Abstract: Mit dem Begriff des Ableismus und der Forschung im Umfeld dieses Terminus wird eine thematische Erweiterung und Perspektivenverschiebung in den Disability Studies vorgenommen: Behinderung wird nicht mehr nur als abweichende Differenz zur Normalität verstanden, sondern als intersubjektives und gesellschaftliches Verhältnis, das in der Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet. In diesem Zusammenhang wird Behinderung auf ihr Verhältnis zur Fähigkeit als grundlegender gesellschaftlicher Anforderung bezogen. Dabei sollen auch sozialwissenschaftliche und philosophische Grundannahmen über Autonomie, Fähigkeit und Leistung auf den Prüfstand gestellt werden: Wer gilt unter welchen Bedingungen als fähig? Was ist die Einheit der Fähigkeit, Individuen oder Kollektive? Auf welchem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen und lokalen Relationen beruht die Wahrnehmung von Behinderungen und Fähigkeiten? Wie Rassismus, Sexismus, Klassismus fällt Ableismus unter den Zuständigkeitsbereich einer radikalen Kritik. Anders als jene unterliegt der Ableismus allerdings nicht einer fundamentalen Ablehnung, die vom Ziel der kompletten Abschaffung von jeglichen Fähigkeitszuschreibungen getragen ist. Anschauungen und Vorstellungen von Fähigkeiten können schwerlich abgeschafft werden, können sie doch als basaler Modus der Anerkennung von Anderen und der Organisation gesellschaftlicher Arbeitsteilung gelten. Problematisiert und kritisiert werden sollen dagegen irrationale, verletzende, grausame und unplausible Konzeptionen von Fähigkeit (und damit auch Behinderung), die eng mit Vorstellungen der Leistungsgesellschaft, Leistungsgerechtigkeit und insgesamt einem liberalistischen Gesellschaftsbild verknüpft sind.
Stichwörter: Fähigkeit, Individualismus, Ableismus, Kompetenz, Anthropologie, Subjektivierung, Gouvernementalität, politische Philosophie
Inhaltsverzeichnis
In der Geschichte moderner Gesellschaften wurde die Frage der Fähigkeiten bereits mehrmals virulent: in der Frühindustrialisierung mit der Ausweitung der Schulpflicht; in der Systemkonfrontation der Nachkriegszeit mit ihrem Ausbau der tertiären Bildung; und in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, die mit einer neuerlichen Umwälzung der Bildungsansprüche und Produktionsweisen umzugehen hat. Technisch-ökonomische Entwicklungen, globale Konkurrenzverhältnisse, neue Ansprüche an Teilhabe sowie ein verändertes Rechtsempfinden in Bezug auf Ausschlüsse verleihen heute dem Problem der Fähigkeiten – und ihrer vorgeblichen Einschränkungen – neues Gewicht, als Erfindung, Innovation, Kompetenz usw. In den Disability Studies wird diese Thematik seit einigen Jahren unter dem Titel Ableism aufgegriffen, beschrieben und theoretisiert. Auch in den Sozialwissenschaften, insbesondere den Gender Studies und Postcolonial Studies, der Arbeitssoziologie und der Gouvernementalitätsforschung findet die Frage der Konstruktion und Konstitution von Fähigkeiten große Aufmerksamkeit. Die Ableism-Debatte blieb bislang allerdings überwiegend auf den anglophonen Wissenschaftsraum begrenzt (mit Ausnahme der Arbeiten von Rebecca Maskos 2010; 2011; vgl. auch Beitrag in diesem Special Issue). Unser Beitrag möchte diese Debatte im Rahmen der deutschsprachigen Sozial-, Erziehungs- und Kulturwissenschaften, insbesondere der Disability Studies aufgreifen, weiterführen und ausweiten. Mit dieser Ausweitung wird Anschluss an den „material turn“ gesucht, im Zuge dessen die Materialität des Sozialen, der Körper und des Geistes neue Aufmerksamkeit findet. Zugleich markiert der Begriff Ableism – wie wir ihn verstehen – auch einen Abschied von primär kulturalistischen Analysen von Behinderung und Befähigung, in denen die symbolische Dimension gegenüber der materiellen, ökonomischen und rechtlichen Dimension in den Vordergrund gerückt ist.
Mit dem Begriff des Ableism und der Forschung im Umfeld dieses Terminus wird eine thematische Erweiterung und Perspektivenverschiebung in den Disability Studies vorgenommen: Behinderung wird nicht mehr nur als abweichende Differenz zur Normalität verstanden, sondern als zwischenmenschliches und gesellschaftliches Verhältnis, das in der Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet. Behinderung wird dabei auf ihr Verhältnis zur Fähigkeit als grundlegender gesellschaftlicher Anforderung bezogen. Dabei sollen auch sozialwissenschaftliche und philosophische Grundannahmen über Autonomie, Fähigkeit und Leistung auf den Prüfstand gestellt werden: Wer gilt unter welchen Bedingungen als fähig? Was ist die Einheit der Fähigkeit, Individuen oder Kollektive? Auf welchen Zusammenhängen mit gesellschaftlichen Verhältnissen und lokalen Relationen beruht die Wahrnehmung von Behinderungen und Fähigkeiten?
Im Kontext von Bildung – die den thematischen Schwerpunkt des Heftes bildet – werden durch diesen Perspektivenwechsel drei Perspektiven eröffnet: Debatten um schulische Inklusion werden um eine Problematisierung des „normalen Kindes“ bereichert; „allgemeine“ bildungswissenschaftliche Debatten werden mit einer behinderungswissenschaftlichen Perspektive konfrontiert; darüber hinaus werden die Disability Studies mit einer Problematisierung allgemeiner Kompetenzzuschreibungen in die Lage versetzt, in ihre Bezugsdisziplinen Soziologie, Pädagogik, Erziehungs- und Kulturwissenschaft zurückzustrahlen.
Im Folgenden erläutern wir kurz der Herkunft des Wortes „able“ und „fähig“. Danach beleuchten wir Ableism als Beschreibung individualisierender Fähigkeitsvorstellungen – in deren Kontext auch Behinderung ihren objektiven Sinn erhält. Anschließend umreißen wir die Forschungsperspektive, die sich aus unserer Sicht an die angelsächsische Ableism-Kritik anschließen kann. Abschließend richten wir den Fokus auf das Bildungswesen und skizzieren die Bedeutung ableistischer Vorstellungen exemplarisch am Konstrukt des „normalen Kindes“.
Der eingedeutschte Begriff „Ableismus“ (von englisch able-ism) ist zunächst ähnlich erklärungs- und wohl auch gewöhnungsbedürftig, wie sie die Termini Sexismus und Rassismus bei ihrer Einführung waren. Das Wort „able“ bedeutet in der englischen Alltagssprache „fähig“, „geeignet“, „befähigt“ oder „begabt“. Es lässt sich ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen und ist aus dem altfranzösischen „hable“ übernommen; vom lateinischen Verbaladjektiv „habilis“ zu „habere“ („haben“, „halten“).
Aus dieser historischen Wortbedeutung speisen sich auch die vertrauten Worte Habitus und Habilitation („Befähigung“). Able heißt also soviel wie „halten können“ und „für einen Zweck geeignet“. In dieser Bedeutung der Eignung für vorgegebene Zwecke findet das Adjektiv Eingang in Vokabulare der Berufsbeschreibungen: in der Seefahrt bezeichnet „able seaman“ („A.B.“) – im Unterschied zum „ordinary seaman“ („O.S.“) – einen angelernten Seemann, der die wichtigsten manuellen Aufgaben wahrnehmen, Rettungsboote handhaben kann und in der Lage ist, im Notfall sich selbst und andere Mannschaftsmitglieder anzuleiten. Für den englischen Sprachgebrauch ist also eine Doppelbedeutung ausschlaggebend: Einerseits ist eine körperliche, kognitive und geistige (d.h. verantwortliche) Fähigkeit gemeint, andererseits die Nutzung dieser Fähigkeit im Kontext koordinierter Aktivitäten. Der Anglizismus Ableism könnte also auch als „Habilismus“ bezeichnet werden. Auffällig ist, dass das Wort „able“ Eingang ins Amerikanische Rechtssystem gefunden hat, wo er die Berechtigung zum Zugang zu gewissen Positionen und Leistungen markiert. Das deutsche Wort „fähig“ steht mit dem mittelhochdeutschen Wort für „fangen“ in Verbindung und bedeutet so viel wie „fangen können“ oder „sich einfangen lassen“ – und hat demnach ebenfalls eine aktivisch-passivische Doppelbedeutung.
Die Erweiterung von „able“ um die Endung „–ismus“ zeigt an, dass eine Wissensgestalt beschrieben werden soll. In Verbindung mit der passiv-aktivischen Doppelbedeutung zeichnet sich hier bereits die zentrale These der Ableismus-Diskussion in den Disability Studies ab: Der selbstverständlichen oder institutionell bestimmten Vorstellung, dass es Fähigkeiten gibt, von denen sich Unfähigkeiten bzw. Behinderungen abheben, soll Aufmerksamkeit geschenkt werden. Behinderung findet damit ihren Gegenpol in der Fähigkeit, nicht mehr nur in der Normalität, so dass Befähigung mehr als vielgestaltiges relationales Phänomen denn als binäre Opposition zwischen Normalität und Behinderung sichtbar wird. Innerhalb der Disability Studies vollzieht sich damit eine ähnliche Bewegung wie sie auch für die Frauenforschung („Women's Studies“) zur Männerforschung („Men’s Studies“) und schließlich zu den Gender Studies konstatiert werden kann. In Ableism-Studien wird der Fokus von der Abweichung (Behinderung) auf die Problematisierung der Basisannahme (Fähigkeit) verschoben (vgl. dazu auch den Beitrag von Hanna Meissner in diesem Special Issue).
Der Begriff bezeichnet somit – in unserem Verständnis – all jene sozialen, soziotechnischen und technischen Prozesse, die Individuen, Gruppen oder Dingen Fähigkeiten und Begabungen zuschreiben, sei es in auf- oder abwertender Weise. Untersuchungen von Ableismus setzen dazu an, die gesellschaftliche Anschauung von Fähigkeiten und (vorgeblich oder real) fähige Personen zu untersuchen. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei Fähigkeiten nicht um eine ontologisch zu beschreibende, sondern um eine relationale Größe handelt, die an die soziale Position des Betrachters gebunden und damit ideologisch geprägt ist (vgl. Traue & Pfahl 2014: 189). Die Untersuchung von Ableismus ist, wie diejenige von Sexismus oder Rassismus, Ausdruck von und Kritik an Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Auch die methodischen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, sind ähnlich gelagert. Wie Sexismus und Rassismus bezeichnet Ableismus/Habilismus einerseits eine relativ-natürliche Weltanschauung, die sich aus wissenschaftlichen und politischen Quellen sowie aus alltäglichem Handeln speist. Andererseits handelt es sich bereits um eine Theoretisierung; denn ebenso wenig wie es Sexismus und Rassismus einfach „gibt“, gibt es Ableismus als einheitliches Wissen. Letzterer setzt sich vielmehr aus disparaten Praktiken, Wissensformen, Vor- und Teildiskursen sowie Sozialtechniken (wie etwa Klassifikationen, Eignungsprüfungen, Rechtsparagraphen, Verwaltungsverordnungen, Alltagspraktiken, Architekturen) zusammen, die erst in der Zusammenschau als Ableismus erkennbar werden. Im Kontext der Disability Studies muss also von einer Ableismus-Analyse oder Ableismus-Kritik gesprochen werden.
Wie Rassismus, Sexismus, Klassismus (und weitere –ismus-Kritiken wie Lookismus, Heterosexismus usw.) fällt Ableismus unter den Zuständigkeitsbereich einer radikalen Kritik, insofern gewisse gesellschaftsweit zirkulierende, meist implizite Grundannahmen in das Licht wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt werden. Anders als jene unterliegt der Ableismus allerdings nicht einer fundamentalen Ablehnung, die von einem selbstverständlichen Ziel der kompletten Abschaffung von jeglichen Fähigkeitszuschreibungen getragen ist. Eine Welt ohne Rassismus, also ohne auf- oder abwertende rassische oder ethnische Zuschreibungen ist ganz sicher wünschenswert. Anschauungen und Vorstellungen von Fähigkeiten können jedoch schwerlich abgeschafft werden, können sie doch als basaler Modus der Anerkennung von Anderen und der Organisation gesellschaftlicher Arbeitsteilung gelten – und mussten mühsam errungen werden gegen die Gesellschafts- und Gerechtigkeitskonzeptionen der Theologie und Feudalgesellschaft, in der Fähigkeiten als angeboren oder gottgegeben galten. Problematisiert und kritisiert werden sollen dagegen irrationale, verletzende, grausame und unplausible Konzeptionen von Fähigkeit (und damit auch Behinderung), die eng mit Vorstellungen der Leistungsgesellschaft, Leistungsgerechtigkeit und insgesamt einem liberalistischen Gesellschaftsbild verknüpft sind, das in Gestalt des Neoliberalismus alle Widersprüche dieser politischen und anthropologischen Theorie eines Fähigkeits-Individualismus auf die Spitze getrieben hat: „The winner takes it all!“
Ableistische, also fähigkeitsindividualistische Praktiken – in Alltag und Wissenschaft – bestehen in diesem Verständnis darin, ganz bestimmte Bedeutungen von Fähigkeit, Fähig-Sein, fähigen Menschen zu konstruieren, zu reproduzieren und zu legitimieren. Als wissenschaftliches Denken stellt der Ableismus Differenzen und Hierarchien zwischen Menschen in Bezug auf ihre Fähigkeiten und Begabungen her, die durch institutionelle Ablaufprogramme verstärkt werden. Im Bildungswesen werden bspw. pädagogische Wissenskategorien geschaffen und angewandt, die unterschiedliche Bildungswege als logische Folge quasi-natürlicher Fähigkeiten zwischen Kindern und Jugendlichen erscheinen lassen (Althusser 1977). Ableismus beschreibt somit faktisch legitime Überzeugungen davon, was (Leistungs-)Fähigkeit in der jeweiligen Gesellschaft darstellt und unterzieht die Fähigkeitsideale einer kritischen Überprüfung. Wir sehen beim jetzigen Stand drei Aspekte einer Forschung, die an die Ableismus-These anschließen kann:
Eine Kritik an sexistischen und rassistischen Fähigkeits- und Körpernormen wurde bereits in den Anfängen der Gender Studies und Postcolonial Studies formuliert, ohne dass dies durch die Autor_innen explizit als Ableism bezeichnet wurde (vgl. Campbell 2009; 2008). Hier wurde der Blick darauf gerichtet, wie Fähigkeitskonstruktionen dazu beitragen, Binaritäten zwischen Frauen und Männern, schwarzen und weißen Menschen und die darin eingelagerten Hierarchien zu verstärken – so die sexistische Annahme, Frauen verfügten nicht über die Kapazität „rationale“ Entscheidungen zu treffen – weshalb sie bspw. lange Zeit von Wahlen und aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Oder rassistische Konstruktionen wie jene der „Wilden“, die Individuen aufgrund eines zugeschriebenen Mangels an kognitiven Fähigkeiten de-humanisierte und den Status der Zivilisierten (und damit Menschlichen) verweigerte. Der Beginn der kritischen Auseinandersetzungen mit Fähigkeitsideologien erfolgte also in einer intersektionalen Perspektive auf soziale Ungleichheit (zusammenfassend z.B. Klinger 2009), die bis heute (auch) in der Auseinandersetzung mit Ableismus vorzufinden ist. In dieser Perspektive wird deutlich, dass die Grenzziehungen zwischen Behinderung und Fähigkeit nicht primär kultureller Natur, sondern Ausdruck von sozialen Relationen sind: Wer oder was in diesen Relationen (Produktion, Reproduktion, Spiel, Intimität, Religion etc.) wofür (als Subjekt, als Objekt, als Arbeitskraft usw.) gebraucht bzw. genutzt wird, ist entscheidend für die Herausbildung von kulturellen Verhaltensnormen und Fähigkeitszuschreibungen.
Im kulturellen Modell von Behinderung ist das Verhältnis von Fähigkeit und Behinderung bereits als Konstrukt erkannt, wobei die kulturelle Konstruktion als ursächlich angesehen wird. Auf diese Weise kann, so Anne Waldschmidt, nicht nur Behinderung, sondern auch Normalität, Gesundheit oder Funktionsfähigkeit in Frage gestellt und dekonstruiert werden: „[D]ie beiden Pole erweisen sich als höchst kontingente, im Grunde arbiträre Kategorien, deren Konturen eben gerade nicht trennscharf sind [...] die Perspektive [wird] umgedreht und zugleich erweitert: Nicht behinderte Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft wird zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Wie entsteht 'Normalität' als positiv bewertete Kontrastfolie zu Behinderung?" (Waldschmidt 2010, 19).
Die Strategie einer Ausweitung der Frage nach der Behinderung auf die symbolischen Praktiken der Mehrheitsgesellschaft stellt einen wichtigen Schritt in der Theoretisierung von Behinderungen dar. Ein solches kulturelles Modell der Behinderung konfrontiert die vermeintlich Normalen und trifft mit der Anerkennung von vormaligen „Randgruppen“ auf große Resonanz, auch in den gegenwärtigen Inklusions-Debatten. Allerdings birgt der Gewinn eines derart radikalisierten Kulturalismus auch seine eigene Beschränkung: Differenzziehungen zwischen Menschen sind zwar historisch kontigent, aber doch kaum arbiträr. Die Kontingenzformel „arbiträr“ verdankt sich der These des Begründers der Semiotik, Ferdinand de Saussure, das sprachliche Zeichen sei eben – „arbiträr“ (Saussure 1967/1916), d.h. es habe mit der Wirklichkeit zunächst überhaupt nichts zu tun; ein Ding könne eben auch ganz anders heißen und tut es ja in anderen Sprachen. Die Pointe dieser sprachphilosophischen Position ist, dass unterschiedliche Zeichen eben auch unterschiedliche Schnitte durch die Wirklichkeit ziehen und dadurch das Handeln auf je differente Weise konditionieren. Da die Verhältnisse zwischen Menschen in Produktion, Reproduktion, Bildung und Kultur aber leider nicht allein sprachlicher Natur sind, greift dieser Ansatz zu kurz – und verdeckt möglicherweise sogar bestimmte ökonomische, rechtliche und andere sich materiell auswirkende Dimensionen der Wirklichkeit von Behinderung und Befähigung.
Mit der Fortführung der Ableismus-Diskussion sehen wir das Problem nicht mehr nur in der Beständigkeit scheinbar „arbiträrer“ Bezeichnungen, sondern in den massiven symbolischen und materiellen Institutionalisierungen von Körpernormen und Idealen kognitiver Leistungsfähigkeit in Bildung, Allokation und Arbeitsteilung etc.
Der kanadische Science and Technology-Forscher Gregor Wolbring weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in die körperliche Normalitätsmatrix kapitalistischer Gesellschaften Vorstellungen von essentiellen Fähigkeiten („essential abilities“) eingewoben sind, über die Individuen zu verfügen haben (Wolbring 2008, 253; vgl. auch Beitrag in diesem Special Issue). Ableism kritisiert diese einseitige und unsichtbare gesellschaftliche Konstruktion von Fähigkeit („abledness“) als diejenigen Kompetenzen, die Subjekte zu Produktivkräften machen. Die australische Juristin und Disability Studies Scholar Fiona Kumari Campbell beschreibt die damit verbundenen gesellschaftlichen Produktionsprozesse als „network of beliefs, processes and practices that produces a particular kind of self and body (the corporeal standard) that is projected as the perfect, species-typical and therefore essential and fully human. Disability then, is cast as a diminished state of being human” (Campbell 2008, 44).
Phantasmen von perfekten Körpern, ableistische Prototypen, wie sie auch in der Konstruktion neoliberaler Fitness-Ideale auftauchen, dienen also dazu, einen korporealen Standard zu entwickeln. Für die Herstellung einer solchen Normalitätsmatrix ist ein konstitutives Außen von Nöten, eine Negativschablone, die von Einzelnen als Unterscheidungskriterium in „normal“ und „nicht normal“ herangezogen werden kann (vgl. Campbell 2012). Wenn diese Normalitätsmatrix mit Hilfe bestimmter körperlicher, Autonomie versprechender Fähigkeiten und dem Entsprechen einer „normalen“ physischen Konstitution und Erscheinungsweise entworfen wird, dann stellt Behinderung die Abweichung zum Normalen dar, das „Anomale“. Das Zeichen „behindert“ („disabled“) dient hier als Kontrast zum Zeichen „fähig“ („abled“) und ermöglicht Individuen durch Abgrenzung vom Ersteren eine mehr oder minder eindeutige Identifikation mit Letzterem (Goodley 2012). Derart wird hergestellt, was Campbell als "the great divide" (Campbell 2003) bezeichnet.
Im Zuge dieser Grenzziehungen entsteht ein explizites Wissen darüber, wer fähig ist. Dieses Wissen ist Gegenstand der Beschreibung von Regimen des Ableismus und manifestiert sich als wissenschaftliches Wissen, als Versprechen und als Zwang: Mit dem „great divide“, in den eine Hierarchie zugunsten derjenigen eingeschrieben ist, die bestimmte Körpernormen zu erfüllen scheinen, wird ein Sog in Richtung des Normalen als „dem Erwünschten“ kreiert. Ein Individuum muss über jeweils für notwendig erachtete Fähigkeiten verfügen, wenn es nicht Gefahr laufen will, als von der Norm abweichend, als „minderwertig“ erachtet zu werden. Eine bestimmte körperliche und geistige Fähigkeit wird damit zur „benchmark for humanity“ (Overboe 1999, 24) der Gegenwart. D.h. vollkommen „human“ sind gesichert nur der- oder diejenigen, die innerhalb eines medizinisch-biologischen, aber auch pädagogisch definierten Normalitätskorridors positioniert sind. Für die Wissensproduktion zu Behinderung sind Fähigkeitsideale von zentraler Bedeutung und stellen die Basis dafür dar, dass Behinderung als Problem betrachtet wird: „And what we expect disability to be […] is trouble. We expect it to appear to and for us as trouble, as a problem“ (Michalko 2009, 68).
Mit dem Verfügen über bestimmte Fähigkeiten ist ein Normalitätsversprechen verbunden und dieser Status ist durch Behinderung bedroht. Behinderung erinnert Menschen an ihre Verletzlichkeit (vgl. Tervooren 2000) und stellt das Phantasma von körperlicher Normalität und Handlungsautonomie in Frage. Die Präsenz von Behinderung und Beeinträchtigungen verweist somit auf die Temporalität des „Fähig-Seins“. TheoretikerInnen der nordamerikanischen Behindertenbewegung verwiesen zuerst mit der Abkürzung „T.A.B.“ (für „temporarily able bodied“) auf die Kontingenz dieses Status. Denn: früher oder später werden die meisten Personen eine Beeinträchtigung „erwerben“ (vgl. Goodley 2011, 1), auch wenn sie je nach Zeitpunkt des Erwerbs nicht als Behinderung wahrgenommen werden muss. So wird bspw. eine Beeinträchtigung der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten im Alter eher als normal und weniger als nicht normal wahrgenommen (vgl. Tervooren 2000; Priestley 2003).
Unabhängig von den tatsächlichen leiblichen und biographischen Erfahrungen behinderter Personen (vgl. Overboe 1999) wird der „Erwerb“ einer Beeinträchtigung in der Regel als Tragödie oder Schicksalsschlag verstanden (vgl. Maskos 2010). Beeinträchtigung ist in diesem Denken etwas, das nach Möglichkeit geheilt, vermieden oder im Extrem ausgelöscht werden soll (vgl. Campbell 2008, 154). Fähigkeitsbezogene Differenzierungen stellen damit nicht nur die Grundlage des medizinischen Modells von Behinderung dar, sondern auch die ideologische Triebfeder der Eugenik (Wolbring 2004). Der „great divide“ stellt also her, was der zur Intersektion von Queerness und Disability forschende Rupert Mc Ruer als „the demands of compulsory able-bodiedness" (McRuer 2006, 305) benennt: In einem System, das von den beschriebenen, mal mehr, mal weniger deutlich sichtbar werdenden körperlichen Erwartungen geprägt und den dazugehörigen Körperidealen getragen wird, „will“ scheinbar jede und jeder normal sein. Individuen „umarmen“ („embrace“), begehren die Norm des (körperlich) Normalen (Campbell 2008) und machen sie sich zu eigen. Untersucht man diese Dynamik und die daraus entstehenden (Selbst-)Verhältnisse jedoch genauer, so wird ersichtlich, dass das „Wollen“ der Individuen Produkt eines ableistischen Regimes des Begehrens sind.
Die Untersuchung der unterschiedlichen Wissensformen des Ableismus zeigt, dass der Erhalt der Kompetenzen, Qualifikationen, allgemein: der Fähigkeiten als Erwartung an Individuen gerichtet wird, vor allem wenn eine Abweichung von der Norm Ausgrenzung und Geringschätzung nach sich zieht. Behinderungen müssen im gegenwärtigen Regime des Ableismus vermieden und, falls existent, in Zielperspektive auf das Fähigkeitsimperativ rehabilitiert und normalisiert werden. Die dafür nötigen Anstrengungen müssen immer noch von denen geleistet werden, die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, nicht fähig genug zu sein, oder derer, die als Professionelle oder Wissenschaftlerinnen für die Rehabilitation oder Unterstützung zuständig sind.
Dieses Ziel kann allerdings für niemanden dauerhaft eingelöst werden: Es ist praktisch unmöglich,
einen Körper zu besitzen, der die verschiedenen ableistischen Erwartungen moderner Gesellschaften erfüllt: "[E]veryone is virtually disabled, both in the sense that able-bodied norms are ‘intrinsically impossible to embody’ fully and in the sense that able-bodied status is always temporary, disability being the one identity category that all people will embody if they live long enough" (McRuer 2002, 95f.). Der Schatten des „compulsory able bodiedness“ lastet dabei auf allen Subjekten und übt Druck auf Einzelne als Einzelne aus – und bringt Erschöpfung und Abwertungen Anderer hervor
In den modernen Ableismus-Regimen – es gibt mehrere! – zeigt sich ein Fähigkeits-Individualismus. Als fähig gelten Einzelne, die dann die Privilegien ihrer Leistungsfähigkeit genießen dürfen, unter Bedingung der Einlösung der ihnen zugeschriebenen Potentiale. Die Untersuchung des Ableismus eröffnet damit die Frage nach der Einheit der Befähigung. Wer bzw. was ist fähig: Individuen, Gruppen, Organisationen, ganze Gesellschaften? Diese Maßstäbe der sozialen Einheiten, die fähig sind, werden von unterschiedlichen Akteuren und Disziplinen bereits jetzt sehr unterschiedlich angesetzt, wenn auch meist unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz von Teams, Organisationen und Staaten bzw. Volkswirtschaften (vgl. hierzu Beitrag von Julia Biermann in diesem Special Issue). Die Disability Studies können hier einen eigenen Beitrag leisten.
Neben der Rekonstruktion von Fähigkeitsregimen und ihren subjektivierenden Anrufungen kann es zukünftige Aufgabe der Ableismus-Forschung sein, im Verlauf der Geschichte ausgeschlossene, marginalisierte oder vergessene alternative Verständnisse des Verhältnisses von Können und Nicht-Können und ihrer Verteilung in Systemen der Arbeitsteilung und des Zusammenlebens zu erschließen. Im Umfeld der Disability Studies und der sozialen Bewegungen sowie der professionellen Praktiken, auf die sie sich beziehen, werden solche alternativen Wissensformen ja bereits experimentell umgesetzt, als Formen von Politik, als Assistenz, als Experimente des gemeinsamen Arbeiten und Lebens. Zwischen diesen experimentellen, reformerischen und politischen Praxen einerseits und wissenschaftlichen Praktiken der Kritik des Bestehenden klafft allerdings meist eine Lücke, die im Rahmen der Ableismus-Forschung geschlossen werden kann und teilweise bereits geschlossen wird. Welche anderen Verständnisse von Befähigung und Behinderung sind möglich, und wie können Bildung, Arbeit und Kultur organisiert sein, um ihnen zur Umsetzung zu verhelfen?
Inklusion, Partizipation und die Rückbindung von Wissenschaft an soziale und kulturelle Bewegungen sind bereits Momente einer ebenso emanzipatorischen wie technischen Umsetzung eines Wissens um die Kontingenz der Konstruktionen von Behinderung, Kompetenz, Fähigkeiten usw.
Solche Überlegungen haben keinen streng positiven, sondern einen utopisch-spekulativen Sinn, der aber, wenn nach Institutionen, Techniken und Praktiken ihrer Umsetzung gesucht wird, nicht idealistisch-normsetzend, sondern pragmatistisch, d.h. als Suchbewegung verstanden werden sollte. Dazu müssen alltägliche soziale Beziehungen, urbane und ländliche Strukturen, Assistenzsysteme, Arbeitsteilungen, die Garantie von Rechten und Bereitstellung von Ressourcen in einen Zusammenhang gesetzt werden, der den Übergang von einem Wissen um die Kontingenz der Konstruktionen (von Behinderung) zu einer praktischen Realisierung möglicher anderer Wirklichkeiten ebnet.
Ableismus beruht auf einer spezifischen Relationierung von Selbst und Anderen, in der eine Aufwertung eines Eigenen gegenüber einem Anderen oder vorgeblich Fremden stattfindet, die es zu untersuchen gilt. Zu unterscheiden ist dabei das Erleben von Fähigkeiten und die Zuschreibung dieser Fähigkeiten. Das Erleben des Könnens bildet eine grundlegende Erfahrung menschlicher Weltverhältnisse, in der Menschen die Erfahrung machen, ein wirksames, planerisches oder auch genießendes Verhältnis zur Welt auszubilden, d.h. eine Welt zu gewinnen. Dieses Erleben unterliegt unweigerlich einer kulturellen, materiellen und gesellschaftlichen Prägung, die allerdings im gegenwärtigen Ableismus die Form annimmt, etwas besser zu können als andere und dadurch eine Identität zu erhalten.
Erfahrungen und Erwartungen des Könnens müssen als allgemeines Moment gesellschaftlichen Lebens verstanden werden. Jeder und jede kann etwas, dass zur eigenen Subsistenz und Existenz beiträgt. Dies Können ist zugleich ein Können-Müssen, ein Naturzwang. Die philosophische Anthropologie konnte zeigen, dass die Gewinnung eines Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen eine der Grundkonstanten der menschlichen Lebensweise darstellt. Diese „exzentrische Positionalität“ (Plessner 1975/1928) zwingt Menschen dazu, im eigenen leiblichen Erleben Fähigkeiten auszubilden, d. h. je nach körperlich-geistiger Verfassung angemessen auf Situationen und auf sich selbst zu reagieren. Sie stehen dabei im eigenen Handeln gleichermaßen „neben sich“; „fangen“ und „lassen sich fangen“. Die Ausbildung der Fähigkeit, mit dem eigenen Leib und der Situation flexibel, d.h. nicht reflex- oder instinkthaft umzugehen, kann als anthropologische Konstante gelten: Jede und jeder hat Fähigkeiten, die sich im Umgang mit Situationen zeigen.
Mit der zunehmenden Versachlichung der Sozialwelt, die in die Moderne mündet, werden Formen und Verständnisse von Fähigkeit allerdings zunehmend voraussetzungsvoll, und damit Gegenstand kommunikativer Aushandlungsprozesse und technischer Konditionierungen. Spätestens in modernen Gesellschaften wandelt sich das Können-Müssen von einem Naturzwang zu einem gesellschaftlichen Zwang. Jede und jeder soll lernen und arbeiten, einen Beruf ergreifen, oder sich ersatzweise als Person legitimieren, die dazu nicht in der Lage ist. Fähig-Sein unterliegt dadurch vielfältigen Zuschreibungsprozessen. Ganze Wissenssysteme sind darauf ausgerichtet, Fähigkeiten festzustellen: Neben den Institutionen der Bildung und Arbeit sind dies die Disziplinen der Medizin, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, der Arbeitswissenschaft und weiterer Hilfsdisziplinen mit ihren Zertifizierungen, Diagnostiken, Klassifizierungen, Leistungsmessungen, Tauglichkeitsprüfungen usw. Das Nachdenken über Fähigkeiten und institutionalisierte Erwartungen an Fähigkeiten findet in verschiedenen wissenschaftlichen, politischen und alltäglichen Diskursen statt. Die kapitalistische Wirtschaftsform und die von ihr organisierten sozialen Beziehungen ist dafür verantwortlich zu machen, dass Personen im Rahmen des modernen Ableismus nach Maßgabe der Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft in vermachteten Arbeits- und Interaktionsverhältnissen beurteilt werden und (fast) nur in diesen Anerkennung finden. Noch die Einrichtung von Zonen des „Schonens“ und „Helfens“ (Pfahl 2011) ist ein Ausdruck dieses ableistischen Inklusionsregimes des Bildungs- und Arbeitsmarktes.
Die Disability Studies nehmen in der kapitalistisch geprägten „Arbeitsgesellschaft“ eine besondere Rolle ein, insofern es ihnen nicht um die Einsetzbarkeit von Menschen in Arbeitsprozessen, nicht allein um ihre kognitiven Kompetenzen, nicht um die Bestimmung von Gesundheit und Krankheit geht, sondern darum, den Möglichkeitsraum der Partizipation zu durchkreuzen und neu abzustecken.
Die kritische Beschreibung des Ableismus zielt darauf ab, diese und andere gesellschaftliche Zwänge zu untersuchen. Dabei wird zunächst eine unvoreingenommene, komparative Haltung eingenommen: Institutionen und Konstruktionen von Fähigkeiten werden als historisch spezifische und dabei relationale Phänomene betrachtet, die Ausdruck interpersonaler und ökonomischer Beziehungen sind und zudem in das Kultur-Naturverhältnis von Gesellschaften eingebunden sind. Mit dieser Bewegung wird die Beweislast umgekehrt: es geht nicht mehr darum, zu belegen, dass Personen mit Beeinträchtigungen auch teilhaben können, sondern es geht um die Frage, wie alle Menschen, auch vorgeblich schon Befähigte, in die Lage versetzt werden können, mit differenten Körpern, Existenzweisen, Kommunikationsformen umzugehen.
Im Kontext moderner Gesellschaften bleibt das Problem der Fähigkeiten nicht auf die Subsistenz oder Reproduktion beschränkt, sondern stellt sich als Frage der Teilhabe an intersubjektiven, sozialen Beziehungen dar. Als menschliches Individuum gelten dabei Körper, die als Gegenüber für Handelnde sichtbar werden und Anerkennung finden. Bei einer deskriptiven Haltung kann es allerdings nicht bleiben, und eine Ausweitung der Untersuchungen auf normatives Terrain lässt sich gar nicht vermeiden. Kritisches Ziel der Analysen von Ableismus ist die Unterscheidung legitimer von illegitimen Formen von Fähigkeitszuschreibungen. Als illegitim müssen Fähigkeitszuschreibungen dann gelten, wenn sie zu Grausamkeit (vgl. Berlant 2011, Lindemann 2009) oder zu Ungerechtigkeit (vgl. Walzer 1992) führen oder Effekt von Grausamkeit oder Ungerechtigkeit sind. Grausam sind Fähigkeitszuschreibungen dann, wenn sie zur illegitimen Gewalt (vgl. Lindemann 2014 zur Unterscheidung legitimer von illegitimer Gewalt) über Personen führen, denen Fähigkeiten temporär oder dauerhaft abgesprochen werden. Als ungerecht müssen Fähigkeitszuschreibungen gelten, wenn Chancen zur Ausbildung oder zur Anerkennung von Fähigkeiten durch Systeme von Ungleichheit verweigert werden, wenn der Zugang zu Systemen der Befähigung also versperrt ist.
Außerdem können Zuschreibungen von Fähigkeit sich als Bestandteil von dysfunktionalen oder sich als empirisch schlichtweg falsch erweisenden Annahmen über die Prozesse der Entstehung von Fähigkeiten herausstellen. Dysfunktionale Fähigkeitszuschreibungen führen zu interpersonalen, institutionellen oder gesellschaftlichen Funktionsstörungen, bei denen Organisationen ihre Leistungen nicht mehr ausreichend erbringen können, weil bestimmte Personen dauerhaft als unfähig oder fähig etikettiert werden, obwohl dies nicht zutrifft. Empirisch falsche Annahmen über Fähigkeiten und ihre Ausbildung werden von den Bildungs- aber auch den Human- und Naturwissenschaften regelmäßig hergestellt, aber auch korrigiert. Ihre materialreichen Befunde sind für Analysen von Ableismus Gegenstand kritischer Überprüfung, liefern aber auch empirische Belege und Hinweise. Dadurch soll eine kulturalistische Engführung der Ableismus-Kritik vermieden werden; es handelt sich nicht um eine Form des Ressentiments gegenüber den Fähigkeiten und den Fähigen, sondern um die Korrektur ihrer pathologischen Ausprägungen.
Vor dem Horizont solcher illegitimer Formen von Fähigkeitszuschreibungen und –erwartungen zeichnen sich vernünftige und emanzipatorische Fähigkeitskonzeptionen ab, deren positive Beschreibung allerdings nur ein allmählich zu erreichende Ziel Ableismus-theoretischer Analysen sein kann. Welches Verständnis von Fähigkeit diese Pathologien und ungewünschten Zustände vermeiden hilft, kann sich erst abzeichnen, wenn ihre defizienten Formen ausführlich beschrieben sind. Die Ableismus-Forschung bewegt sich damit in der ersten Etappe einer Untersuchung der grausamen, ungerechten, dysfunktionalen und falschen Vorstellungen über die Herausbildung von Fähigkeiten.
Im Folgenden richten wir im Hinblick auf den thematischen Schwerpunkt des Special Issues abschließend den Aufmerksamkeitsfokus auf Ableism im Kontext des Bildungswesens.
Für die Sozial- und Erziehungswissenschaften schaffte die Kritik an Ableism zunächst eine Fokussierung der Forschungsperspektiven auf Prozesse der Entstehung und des Erhalts der Vorstellung des „Normalen“ und des „Idealen“. Auch in der Bildungsforschung kann diese Forschungsrichtung sehr produktiv genutzt werden und die Diskussion um Inklusion bereichern. Es geht zum einem um eine Umkehrung des forschenden Blicks: nicht die Konstruktion von Behinderung wird fokussiert, sondern es wird aus einer Analyse dessen, was als selbstverständlich angenommen wird, die Konstruktion „normaler“ Fähigkeiten kritisiert. Dies schließt eine Auseinandersetzung mit den als ideal erachteten korporealen Standards mit ein. Zudem wird Ableism in seiner Wirkung auf alle Beteiligten untersucht. Nicht nur bestimmte Gruppen werden in den Blick genommen, sondern die als „normal“ gesetzten Mehrheit wird in Relation zu ihnen analysiert. Damit stellt eine Kritik an Ableism immer auch unser Verständnis von Handlungsfähigkeit in Frage: Prozesse der Befähigung (durch Privilegien und allgemeine Unterstützungssysteme) geraten in den Blick. Die Untersuchungen werden meist in intersektionaler Perspektive durchgeführt, weil Behinderung und Begabung jeweils mit Konstruktionen von Geschlecht, ethnisch-kultureller Herkunft usw. verknüpft sind.
Mit der Sichtbarmachung und Befragung des Selbstverständlichen liefern die Disability Studies in Education einen wichtigen Beitrag zum gegenwärtigen Verständnis von Inklusion und können als kritischer Begleiter von bildungspolitischen Prozessen erachtet werden (vgl. dazu die Beiträge von Swantje Köbsell und Marianne Hirschband in diesem Special Issue).
Die Praktiken der Schule sind, mit Foucault gedacht, auf eine Normalisierung, Disziplinierung und Individualisierung der Schülerschaft ausgerichtet. Ziel ist es hierbei, Schüler und Schülerin mit normalen Fähigkeiten zu produzieren. Dieses Ziel ist zwar nicht explizit in Curricula und Policies vermerkt, trotzdem leitet es die Handlungen von schulischen Professionellen an. Das „normale Kind” ist unsichtbar, aber in der Schule allzu gegenwärtig: „We are left with an invisible elephant in the middle of the [class-] room: the normal child“ (Baglieri et al. 2011, 2139). Die Subjektposition „normaler Schüler“ ist nun von verschiedenen Imperativen umrandet. Schulische als auch körperliche Performanz müssen sich innerhalb einer Normalitätsmatrix bewegen, die von Klassifikationssystemen und Testregimen (neben den ohnehin existierenden kulturellen Zuschreibungen) zusätzlich abgestützt wird (vgl. Richardson & Powell 2011). Das bedeutet entweder die Segregation in einer Sonderschule oder die Etikettierung mit „Sonderpädagogischen Förderbedarf“ in einer Regelschule. Damit verbunden ist gesellschaftliche Erwartung an Kinder und Jugendliche mit Hilfe (sonder-)pädagogischer Expert_innen, das eigene Defizit zu überwinden. Ableismus erweist sich hier als grundlegende Barriere für Inklusion (Storey 2007). Ableistische Praktiken von Regelschulen verwandeln bildungspolitische Reformbemühungen zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen in eine Paradoxie (vgl. auch Schreiber-Barsch & Pfahl 2014): Einerseits erhalten Kinder (und ihre Eltern) ein Inklusionsversprechen, wonach ihnen die Teilhabe an „Bildung für alle“ ermöglicht werden soll, andererseits bleibt das eigentliche Instrument zur Markierung von Differenz, das nichts anderes als eine Institutionalisierung des „able/not-able divide“ (Campbell 2009, 7) darstellt, häufig unangetastet.
„Institutional Ableism“ (Beratan 2006, o.S.) produziert Besonderung und Ausschluss von als körperlich abnorm erachteten Kindern und verwebt sich mit anderen institutionellen Diskriminierungen, wie Rassismus und führt so zu institutionalisierten Ungleichheiten. Aus dieser intersektionalen Perspektive lässt sich z.B. das Phänomen der Überrepräsentanz von afro- und latinoamerikanischen Kindern in der Kategorie „special educational needs“ in den USA verstehen, wonach die mit „race“ verbundenen Benachteiligungen nicht bloß mit jenen der körperlichen Differenz kulminieren, sondern diese als konstruierter Effekt eines wechselseitigen Verhältnis von zwei institutionalisierten Diskriminierungsmustern zu verstehen sind (Watts & Erevelles 2004, Beratan 2006, Artiles 2011). Die „racialization of abilities“ (Artiles 2011) bzw. „racialization of disabilities“ (Erevelles 2002, 5) schließen an historische Konstruktionen „natürlicher“ kognitiver Fähigkeiten von Menschen unterschiedlicher Herkunft an; und dies nicht nur im nordamerikanischen Raum, sondern auch in deutschsprachigen Ländern (vgl. Luciak 2009; Rose 2010).
Ableism wirkt als Körperideologie und Phantasma der Handlungsautonomie über institutionalisierte Strukturen und die damit verbundenen professionellen Praktiken hinaus auf sämtliche soziale Räume der Schule. So zum Beispiel auch dem Pausenhof, wo in den Interaktionen zwischen Kindern ableistische Normen über Anrufungen und andere Performativitäten (re-)produziert werden. Diese Praktiken stehen zwar mit den institutionalisierten Praktiken in Verbindung, verweisen, wie Holt (2007) anmerkt, jedoch auch auf breitere gesellschaftliche Diskurse über Ideale und Normen. Schüler_innen werden von ihren Peers gemobbt („bullied“) und marginalisiert, wenn sie als „non able-bodied“ wahrgenommen werden (vgl. Holt 2004a; 2004b; 2007). Auch hier zeigen sich intersektionale Verstrebungen. Jungen werden mit Verweis auf ihre Behinderung als nicht-maskulin angerufen, oder versuchen durch performative Sportlichkeit eine Position innerhalb des Maskulinen zu erreichen um sich zu „egalisieren“ (vgl. Loeser 2010). Die Präsenz behinderter Kinder bringt Dichotomien zwischen „able/not able“ ins Wanken oder fordert sie zumindest heraus (Goodley 2014; McRuer 2006). Inklusive Schulkonzepte können damit praktische Verschiebungen des „ableism divide“ ermöglichen.
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