, § 2 (1)). Andere
Definitionen, wie zum Beispiel die des ICF (International
Classification of Functioning, Disability and Health, vgl. WHO, 2001)
gehen weiter, beziehen Barrieren ein und thematisieren
gesellschaftliche Erwartungen, die man mit einer bestimmten
Beeinträchtigung nicht (mehr) erfüllen kann. Die ICF unterscheidet
zwischen „Schädigung“ (körperlich; zum Beispiel ein fehlendes Bein),
„Aktivitätsbeeinträchtigung“ (ohne Prothese wird zum Beispiel
Fußballspielen schwierig) und „Partizipationseinschränkung“
(gesellschaftlich; zum Beispiel, dass Fußballspieler*innen mit
Beinprothese in Fußballvereinen weniger akzeptiert werden).
Damit greift die ICF-Definition das soziale Modell von Behinderung
auf. Schließlich kann Behinderung in der Tat nicht als rein
körperliches Ereignis verstanden werden, das sich unabhängig von
sozialen Bedingungen und Ressourcen vollzieht. Die ICF-Definition
unterscheidet nicht umsonst zwischen Behinderung und Beeinträchtigung
(in der ICF Sprache „Schädigung“). Beeinträchtigung ist all das, was
von einer Körpernorm abweicht und dabei beeinträchtigt – also Schmerzen
verursacht oder das Funktionieren des Körpers vermindert. Beispiele
dafür sind fehlende Gliedmaßen, vermindertes Augenlicht, eine stark
abweichende Körpergröße und so weiter. Durch die Trennung von
Behinderung und Beeinträchtigung scheint die ICF Definition zwar
weniger ableistisch als die Definition im deutschen SGB IX. Doch dass
bereits in der Bestimmung von Beeinträchtigung Standards zu Grunde
gelegt werden, die sich an einem engen Verständnis von statistischer
Normalität orientieren, scheint auch hier offensichtlich (vgl.
Hirschberg, 2009, 299ff).
Dennoch ist die zumindest analytische Trennung der körperlichen Seite
von der sozialen Seite dieses Geschehens sinnvoll: Von einer
Behinderung spricht das ICF erst beim Zusammenspiel von
Beeinträchtigung mit sozialen Umständen. Nicht allein das
Angewiesen-Sein auf den Rollstuhl macht die Behinderung, sondern die
nicht barrierefreie Umwelt. Die Frage, wie viele Menschen
Gebärdensprache sprechen und wie gut zugänglich die auditive Welt für
gehörlose Menschen ist, ist entscheidend dafür, ob Gehörlosigkeit zur
Behinderung wird oder nicht. Das Ausmaß, in dem einem Menschen ihre
oder seine Lernschwierigkeiten zum Problem werden, hängt auch mit der
Komplexität von Informationen zusammen und mit der Frage, in wie weit
Leichte Sprache als Konzept bekannt und gebräuchlich ist.
Behinderung ist in dieser Sichtweise also auch eine eingeschränkte
Teilhabe durch fehlenden Zugang und eine normative Gesellschaft und
keine bloße Funktionseinschränkung oder Beeinträchtigung. Dies hängt
auch mit dem Zugang zu Ressourcen und Hilfsmitteln zusammen: In einer
Gesellschaft, in der Prothesen kaum finanzierbar sind, schon gar nicht
solche nach dem neuesten Stand der Technik, werden fehlende Gliedmaßen
eher zum Problem, als in reichen, hochtechnisierten Gesellschaften. Wer
in einem Land sein Leben weitgehend im Bett verbringen muss, z.B. durch
das Angewiesen-Sein auf Sauerstoff, kann in einem anderen Land mit
einem High-Tech Rolli und mit tragbarem Sauerstoffgerät möglicherweise
schon eher teilhaben. Und wenn zum Beispiel in manchen Gesellschaften
Brillen nicht bezahlbar sind werden Sehschwächen überhaupt erst zur
Behinderung, die in anderen eher der bloße Anlass für den Kauf eines
schicken Modeaccessoires sind.
Behinderung ist ein Spektrum von Erscheinungen, die nicht mit Natur,
Körper oder Geist allein fassbar sind sondern durch das Zusammenspiel
mit Umwelt- und Gesellschaftsbedingungen und damit auch ökonomischen
und staatlichen Kriterien entstehen. Hält man sich an Fiona Kumari
Campbell und ihre Definition von Ableism, ist bereits die Bestimmung von Beeinträchtigung und Behinderung ableistisch:
Da wird ein Körper/Geist/Psyche-Standard gesetzt, an dem sich alle zu
messen haben. Relativ zu diesem Standard kann Behinderung nur als
Defizit verstanden werden.
Ich würde nicht ganz so weit gehen. Eine Form von Benennung von
Beeinträchtigung scheint mir nötig, um handlungsfähig zu sein, um
Nachteile zu benennen und Hilfsmittel und Assistenz einfordern zu
können. Das ist zum Teil auch ein Grund für die ausgefeilten
juristischen Begriffsgebäude rund um Behinderung – auf ihrer Basis
können Leistungen und Nachteilsausgleiche in Anspruch genommen werden.
Als Kehrseite liegt in den Folgen der Benennung von Beeinträchtigungen
und Funktionseinschränkungen jedoch immer auch die Gefahr, das
Individuum auf sie zu reduzieren.
Bei gesetzlichen Bestimmungen haben wir es zugleich immer mit einer
Form von staatlicher Macht und Gewalt zu tun, die Menschen einteilt in
zum Beispiel Mann und Frau, Inländer*in und Ausländer*in, minderjährig
und volljährig, oder eben behindert und nichtbehindert. Macht und
Gewalt deswegen, weil die Menschen gemeinhin nicht gefragt werden, in
welche Kategorie sie gesteckt werden wollen und weil mit der Einteilung
auch immer eine Form von Zugriffsmacht verbunden ist. Es ist zum
Beispiel ein Unterschied, ob ich einen deutschen Pass habe und der Staat
deswegen über mich in gewisser Weise verfügen kann, ich aber
gleichzeitig auch Rechte habe, die Nicht-Passdeutschen nicht zuerkannt
werden. Und es ist ein Unterschied, ob ich staatlicherseits als
behindert gelte oder nicht. Zum einen kann ich durch diese Sortierung
bestimmte Nachteilsausgleiche erhalten – einen verbesserten
Kündigungsschutz und mehr Urlaubstage beispielsweise, sofern ich denn
einen Job bekomme – gleichzeitig aber bedeutet es auch eine Menge
Nachteile. Einmal als behindert sortiert wartet ein ganzes Arsenal an
Rehabilitations- und Sondermaßnahmen auf mich – und als Kind mit
Behinderung in aller Regel immer noch ein Gang durch die
Sonderinstitutionen wie Förderschule, Berufsbildungswerk und
Behindertenwerkstatt. Dem kann man sich nur entziehen, wenn man aktiv
nach Alternativen sucht und genug Ressourcen und Unterstützung hat,
seinen eigenen Weg zu verfolgen. Hat man dies nicht, biegt man
zumindest im gegenwärtigen Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit in
den Automatismus einer Biographie in Sonderinstitutionen ein (vgl.
Klemm, 2013).
Dem Staat, der immer auch als Sachverwalter ökonomischer Interessen
und Garant für die Freiheit seiner kapitalistischen Wirtschaftsordnung
agiert, muss es wichtig sein, funktions- und arbeitsfähige Bürger*innen
zu regieren. Deswegen nimmt es auch nicht Wunder, wenn in seiner
Bestimmung von Behinderung zu aller erst Funktionseinschränkungen von
Körper, Geist und Seele benannt werden. Bei Funktion darf hier getrost
an Arbeitskraft gedacht werden. Der Maßstab, mit dem er Behinderung und
Schwerbehinderung misst, ist der „Grad der Behinderung“ (GdB). Sein
Vorgänger war die „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (MdE). Man hat den
Begriff zwar ausgetauscht, um darauf hinzuweisen, dass das
Geschehen Behinderung nicht nur für den Lebensbereich der Arbeit
relevant ist. Dennoch ist es bezeichnend, dass die Arena staatlichen
Handelns in Bezug auf Behinderung in erster Linie die Arbeitswelt ist
(vgl. Bösl, 2009, 9, 37f, 41f). Arbeitskraft soll entstehen, erhalten
oder wieder hergestellt werden – darauf zielen alle Maßnahmen der
Bildung und Rehabilitation behinderter Menschen, auch wenn die Erfolge
dieser Maßnahmen zumindest auf dem ersten Arbeitsmarkt eher begrenzt
sind. Rehabilitation ist die staatliche „Kernstrategie im Umgang mit
Behinderung“ (Bösl, 2009, 13). Und nicht umsonst sprach man im Rahmen
der Unfallversicherung noch bis vor kurzem von „Invalidität“ – zu
Deutsch „Wertlosigkeit“, das heißt das Fehlen von Arbeits- und
Verwertungsfähigkeit.
Dass Menschen ohne ausreichende Arbeitsfähigkeit früher ganz direkt als „wertlos“
bezeichnet wurden, ist nicht verwunderlich. Zumindest wenn man sich
anschaut, welche Anforderungen damals und auch heute noch gestellt
wurden, will man in der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner
kapitalistischen Ökonomie mithalten können. Damals wie heute wurde und
wird in der kapitalistischen Gesellschaft nicht für die Bedürfnisse,
sondern für die Verwertung des Werts produziert (Marx, 1890, 181). Alle
Güter und Dienstleistungen werden zu Waren, die im Tausch mit Geld
gekauft und verkauft werden. Auch Arbeitskraft ist eine Ware, die mit
anderen auf dem Markt konkurriert. Wer seine Arbeitskraft erfolgreich
verkaufen will, muss gute Ware anbieten können, das heißt sie muss sich
in der Konkurrenz mit den anderen Verkäufer*innen der Arbeitskraft
bewähren. Für die Arbeitgeber*innen muss es sich lohnen, die
Arbeitskraft gekauft zu haben, das heißt sie muss genug Wert
produzieren und entsprechend leistungsfähig, schnell genug und ausgiebig
nutzbar, also belastbar sein. Sie muss ihm auch langfristig nützen:
Das heißt gute Arbeitskraftverkäufer*innen pflegen ihre Ware
Arbeitskraft in der Zeit ihrer Reproduktion, in der Freizeit vor und
nach der Arbeit: Sie treiben Sport, sie schlafen ausreichend, sie
ziehen sich ordentlich an und ernähren sich gut, so dass sie nicht
krank werden und am Arbeitsplatz ausfallen (vgl Marx, 1890, 591ff,
603ff). Wichtig dabei ist vor allem, dass sie dies alleine und
unabhängig voneinander tun können – würde zu ihrer Reproduktion wieder
Arbeitskraft aufgewendet werden müssen, wäre das ein Abtrag am Wert
ihrer Ware Arbeitskraft. Ausgenommen sind natürlich Arbeitskräfte, die
ohne Lohn die Reproduktionsarbeit leisten – in der Regel Mütter,
Ehefrauen und andere (meist weibliche) Angehörige. Zur Reproduktion
gehört aber auch, dass die Arbeitskraftverkäufer*innen sich
(weiter-)bilden und dabei zum Beispiel ihre „Soft Skills“ erweitern,
dass sie in der Lage sind, Freund*innen und Partner*innen zu finden, um
zum Beispiel eine Familie zu gründen. Dafür braucht es auf dem
„Beziehungsmarkt“ dann ausreichend körperliche Attraktivität, Fitness,
Zeugungs- und Gebärfähigkeit.
Bürgerliche Subjekte, das heißt Subjekte in ihrer kapitalistischen
Zurichtungsform, sollen sich also auf allen Ebenen ihres Daseins
autonom verwerten, darstellen, konkurrieren und sich bewähren können.
Als Souverän ihrer selbst sollen sie reflektierte Entscheidungen
treffen und eigenständig die Bedingungen ihrer Verwertung so
einrichten, dass sie sie erfolgreich erfüllen können. Welch eine
Horrorvorstellung, wenn hierbei Körper, Geist oder Psyche nicht
mitmachen. Wenn man in alltäglichen Dingen auf andere angewiesen ist –
beim Aufstehen, auf der Toilette, beim Anziehen, beim Essen, beim
Ausgehen. Wenn man die komplexen Vorgänge der Verträge nicht versteht,
auf die man sich als bürgerliches Individuum ständig einlassen muss.
Wenn man als zu unattraktiv gilt, um „jemanden abzubekommen“. Ein
Regime der Hygiene- und Körperdisziplinierung sorgt deshalb schon früh
unter anderem dafür, dass das Selbstbild des autonomen Subjekts
aufrecht erhalten wird. Scham erzeugt alles, was diesem Ideal nicht
entspricht und den Status des souveränen Erwachsenen in Frage stellt -
sei es Inkontinenz, Vergesslichkeit, körperliche Schwäche oder
Einschränkungen der Sinne. All die Imperative der Autonomie verschärfen
sich unter einem Ideal traditioneller Männlichkeit, das die Tatsache
menschlicher Verletzlichkeit und Abhängigkeit leugnen will (vgl.
Rommelspacher, 1995).
Besonders prekär werden diese Schreckensbilder im Zeitalter des
Neoliberalismus, in dem die Subjekte für ihr Wohl und Wehe in der Regel
selbst verantwortlich gemacht werden. Individualisierte Lebenswelten
lassen soziale Netzwerke dünner werden, die im Fall von Krankheit oder
Behinderung oder auch nur im Alter auffangen könnten. „Ich will keinem
zur Last fallen“ ist einer der derzeit häufigsten Gründe vor allem
älterer Menschen, bei schwerer Krankheit Sterbehilfe in Anspruch nehmen
zu wollen (vgl. Graefe, 2008). Alle Lebensbereiche – von pränataler
Diagnostik über die Gesundheitsfürsorge und Prävention bis hin zum Tod
sollen heutzutage ganz selbstbestimmt allein "gemanagt" werden – so
lautet zumindest die neoliberale Anrufung (vgl. Gottweis, Hable, 2004).
Den eigenen Körper durch allerlei Trainings fortwährend optimieren zu
wollen, scheint da nur konsequent.
Konsequent ist es zudem, wenn auch von Seiten behinderter Menschen
weniger eine Infragestellung all dieser Imperative gefordert wird,
sondern ein besserer Zugang zu Möglichkeiten, sie zu erfüllen. Teilhabe
und Inklusion – auch verstanden als Gegenstrategie zu Ableism –
heißt in der neoliberalen Gesellschaft leider oft lediglich,
behinderten Menschen eine bessere Verwertung zu ermöglichen und sich
den Standards der nichtbehinderten Welt anzugleichen (vgl. Waldschmidt,
2003). „Die vermeintliche Schwäche zu einem ganz eigenen Wert zu
machen“ – so könnte man zum Beispiel das Credo von Jonathan Kaufman
zusammenfassen. Der selbst behinderte Disability Studies Experte und
Unternehmensberater ermutigte bei seiner Rede auf einem Kongress der
Aktion Mensch im Dezember 2014 behinderte Menschen: Sie sollten sich
endlich als „Humankapital“ verstehen. Er verwies unter anderem auf die
große Zahl von Autist*innen, die jetzt wegen ihrer besonderen
analytischen Fähigkeiten für Softwareunternehmen attraktiv geworden
sind, oder auf den Chef eines großen US-amerikanischen Unternehmens,
der seine Legasthenie als „Geheimnis seines Erfolges“ versteht. Kaufman
selbst berichtete, dass seine eigene größte Leistung nicht seine
universitären oder professionellen Meriten sind, sondern dass er mit
Hilfe anderer behinderter Menschen gelernt habe, sich selbst die Schuhe
zuzubinden: „Da erst fühlte ich mich als Teil von etwas Größerem.“
Unabhängigkeit von der Hilfe anderer und der Fokus auf den eigenen
Marktwert sind also auch für behinderte Menschen als
Inklusionsstrategien interessant. Verständlich, schließlich sehen die
Alternativen der segregierten Fürsorge noch finsterer aus. Dennoch
scheint mir dies als Hauptstrategie zu Emanzipation und
Selbstbestimmung eine einseitige Perspektive zu sein.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Forderung nach Arbeitsfähigkeit,
Leistung, Verwertbarkeit und „compulsory able-bodiedness“, wie es
Robert McRuer (2007, S. 2) nennt, scheint mir Ableism in
der bürgerlichen und patriarchalen Gesellschaft eine zusätzliche
Brisanz zu bekommen. Wenn Fähigkeiten einen solch existentiellen Wert
haben, erzeugt die Konfrontation mit „Nicht-Fähigen“ einen besonderen
Schrecken. Behinderte Menschen verunsichern deshalb so stark, weil sie
die verleugnete Verletzlichkeit immer wieder offenbaren (vgl. Tervooren,
2003). Sie erinnern daran, dass Autonomie und Stärken allen
jederzeit verloren gehen können – oder vielleicht von vornherein gar
nicht so voll ausgeprägt sind wie es das Ideal will. Sie werden zu
Symbolen für die Gefahr der schamvollen Abhängigkeit und scheinen
Projektionsflächen zu sein, steigern die Ängste der Nichtbehinderten vor
dem Verlust der vermeintlich vorhandenen Autonomie und Attraktivität.
Angstabwehr und die Projektion von Ängsten vor Verletzlichkeit und
Abhängigkeit ist meines Erachtens ein Kern dessen, was wir in ableistischen
Denkweisen und Praktiken beobachten können (vgl. Schönwiese, 2003,
Freud, 1937). Volker Schönwiese geht sogar so weit zu sagen, dass
behinderte Menschen die Funktion haben, eine Art Ventil für Ängste
darzustellen: „Die normalisierte und alltägliche gesellschaftliche
Funktion von Behinderung [ist] darin zu sehen, Projektionsfeld für
existenzielle und gesellschaftlich produzierte Ängste zu sein. An
behinderten Personen können Probleme abgewehrt und abgehandelt werden,
vor denen alle Angst haben: Unfall, Krankheit, Armut, Tod. Der
Schrecken in der Betrachtung behinderter Personen nährt sich daraus.“
(Schönwiese, 2005).
Zu etwas, das Angst macht, nehmen wir Distanz ein. Dafür eignen sich ableistisches
Denken und Handeln sehr gut. Der mitleidige Blick von oben herab auf
die vermeintlichen „Kinder“ oder „Opfer“ schafft Distanz, genauso wie
der bewundernde Blick von unten auf die „Held*innen“ (vgl. Garland
Thomson, 2001, Renggli, 2006). Auch die Stilisierung behinderter
Menschen als „Monster“ hält sie auf Abstand, schließt sie sogar
assoziativ aus dem Bereich des Menschlichen aus. Tom Shakespeare stellt
dies in Zusammenhang mit Traditionslinien der Philosophie, die die
Binarität von Normalität und Abweichung und ihr Verwiesen-Sein
aufeinander analysieren (vgl. Shakespeare, 1994). Othering
heißt der Prozess, der auch in feministischen und antirassistischen
Wissenschaften gebraucht wird, um die Relevanz der oder des „Anderen“
für das „Normative“ zu charakterisieren. Zwei vermeintliche Pole wie
Frau und Mann, schwarz und weiß, behindert und nichtbehindert, werden
als scheinbar klar voneinander unterscheidbare Kategorien gedacht – und
zeigen dabei jedoch bei näherem Hinsehen eine weit größere
Verwandtschaft, als den ihnen Zugeordneten bewusst ist. Als der/die
„Andere“ markiert, dient der abgewertete, als Abweichung von der Norm
verstandene Pol dazu, dieser Norm überhaupt erst – spiegelbildlich –
Gestalt zu geben. So gesehen dient die Abgrenzung behinderter Menschen
von Nichtbehinderten dazu, eine Vorstellung von „Gesundheit“ und
„Normalität“ herzustellen. Ableistische Praktiken helfen dabei,
die „Kranken“ und „Behinderten“ immer wieder als solche zu
markieren – und damit sich selbst auch immer wieder zu versichern,
nichtbehindert, gesund und damit auf der sicheren Seite zu stehen.
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