Joachim Wondrak: Integration und Teilhabe von behinderten Kindern und Jugendlichen durch zirkuspädagogische Angebote

Abstract: Der vorliegende Beitrag basiert auf Ergebnissen eines Forschungsprojektes an der Hochschule Fulda zu der Frage, ob Integration und Teilhabe von behinderten Kindern und Jugendlichen durch zirkuspädagogische Angebote ermöglicht werden und eröffnet so Einblicke in die hier gegebenen Potenziale, die beispielhaft anhand der Arbeit des Vereins ZirkuTopia e.V. dargestellt und diskutiert werden. Der Verein ZirkuTopia e.V. offeriert in Kassel seit über 20 Jahren ein außerschulisches Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche von 7 – 21 Jahren. Grundlage der Untersuchung sind Experteninterviews mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von ZirkuTopia e.V., mit teilnehmenden Kindern und Jugendlichen und deren Eltern. Die Ergebnisse werden bezüglich der zugrunde liegenden pädagogischen Konzeption der Zirkusarbeit und der daraus resultierenden Möglichkeiten der Inklusion dargestellt. Bei der zirkuspädagogischen Arbeit wird deutlich, dass nur das Zusammenspiel von sozial-gemeinschaftsbildenden und künstlerischen Aspekten, verbunden mit der ästhetischen Praxis der Aufführungssorientierung eine tragfähige Konzeption ergibt und die Basis integrierender Momente bildet. Diese beinhalten auf der einen Seite Spontaneität, Freiheit, Offenheit, Vielfalt und kreatives Chaos, werden auf der anderen Seite durch personelle und finanzielle Rahmenbedingungen deutlich begrenzt. Trotz der Limitierungen endet der Beitrag mit dem positiven Fazit, dass Kinder- und Jugendzirkusarbeit zur Inklusion beitragen kann und durch diese positiven Sozialisationseinflüsse Kinder- und Jugendliche zu Persönlichkeiten heranwachsen, die zudem häufig soziales Engagement entwickeln.

Stichworte:Integration und Teilhabe, Zusammenführen heterogener Gruppen, pädagogische Dimensionen der Zirkuspädagogik, Projekt Zirkutopia e.V.

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung: das Zusammenführen heterogener Gruppen als pädagogische Herausforderung
  2. Methodisches Vorgehen
  3. Ergebnisse
  4. Fazit
  5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Zusammenführen heterogener Gruppen als pädagogische Herausforderung
Im Rahmen des Lehrforschungsprojektes: „Integration und Teilhabe von behinderten Kindern und Jugendlichen durch zirkuspädagogische Angebote“ an der HS Fulda untersuchte die Forschergruppe,[1] welche Auswirkungen die Arbeit des Vereins ZirkuTopia e.V. auf die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen haben. Ausgehend von dem Theoriemodell von Rheker (1996)[2], dass das entscheidende Merkmal beim Zusammenführen heterogener Gruppen die Intensität und Dauerhaftigkeit ist (Tiefendimension der Integration), ist die Fragestellung, ob und in wie weit die zirkuspädagogischen Angebote diese Dimension erreichen. Darüber hinaus ging die Forschergruppe der Frage nach, ob ZirkuTopia e.V. mit seiner Arbeit auch die Zielstellung der Inklusion erreicht, die als Grundrecht nach der UN Konvention in Deutschland seit 2009 Gültigkeit hat. Neben diesen zentralen Anliegen war auch die pädagogische Konzeption der Zirkusarbeit wesentlicher Untersuchungsgegenstand. Da Kinderzirkusarbeit nach Kiphard (1997) sehr unterschiedliche pädagogische Bereiche (Moto-, Sport-, Erlebnis-, Spiel- und Sozialpädagogik)[3] anspricht, sollte untersucht werden, welche Bedeutung diese Bereiche haben und inwiefern sie persönlichkeits- und integrationsfördernd sind.

2. Methodisches Vorgehen

Als Grundlage für die Arbeitshypothesen dienten die genannten Theorien von Rheker und Kiphard und auch die von Christel (2009), der in erster Linie das motorische Lernen in der Zirkuspädagogik untersucht. Dem qualitativen Paradigma der empirischen Sozialforschung folgend erarbeitete die Forschungsgruppe auf der Basis der Arbeitshypothesen drei verschiedene Interviewleitfäden, die als Grundlage für leitfadengestützte Experteninterviews dienten (für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, für Eltern und für Kinder und Jugendliche, die am Zirkuscamp 2013 teilnahmen). Während eines von ZirkuTopia e.V. veranstalteten Zirkuscamps wurden vom 12.08 – 14.08.2013 neun Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Vereins ZirkuTopia e.V., vier „Zirkus-Eltern“ und sechs teilnehmende Kinder und Jugendliche interviewt. Dank des günstigen Zeitpunktes und Ortes konnten viele qualitativ hochwertige Interviews in kurzer Zeit durchgeführt werden. Viele langjährig (zwischen 6 und 20 Jahren), in unterschiedlichsten Funktionen als Hauptamtliche, Honorarkräfte und Vorstandsvorsitzende tätige Sozialpädagog/innen und Künstler/innen nahmen zu den o.g. Themen Stellung. Auch die beteiligten Eltern und ihre Kinder trugen als „Experten in eigener Sache“ zu einer Grundlage für weitere Erkenntnisse bei.

3. Ergebnisse

a) pädagogische Konzeption
In der konzeptionellen Ausrichtung der Angebote spielen die fünf o.g. pädagogischen Dimensionen eine wesentliche, ineinandergreifende und sich ergänzende Rolle.
Die Vermittlung basaler Bewegungstechniken mit Hilfe der Motopädagogik erfolgt durch die spielerische Einbettung und Gestaltung der Aufgaben. Der niedrigschwellige Zugang mit einfachen Aufgaben ermöglicht schnelle Erfolgserlebnisse. Da mit unterschiedlichsten Materialien und Übungen die gleichen motorischen Fähigkeiten gefördert werden können, ist durch die freie Wahl der Requisiten ein hohes Maß an Eigenförderung der Kinder, die sich selbst motivieren, gegeben. Förderung geschieht somit beiläufig – en passant – und ist nicht durch vorgegebene Zielraster, wie beispielsweise das Erreichen bestimmter Therapieziele, bestimmt. Individuelle Förderung und erzielte Fortschritte sind als Prozesse zu begreifen, bei denen unterschiedlich lange Zeiträume eine Rolle spielen. Insbesondere in der taktilen Wahrnehmung wie Greifen und Balancieren sind Fortschritte zu beobachten, wie einige der Anleiter übereinstimmend berichten.
Der Zugang zum Erlernen von Zirkustechniken, hier dem Bereich der Sportpädagogik zugerechnet, erfolgt sachte und durch spielerische Heranführung – viele der Grundübungen werden als Gemeinschaftsspiele eingeführt. Im Laufe der Jahre haben sich zudem drei Vorgehensweisen zur Vermittlung artistischer Techniken etabliert. 1. Einführung und Erklärung von Grundtechniken wie Jonglieren, Akrobatik u. a., 2. Freies Training, das heißt, dass die Kinder und Jugendlichen die Requisiten selbst aussuchen können und 3. das Durchlaufen von Stationen (analog zum Zirkeltraining), in denen unterschiedliche Requisiten zur Verfügung gestellt werden. Durch das eigene Aussuchen bekommen die Teilnehmer/innen einen sehr guten Bezug zu dem Material, „das ist so etwas, wie eine Liebe“ (Alexander Koisser, 13.08.2013), zudem können „flow-effekte“ entstehen, die beruhigend sind und die Kinder und Jugendlichen selbstvergessen spielen lassen. Michel Fickinger und Nico Götze berichten, dass kein Leistungsdruck herrscht: „Ja, der Zirkus ist halt nicht so leistungsorientiert wie ich das bei anderen Zirkussen erlebt habe, wo auf jeden Fall sehr stark auf die Technik geachtet wird. Hier wird mehr auf die Kinder geachtet“ (Michel Fickinger, 13.08.2013). „Da haben wir ja eher den Inklusionsansatz und uns geht’s nicht darum Stars zu produzieren“ (Nico Götze, 14.08.2013). Statt Leistungsdruck findet produktiver Wettbewerb und Austausch der Kinder und Jugendlichen untereinander statt. Insbesondere befreundete Kinder zeigen sich untereinander stolz, was sie bereits gelernt haben. Neben dieser Eigeninitiative erfolgt auch Delegation durch die Anleiter/innen, die die Kinder zum Zeigen und Nachahmen animieren. Fortschritte beim Erlernen artistischer Techniken stellen sich durch kontinuierliches Üben ein, wobei Disziplin, Durchhaltevermögen und Spaß maßgeblichen Einfluss haben. Die insgesamt positive Einschätzung des erreichten artistischen Könnens spiegelt sich in der Aussage Ben Stuhrmanns wieder: „Fortschritte sind endlos“ (13.08.2013). Auch ist die Sportpädagogik besonders zur Vermittlung sozialer Fähigkeiten geeignet, da es beispielsweise beim Erlernen von akrobatischen Übungen sehr auf Vertrauen, Rücksichtnahme und Verlässlichkeit ankommt.
Die erlebnispädagogische Komponente findet sich bei ZirkuTopia im Arbeitsprinzip der Aufführungsorientierung wieder. Die Kinder und Jugendlichen werden langsam und schrittweise an öffentliche Aufführungen herangeführt, indem sie bereits bei den Gruppenstunden Erlerntes vor Anderen präsentieren. Diese wiederkehrenden kleinen Aufführungen, als work in progress, geben ihnen im Lauf der Zeit Sicherheit, sich auch größerem Publikum zu präsentieren. Aus Sicht der Eltern und Anleiter/innen sind gelungene Aufführungen von besonderem Erlebnis- und Erfahrungswert, wie die drei folgenden Zitate zeigen: „Meine Erfahrung ist, dass Kinder, die gerade mehrere Jahre bei uns sind, dass schüchterne Kinder gerade durch diese Aufführungssituationen unheimlich selbstbewusst werden“ (Alexander Koisser, 13.08.2013). „Die sind einfach gewachsen, drei Meter gewachsen, nach so einem Auftritt, vor allen Dingen dann die Kinder, die sich das erst gar nicht so zugetraut haben“ (Anne Pirone, 13.08.2013). „Die sind immer so was von glücklich hinterher… da denkt man manchmal, da passieren kleine Wunder“ (Marianne Kunze-Turmann, 13.08.2013). Laut Kunze-Turmann ist es sehr positiv für die Kinder, die eigene Entwicklung zu spüren und auch rückgemeldet zu bekommen, insbesondere für die psychische Entwicklung. Gerade für Kinder mit Behinderung und anderen Beeinträchtigungen ist es wichtig, diese Stärkung des Selbstwertgefühls zu erleben, sowohl für die Kinder als auch für ihre Angehörigen (vgl. 13.08.2013). Alexander Koisser hebt zudem die soziale Komponente, die Stärkung des Gruppengefühls (sich aufeinander verlassen, Vertrauen geben können) hervor, während Ben Stuhrmann und Michel Fickinger auf die Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere des Selbstbewusstseins verweisen. Wie auch in Bezug auf persönlichkeitsfördernde Momente ist die Wirkung des Mediums Zirkus zu relativieren, aber eine deutliche Förderung von sozialen Kompetenzen und psychomotorischen Fähigkeiten werden von den Anleitern konstatiert. Hier kann von langfristigen Wirkungen ausgegangen werden, die sich in regelmäßigen Motivationsschüben zeigen, sich durch das Medium Zirkus weiter zu entwickeln.
In den Erläuterungen zu motopädagogischen und sportpädagogischen Aspekten wurde bereits deutlich, wie groß die Bedeutung der Spielpädagogik ist. Entsprechend des Grundsatzes „Spielen ist lernen!“ beginnt jede Gruppe mit einem Spiel, denn „Spiel ist Spaß, Spiel ist Freude, und Spiel ist dann immer auch Entspannung“ (Anne Pirone, 13.08.2013). Für Kunze-Turmann besteht der spielerische Zugang darin, dass die Kinder sich selber entwickeln und gestalten können, ein besonderes Merkmal, dass das Zirkusprojekt von Schulen und anderen Einrichtungen unterscheidet: „Kinder – wenn man sie lässt – können spontan unglaublich kreativ werden und tolle Fertigkeiten entwickeln und einsetzen und dafür bietet der Zirkus Raum. Kinder ohne Beeinträchtigung haben in ihrem Alter sehr viel Gelegenheit dazu, auf dem Spielplatz und zu Hause und überall. Aber die behinderten Kinder haben nicht so viel die Gelegenheit dazu und im Zirkus haben sie die. Da gibt es eine Reihe von inspirierenden Dingen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden und dann Vorbilder und Handlungen, die dazu inspirieren, selber was damit zu machen. Und das tun sie dann“ (Marianne Kunze-Turmann, 13.08.2013). Ein weiterer wichtiger Aspekt des spielerischen Zugangs ist die Förderung der sozialen Interaktion durch Namens-, Vertrauens- und Rollenspiele, die Nähe, Vertrauen und Körperkontakt entstehen lassen. Hierdurch haben auch ruhige, zurückhaltende Teilnehmer/innen immer wieder die Möglichkeit, im Mittelpunkt zu stehen. Die spielerischen Kompetenzen wie Wahrnehmungsfähigkeit, Bewegungsrepertoire und Bühnenpräsenz, die stark mit der Entwicklung von theatralischen Ausdrucksfähigkeiten einhergehen, entwickeln sich nach Einschätzung der Anleiter/innen langfristig über Jahre hinweg.
In der Zirkusarbeit ist die Frage des sozialen Miteinanders von elementarer Bedeutung. Da Akzeptanz und Toleranz der Kinder und Jugendlichen untereinander nicht von vorherein gegeben sind, bestehen hier besondere Anforderungen, denen sich die Mitarbeiter/innen im Rahmen der sozialpädagogischen Arbeit stellen müssen. Das Miteinander, das im Zirkus notwendig ist, wird gezielt gelenkt und gefördert. Dazu werden Lernräume geboten, Offenheit füreinander hergestellt und gleichzeitig Berührungsängste abgebaut, wie Ben Stuhrmann ausführt: „Also es sind natürlich Vorurteile da und grade gegenüber Behinderten immer. Aber diese Vorurteile werden ganz, ganz schnell abgebaut. Weil sie einfach immer wieder merken, der kann aber andere Sachen viel, viel besser als ich. Selbst wenn er sabbert, kann er aber mit drei Keulen jonglieren. Und ich bin jemand der eigentlich ganz fit ist, aber ich kann noch nicht mal drei Keulen jonglieren. So, also findet schon immer diese, ja Vorurteilsvernichtung statt“ (13.08.2013). Unter der Prämisse der professionellen Zusammenarbeit werden Wege gefunden, dass alle zusammen auf der Bühne stehen können. Die Kinder machen die notgedrungene Erfahrung, dass Aufführungen immer nur in der Gemeinschaft mit vielen Künstlern umgesetzt werden können. In diesem Zusammenhang bekommt die Aufführungsorientierung eine besondere Bedeutung.
Aus der Zusammenschau der verschiedenen pädagogischen Dimensionen ergibt sich, dass sie sich in vielen Bereichen überschneiden und schwer trennbar sind, aber die Mitarbeiter/innen heben aus ihrer Sicht eindeutig die sozialpädagogische und die künstlerische Komponente hervor.

b) Inklusion – Herausforderungen
Die Zusammensetzung der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen hat sich im Lauf der letzten Jahre stark gewandelt. Ursprünglich war die Idee ein außerschulisches Angebot für behinderte Kinder zu schaffen, so dass es zuerst kaum nicht behinderte Kinder gab. Im Sinne der Inklusion versucht ZirkuTopia e.V. seit längerer Zeit eine gute Mischung zu erreichen, so dass ein Abbild der Gesellschaft entsteht. Demzufolge sind jetzt insgesamt mehr nicht behinderte Kinder dabei. Genauere Angaben zu einer prozentualen Verteilung behinderter und nicht behinderter Kinder, wie sie von Auftrag- und Geldgebern oftmals gewünscht werden, können nicht gemacht werden, da die Frage für die Anleiter/innen eigentlich nicht von Interesse ist. Viele Mitarbeiter/innen sind sich darüber einig, dass es ist sehr schwer zu definieren ist, wo Behinderung anfängt und welche Bedeutung diese im konkreten Zusammenhang hat. Entsprechend der Leitidee von ZirkuTopia soll niemand ausgeschlossen werden, indem auf festgelegte Standards verzichtet wird, wie Kunze-Turmann ausführt: „Wie offen sind wir für eine bunte Mischung, im wahrsten Sinne des Wortes positiv oder negativ? […] Im Zirkus besonders… also diese Vielfalt, diese bunte Vielfalt ist, denke ich, ein guter Rahmen dafür. Das zu gestalten, das zu bewahren und aufzupassen, dass nicht Maßstäbe gesetzt werden an einzelne Menschen, denen sie nicht gerecht werden können oder die sie in ein Schema pressen, das ist vielleicht die Herausforderung“ (13.08.2013). Die Zirkus-Gemeinschaft ist der geeignete Rahmen, um die vielfältigen Interessen und Kompetenzen zu entwickeln und individuell zu fördern. „Einbeziehung von Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, denke ich, das ist im Zirkus relativ leicht umzusetzen. […]. Wir arbeiten mit Talenten. Also wir setzen immer da bei dem an, was jemand besonders gerne mag und besonders gut kann und weiterentwickeln kann und wo er Erfolgserlebnisse haben kann. Und das ist ganz unabhängig davon, wo jemand diese Stärken und Schwächen hat“ (Marianne Kunze-Turmann, 13.08.2013). Die praktische Umsetzung wird oftmals durch die Adaption zirzensischer Übungen und Spiele erreicht, so dass Menschen mit und ohne Behinderung mitmachen und mitspielen können. Häufig haben die Kinder, als Experten in eigener Sache, selbst Ideen zur Umsetzung. Zudem kommt es auf das richtige Maß der Herausforderung an, wie Anne Pirone ausführt: „Ich fordere die, die gefordert werden möchten und gebe denen Zeit, die Zeit brauchen“ (13.08.2013).
Die praktische Umsetzung inklusiver Ansätze ist an Rahmenbedingungen gebunden; diese lassen sich auf die Mitarbeiter/innen, die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern beziehen. Zuerst einmal: Die praktische Umsetzung inklusiver Ansätze funktioniert nicht ohne ausreichend Personal. Die Betreuungskapazitäten der Anleiter/innen setzen klare Grenzen, sonst können sie dem pädagogischen Anspruch nicht gerecht werden und die Gefahr der Überforderung besteht, wie die Vorstandsvorsitzende Kunze-Turmann beobachtet: „Und wir müssen aufpassen, dass das Chaos nicht überhandnimmt, das kreative Chaos. […]. Also wir müssen manchmal sehr aufpassen, dass unsere Mitarbeiter sich nicht überfordern, die sehr Engagierten, das kann ganz leicht passieren, es gibt tausende Aufgaben hier…“ (13.08.2013). Die Mitarbeiter/innen müssen immer wieder ihre eigenen Grenzen ausloten und ihr Engagement im Rahmen des zeitlich und finanziell Machbaren halten. Die zweite Begrenzung bezieht sich auf die persönliche und gesundheitliche Situation der Kinder und Jugendlichen. Gefährdungen und Risiken müssen, insbesondere bei Kindern mit gesundheitlichen Einschränkungen oder bestimmten Körperbehinderungen, minimiert werden. Auch extreme psychische Probleme oder gewalttätiges Verhalten sind besondere Herausforderungen für die Anleiter/innen, die schon dazu geführt haben, dass Kinder von den Zirkusgruppen ausgeschlossen werden mussten. Eine dritte Begrenzung und Herausforderung ist die Arbeit mit den Eltern, die z.T. mehr Wert auf schulische als auf persönliche Entwicklung legen. Diese haben Ängste, Wünsche und Erwartungen, die sie im Zirkus nicht ausreichend umgesetzt sehen. Dazu führt Marianne Kunze-Turmann aus: „Indem sie es wenig wertschätzen, was die Kinder machen oder indem die Eltern diese Freiräume nicht akzeptieren können, die im Zirkus den Kindern gegeben werden. Die meinen auch im Zirkus müssten die Erzieher sozusagen die Elternrolle, die überfürsorgliche Elternrolle übernehmen. Machen die aber nicht, ne. Oft aus gutem Grunde, aber da kann es zu Konflikten kommen und das muss man aushalten und beim Zirkuscamp ist das schon immer mal wieder auch Thema. Dass das für die Eltern auch ganz bedrohlich ist, wie viel Freiheit ihre Kinder hier haben…“ (13.08.2013).

4. Fazit

Trotz der Begrenzungen in der praktischen Umsetzungen gelingt es dem Verein ZirkuTopia e.V., der bundesweit als Leuchtturmprojekt gilt[4], über seine zirkuspädagogischen Angebote Menschen mit und ohne Behinderung zusammen zu bringen. Die ist insofern eine Besonderheit, weil Angebote und Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderung rar sind, wie Frau G., als betroffene Mutter zweier Kinder, ausführt: „Jeder der ein Kind mit Handicap hat, weiß wie schwer das ist, etwas zu finden, was das Kind gerne macht, was es trotzdem fördert, fördert in dem Maße was das Richtige ist“ (Fr. G., 14.08.2013). Auch die ehemalige Teilnehmerin, Roshin XY, die inzwischen Verantwortung als Teamerin übernimmt, betont die Bedeutung des integrativen Angebotes: „Es ist die einzige Gruppe, wo die Leute bereit sind, alles mit mir zu tun und zwar ausnahmslos alles. Und das ist schon besonders! […]. Der Zirkus ist der einzige Ort, den ich kenne, der so integrativ mit Kindern umgeht. [...]. (13.08.2013). Alle Beteiligten tauschen sich intensiv aus und fühlen sich als Teil einer großen „Zirkus-Familie“[5]. Über das Medium Zirkus wird eine Gemeinsamkeit geschaffen, die durchaus auch in den privaten Bereich der Beteiligten reicht, Bekanntschaften und Freundschaften werden geschlossen, so dass Integration und Teilhabe erreicht wird (vgl. Interviews Marianne Kunze-Turmann, Anne Pirone, Roshin XY, 13.08.2013).
Dabei spielen verschiedene pädagogische Aspekte eine Rolle, die der Konzeption des Zirkus gemäß gut ineinander greifen. Hervorzuheben sind die soziale-gemeinschaftsbildende und die artistisch-künstlerische Dimension, die sich in der ästhetischen Praxis der Aufführungsorientierung (u. a. Zirkusgala) niederschlagen.
Aus den verschiedenen pädagogischen Bereichen lassen sich persönlichkeitsfördernde Momente ableiten wie Mut haben, eigene Phantasien zu entwickeln und eigenen Ideen zu vertrauen (vgl. Kunze-Turmann, 13.08.2013). Diese jedoch in erster Linie auf die Zirkusarbeit zurück führen zu wollen, wäre zu kurz gegriffen, da Zirkus oft nur ein kleiner Teil im Leben der Kinder ist (vgl. Alexander Koisser, 13.08.2013)[6]. Jedoch ist von Anleitern und Mitarbeiterinnen übereinstimmend beobachtet worden, dass die Kinder, die über Jahre dabei sind, zu Persönlichkeiten herangewachsen sind (vgl. Astrid Küllmer, 13.08.2013, Susanne Götze, 14.08.2013), die häufig als Jugendliche und junge Erwachsene soziales Engagement zeigen, indem sie beispielsweise wichtige Aufgaben im Zirkus übernehmen[7].

5. Literaturverzeichnis

Christel, Matthias (2009): Bewegungskünste. Motorisches Lernen in der Zirkuspädagogik, Norderstedt: Books on Demand

Kiphard, Ernst J. (1997): Pädagogische und Therapeutische Aspekte des Zirkusspiels. In: Ziegenspeck, Jörg (Hrsg.): Zirkuspädagogik. Grundsätze – Beispiele – Anregungen. Eine Dokumentation anlässlich des Internationalen Kinder- /Jugend- Circus & Theaterfestivals in Hamburg. Heft 5 / 6 Mai – Juni und 7 / 8 Juli – August 17. Jahrgang. Lüneburg: Verlag edition erlebnispädagogik, S. 14-19

Rheker, Uwe (1996): Integrationssport – Sport ohne Aussonderung. Darstellung eines praxisorientierten Ansatzes einer differenzierten Integrationspädagogik für den Sport von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Band 40. Hamburg: Czwalina Verlag

Wondrak, Joachim (2009): Zirkus – ein Weg zur Integration behinderter Kinder? In: Gemeinsam leben – Zeitschrift für integrative Erziehung 1/2009. Juventa Verlag, S. 35-39

Zacharias, Wolfgang (2000):Zirkus ist mehr … . In: Schnapp, Sibylle / Zacharias, Wolfgang (Hrsg.): Zirkuslust. Zirkus macht stark und ist mehr ... . Zur kulturpädagogischen Aktualität einer Zirkuspädagogik. Unna: LDK-Verlag
http://www.behindertenbeauftragter.de/DE/Landkarte/Details/inklusion_details_node.html?cms_idInclusion=5406, am 15.01.2014

www.zirkutopia.de

Interviews mit Mitarbeiter/innen von ZirkuTopia, Eltern und Kindern, geführt vom 12.08. – 14.08.2013


[1]      Die Forschergruppe besteht aus Studierenden (Benjamin Köhler, Mathias Müller und Alexander Torreck) und Absolventinnen (Susann Pullmann, Vera Spiegel) des Studiengangs Soziale Arbeit der HS Fulda unter der Leitung von Dr. Joachim Wondrak

[2]     vgl. Rheker 1996: 25, 44-52

[3]    vgl. Kiphard 1997: 14

[4]    So formulierte es der Beauftragte für Belange für behinderte Menschen im Jahr 2011.

[5]     Andrea Koisser drückt diesen Aspekt in einem poetischen Bild aus: „Es bildet sich so eine Riesenliebesblase“ (13.08.2013).

[6]    Allerdings ist hier auch eine Ausnahme anzuführen, die eine hohe persönliche Bedeutsamkeit ausdrückt: „Zirkus ist hier mein Leben. Wirklich!“ (Roshin XY, 13.08.2013).

[7]    Einige der ehemaligen Teilnehmer/innen gehören inzwischen zum Teamer- oder Anleiterkreis.