Abstract:Je mehr der bürgerrechtsbewegte Anspruch auf Inklusion aus dem Schutz- bzw. Schonraum der Modellversuche in die Fläche der Bundesländer überführt wird, werden entsprechend zunehmend Widerstandsszenarien öffentlich. Über eine Reinterpretation entlang zweier Analysefolien wird versucht, die aktuell präferierte institutionelle Schulentwicklungsvariante zu bestimmen, zu hinterfragen und einzuordnen. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass mit der konsequenten Umsetzung einer evidenzbasierten Optimierungsstrategie bei gleichzeitiger Pluralisierung der schulischen Verhältnisse durch Inklusion, die Komplexität und der Grad der erzeugten Widersprüche im Schulsystem erheblich zunimmt. In Rahmen dieser widersprüchlichen Situation wird aus subjektwissenschaftlicher Sicht für die Relativierung des Steuerungsmodus und für eine Ergänzung dieses durch einen zweiten verständigungsorientierten Modus plädiert, der Zeit-Räume für Fragen der Lebensführung eröffnet.
Stichwörter: Schulentwicklung, Inklusion, Subjektwissenschaft, Subjektstandpunkt, Schulentwicklungsforschung
Inhaltsverzeichnis
Annedore Prengel und Friederike Heinzel (2012) arbeiten über den Begriff der Heterogenität den Anspruch inklusiver Pädagogik heraus. Unter Bezug auf Adorno werden mit dem Begriff "Verhältnisse zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet sind" verstanden. Die Autorinnen beziehen sich entsprechend auf Menschenrechts- und Demokratiekonzeptionen, denen die Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Solidarität gemeinsam sind: „Nicht untergeordnet sein“ bedeutet gleichgestellt zu sein. „Verschieden sein können“ bedeutet frei von Vorgaben anderer zu sein. „Sich selbst und andere in ihrer Gleichheit und Freiheit anzuerkennen“ bedeutet solidarisch zu handeln. Mit der Verschiedenheit geht die Vielschichtigkeit der Prozesse, die Veränderbarkeit und die Unbestimmbarkeit der Adressatinnen und Adressaten von Bildung einher (vgl. Prengel/Heinzel 2013, 5/35f; Prengel 2015, 31). Die von Wocken genannten, daraus resultierenden Handlungsfolgen („Gleichstellung“, „Inklusion“ und „Assistenz“) fordern wiederum eine auf Unterscheidung basierende institutionelle Anordnung (hier: Schule) in ihrem Selbstverständnis heraus: Rahmenbedingungen müssten geändert, andere Verfahrensweisen bestimmt und qualitativ andere Lösungen für Unterricht, Schulorganisation, Professionalisierung und institutionellem Handeln gefunden werden (vgl. Wocken 2012, 20). Durch die rechtsverbindliche Verpflichtung der Bundesregierung zur Sicherstellung eines flächendeckenden inklusiven Bildungsangebots steht dann auch die Gesellschaft im Allgemeinen und die Schulpolitik, die Schulorganisation, aber auch die Bildungswissenschaft im Besonderen unter Handlungsdruck.
Je mehr der bürgerrechtsbewegte Anspruch auf Inklusion aus dem Schutz- bzw. Schonraum der Modellversuche in die Fläche der Bundesländer überführt wird, werden entsprechend auch zunehmend Widerstandsszenarien öffentlich. Wocken (2010, 26) setzt sich mit den Einwänden dieser gesellschaftlichen Gruppen auseinander und resümiert: Einerseits würde auf der Bekenntnisebene Inklusion als gesamtgesellschaftliches Projekt einhellig begrüßt; andererseits knüpfe allerdings ein beträchtlicher Teil der Befürworterinnen und Befürworter ihre Zustimmung etwa an den gleichzeitigen Erhalt eigenständiger sonderpädagogischer "Existenzformen". Fazit: Inklusion ja - aber unter dem Vorbehalt des Erhalts von Parallelstrukturen. In der Tendenz bedeutet dies eine "Halbierung der Inklusion", die im Widerspruch zu Postulaten aus Politik, Wissenschaft und Kultusverwaltung stehen (Rihm 2015a, 297ff). Karl-Heinz Dammer (2011, 17ff ) sieht einen der Gründe dieser widersprüchlichen Situation darin, dass der aktuell mit Vehemenz vorgetragene Anspruch auf Inklusion in einem dialektischen Verhältnis zu gleichzeitig verlaufenden, insbesondere ökonomisch motivierten, gesamtgesellschaftlichen Exklusionstendenzen steht. Das grundlegende Motiv ökonomischer Belange etwa, Menschen entsprechend ihrer Verwertbarkeit unterscheiden zu können, wirke auch dann, wenn beispielweise im Rahmen der Neuen Lernkulturen Subjektivität Raum gegeben wird. Ziel sei aber nicht die Stärkung des Eigensinns der Lernsubjekte; vielmehr diene diese "Individualisierung" der effektiveren Durchsetzung des "Unternehmerischen Selbst" (Bröckling) zum Zwecke der Abschöpfung von Humankapital (vgl. Dammer 2013, 50ff). So wird der gesellschaftliche Inklusionsprozess einerseits im Rahmen dieser Dialektik befördert, aber nur um ihn anschließend gemäß der Ausschlussfigur wieder einzubinden. Exklusion werde demgemäß lediglich "modernisiert", um einem mit der Ausschlussdynamik "verbundenen Legitimationsverlust des Schulsystems als Ganzes" entgegenzuwirken (ebd., 26). Diese Tendenzen nicht wahrzunehmen käme einer "soziologische Abstinenz" gleich, die dem Inklusionsdiskurs einen "normativen Überschuss" verleihe, der meine, das "Partikulare der Schulgemeinschaft" unvermittelt in ein gesellschaftlich Allgemeines überführen zu können. Ökonomisch motivierte, in die schulischen Verhältnisse einfiltrierende Exklusionsdynamiken können aber demnach nicht durch den Bezug auf Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden.
Um Inklusion nicht ohne Exklusion zu denken, soll auf die von Jürgen Habermas (1995) umschriebene gesellschaftliche Analysefolie "System" und "Lebenswelt" Bezug genommen werden: In den Lebenswelten verankert und mit strategischen Anforderungen aus dem Systemen konfrontiert, sehen sich die Beteiligten am schulischen Prozess einem doppeltenund zugleich widersprüchlichen Erwartungshorizont ausgesetzt: Einerseits sollen sie Erwartungen zweckrational integrierter Handlungssystemen (z.B. Selektion, funktionale Qualifikation, Legitimationssicherung, Budgetierung) Folge leisten und andererseits Erwartungen aus verständigungskoordinierten Lebenswelten (Individuierung, soziale Integration, kulturelle Reproduktion) berücksichtigen - wobei Systeme und Le
benswelt(en) wiederum in einem Wirkungszusammenhang zueinander stehen. Systeme reduzieren lebensweltliche Komplexität; die Lebenswelten verschaffen den Systemen die notwendige Akzeptanz. Der Schule als öffentliche Institution wächst so mehr und mehr eine Scharnierfunktion zu: Schule soll sowohl bezogen auf die Ansprüche der Systeme (Geschäftsfähigkeit) als auch auf die der Lebenswelten (Lebensführung) hin qualifizieren und dabei Unterschiede ausgleichen, Kompetenzen entwickeln, Perspektiven eröffnen andererseits weitgehend über ein spezifisches Leistungsverständnis Unterschiede herstellen, evident machen und zertifizieren. Dieser Funktionswiderspruch führt zu einem strukturellen Zielkonflikt. Der Anspruch, eine inklusive Schule für alle vor Ort zu realisieren, macht diesen Widerspruch (erneut und in besonderer Form) zum Thema, weil mit ihm die Komplexität schulischer Verhältnisse steigt und die bisherige Steuerungsszenarien so nicht mehr greifen (siehe auch Pkt. 2.2.). Dennoch: Belange der Systeme bedingen nicht das Handeln der Beteiligten, sie fordern aber zu Stellungnahmen heraus (vgl. Habermas 1995, Bd. 2, 275; Rihm 2013, 186f).
Die aktuelle Variante der Bearbeitung des angesprochenen Zielkonflikts ist der Versuch, der zweckrationalen Seite einen Vorrang einzuräumen. "Als Kern dieser "neuen Steuerung" haben sich die Formulierung von Bildungsstandards und ihre testbasierte Überprüfung herauskristallisiert" (Fend 2011, 6). Gleichzeitgig wurden neue Formen der Regulierung des Schulwesens eingeführt: Größere Autonomieräume werden von verstärkter extern organisierter Evaluation gerahmt. Ein kontinuierliches Monitoring, Standards und Kompetenzerhebungen auf Schul- und Klassenebene und Vergleichs- und Diagnosearbeiten bilden die "Grammatik der Qualitätssicherung" (ebd., S. 8f). Ein entsprechendes Forschungsprogramm des BMBF rahmt diese Lösungsvariante. Zentrale Gesichtspunkte dieses Programms sind: Umfassende Steuerungsinnovationen, Umstrukturierung der Bildungsverwaltungen und Steuerungswirkungen im Hinblick auf Unterricht (ebd., S. 7f). Ziel ist die wirksame Steigerung der Lernleistungen im internationalen Vergleich. „Produktivität, Effektivität, Effizienz“ von Vermittlungsprozessen und deren Ergebnisse stehen im Mittelpunkt der Bemühungen. Messbarkeit und die dazu notwendigen Operationalisierungsszenarien erscheinen als unabdingbare Voraussetzungen für das Gelingen einer „kontrollierten Umsteuerung“ des Schulsystems (Timmermann 2012).
Die Systematik dieses Standardsicherungssystems legt gewissermaßen jeder institutionellen Ebene spezifische Ausformungen nahe. Sie zeichnet sich auf der unterrichtlichen Ebene durch ein Setting transparenter, operationalisierter Leistungserwartungen aus, vermittelt über ein Lernprozessmodell, das gewisse Freiheitsgrade in Aussicht stellt und über Rückkoppelungsschleifen auf die Erfüllung der vorab festgelegten Intentionen drängt (KMK 2010); auf der Ebene professionellen Handelns durch Erwartungen an die Lehrenden, die in Kompetenzrastern „Guter Lehre“ formuliert werden (KMK 2004/2014); auf der organisatorischen Ebene durch eine zielbezogene, die Lerngruppenprozesse flankierende Orientierungs- und Evaluationsstrategie, mit Hilfe derer Vergleichbarkeit sicher gestellt und Entwicklungsprozesse beobachtbar werden sollen; auf der institutionellen Ebene durch Szenarien des Bildungsmonitorings, durch das „die systematische und wissenschaftlich abgesicherte Feststellung von Ergebnissen des Bildungssystems verfolgt“ (KMK 2006) wird, um erwartete Kosten-Nutzen-Relationen im Rahmen des Qualitätsdiskurses feststellen zu können.
Inklusionsbestrebungen stehen dann strukturell verankerten Anordnungen gegenüber, die versuchen, beiden (sich widersprechenden) Erwartungen an Schule nach „Qualifizierung aller“ (= Inklusion) und „Unterscheidung aller“ (= Exklusion) zu entsprechen. Die vorherrschende institutionelle Lösungsvariante versucht die dabei auftretenden Widersprüche dadurch zu bearbeiten:
Im Rahmen dieses Modus „Vermittlung“ werden Lernende durchaus als eine zu berücksichtigende Größe einbezogen - tendenziell zum Zwecke der Optimierung spezifischer Qualitätsstandards. Ihre Mitwirkung an der Zielerreichung bleibt tendenziell auf Fragen der (methodischen) Durchführung beschränkt. Der Grad dieser Modernisierungsversuche wird dabei von der Frage bestimmt, inwieweit sie die Eckpunkte der Optimierungsstrategie (Standardisierung, Prozesssteuerung, Outputkontrolle etc.) unterlaufen werden oder nicht. Einer zu großen Ausweitung dieser "Freisetzungstendenzen" wird mit der Sicherung durch Vergleichsinstrumente (international: PISA, PIRLS/IGLU, TIMMS; national: etwa bundesweite Vergleichsarbeiten z. B. VERA3 durch das IQB) Grenzen gesetzt. Das bedeutet aber, dass diese Modernisierungsstrategie im Kern weiterhin auf institutionelle Dynamiken bezogen bleibt, die auf die „Monopolisierung, Schließung, Normierung des schulpädagogischen (Interaktions-)Raums“ abzielen und diesen absichern, indem sie […] „hierarchisch bzw. asymmetrisch als Machtbehälter organisiert und auf kopierende Herstellung von Gleichheit ausgerichtet sind“ (Böhme/Herrmann 2011, 162f). Es überrascht so gesehen nicht, wenn Schulen, „die sich entweder als Widerstands- und Emanzipationsraum oder als Verknüpfungs- und Netzwerkraum entwerfen“, eine „nichtsignifikante Gruppe“ darstellen (Böhme/Herrmann 2011, 162f).
Der Rechtsanspruch auf Inklusion trifft hier auf ein hermetisch anmutendes System zweckrationaler Herkunft. Diese Hermetik wird aber zunehmend zumindest von zwei Seiten her argumentativ in Frage gestellt: Es gibt Einsprüche sowohl aus Forschungssicht als auch aus Sicht der zu inkludierenden Kinder und Jugendlichen:
Beide Tendenzen legen eine Relativierung des Modus "Gesteuerte Vermittlung" nahe. Die Notwendigkeit der Modernisierung des Modus soll hier nicht in Abrede gestellt werden, da im Rückblick der Frage der Wirkung pädagogischen Handelns zu wenig Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Die evidenzbasierte Modernisierungsstrategie ist aber nicht hinreichend, weil sie, entsprechend ihrer zweckrationalen Ausrichtung, nur einen spezifischen Ausschnitt pädagogischer Wirklichkeit (nämlich den des Beobachtbaren bzw. Messbaren) in den Fokus nehmen kann und entsprechend das schulischen Feld strukturiert. Mit dieser Gewissheitsfixierung geraten aber bedeutsame pädagogische Fragestellungen aus dem Blick, die die Sinnkonstitution von Subjekten betreffen. Diese nicht oder nur schwer beobachtbaren bzw. messbaren Ausschnitte, die auf das systematisch Ungewisse, Unbestimmbare, Undurchschaubare des Pädagogischen abheben (Combe/Kolbe 2004), können (insbesondere aus forschungsmethodischen Gründen) nicht zum Thema werden. Insofern ist der Modus unterkomplex. Der Umstand, dass die erhobenen Daten den Gegenstand (hier: schulische Verhältnisse) nur unzureichend abbildet, ihnen also nur eine begrenzte Reichweite zukommt, bedeutet aber nicht, dass auf diese Daten gänzlich verzichtet werden sollte. Nicht die Erforschung bzw. Verwendung des Wissens an sich gilt es zurückzuweisen, sondern dessen "öffentliche Dauerinszenierung" (Proske 2014, 39), die zu einer alternativlos anmutenden, systematisch strukturierten "hypertechnokratischen Steuerung" (Bellmann/Müller 2011, 28) führt. Auch vom Subjektstandpunkt aus betrachtet machen diese Daten in gewisser Weise Sinn. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Daten eine andere Funktion erhalten: Die Daten können, ihrer Definitionsmacht entkleidet, als wichtige Orientierungsdaten fungieren, die den Lernsubjekten im Rahmen von kooperativen Verständigungsszenarien als wichtige Hinweise auf gesellschaftliche Erwartungshorizonte dienen, über die sie entsprechend verfügen und im Rahmen ihrer Entscheidungsprozesse zur Geltung kommen lassen können. Die Relativierung zielt also auf eine Funktionsverschiebung: Vom (auf Gewissheit ausgelegten) Steuerungselement zur (ungewissen Verwendung) als Handlungsoption.
Hier kann die subjektwissenschaftliche Analysefolie einen ergänzenden Blick eröffnen.
Die Rede vom Subjektstandpunkt meint zunächst nichts anderes als die Möglichkeit, dass Lernende sich ins Verhältnis zu den gesellschaftlichen (hier schulischen) Gegebenheiten setzen können. Die schulischen Angebots- bzw. Anforderungskonstellationen sind aus dieser Sicht keine Handlungsbedingungen, die das Handeln der Lernenden per se formieren könnten. Vielmehr müssen die Funktionsträgerinnen und -träger damit rechnen, dass Lernende begründet zu den schulischen Anforderungen (Lerngegenstände, Lernwege, Lernzugänge, Lernabschlüsse etc.) Stellung nehmen. Bezugspunkte für eine solche Verhältnisbestimmung sind die jeweiligen biografisch aufgeschichteten, aus einem sozialen Vermittlungsprozess hervorgegangenen Lebensinteressen, aus denen Handlungsintentionen abgeleitet werden können. Die Angebots- bzw. Handlungskonstellationen (hier: Lern- und Bildungsanforderungen) fungieren dann vom Subjektstandpunkt aus gesehen als Handlungsmöglichkeiten, die es mit den Lebensinteressen abzugleichen gilt (Holzkamp 1995, 24). Der Subjektstandpunkt (hier: der Lernenden) ist damit ein gesellschaftlich vermittelter, sozialer Standpunkt. Das schließt sowohl seine Gewordenheit wie seine Veränderbarkeit ein.
Im Rahmen dieser Verhältnisbestimmung kann es zu Widersprüchen kommen, die Verständigungsbedarfe der Lernsubjekte untereinander und letztlich mit sich selbst begründen. Diese Widersprüche werden als Diskrepanzen zwischen dem deutlich, was die Lernenden in Bezug auf die Entwicklung ihrer Weltbeziehungen als sinnvoll zu lernen erachten, und dem, was institutionell in Bezug auf Abschlüsse als zu bedienende Erwartungshorizonte ausgewiesen wird. Aus derartigen Diskrepanzerfahrungenheraus entsteht wiederum ein Bedarf, sich (zusammen mit anderen) über die Frage zu verständigen, wie "je ich" mein Leben (hier: in der Schule) aktuell führe bzw. wie ich es künftig führen will - einschließlich aller gewollten oder nicht gewollten Nebenfolgen für mich und andere. Im Rahmen dieser Verständigung über Fragen der Lebensführung (Holzkamp 1996, 67/98f) können "je situativ" gegebene Lern- und Bildungsmöglichkeiten (siehe "Orientierungsdaten" Pkt. 2.2) unmittelbar oder mittelbar durch die Lernenden selbst zum Thema gemacht werden: Lernende können sie in "expansiver" Weise aufgreifen, sie verwerfen oder ggf. auch andere als die vorbestimmten einfordern; sie können die Lern- und Bildungsmöglichkeiten aber auch versuchen, "defensiv" zu bewältigen, um das Risiko mit Lehrenden in Konflikt zu geraten zu minimieren, was wiederum die Frage nach der Nachhaltigkeit des Gelernten aufwirft (vgl. Holzkamp 1997, 198f).
Indem diese Verständigungsbedarfe aber – direkt oder indirekt – artikuliert werden, wird klar, dass Lernende Subjekte ihrer Bildungsprozesses sind, was heißt, dass sie sich begründet ins Verhältnis zu dessen Anforderungen und Möglichkeiten setzen können. Diese möglichen Stellungnahmen wiederum machen die Prozesse strukturell ungewiss bzw. unbestimmbar. An diesem Punkt stößt eine zweckrationale, evidenzbasierte Steuerung an ihre Grenzen und der begründungsbezogene, sinnbasierte Modus diskursiver Verständigung erhält seine Berechtigung. Jetzt können die Gründe für jedwede Stellungnahmen Lernender für Lehrende von Interesse werden. Über den dann beginnenden Begründungsdiskurses wirdder Sinnaspekt eingebunden und ein Verständigungsprozess mit Blick auf möglichen Handlungsperspektiven kann beginnen – mit offenem Ausgang. Dadurch erhöht sich die Reichweite institutionellen Handelns unter inklusiven Vorzeichen beträchtlich: Ungewissheiten müssen nicht weiter ausgespart werden, sondern können systematisch zum Gegenstand des Diskurses von Forschung und institutionellem Handeln werden.
Selbstverständigungsbedarfe sind demnach keine "Störungen" vorgesehener institutioneller Abläufe, wie sie aus evidenzbasierter Sicht interpretiert werden könnten. Sie sind vielmehr aus der Sicht der Lernsubjekte notwendige "Hinweise" auf die Dringlichkeit der Thematisierung eines widersprüchlich gewordenen schulischen Umfeldes – angesichts eines virulenten Interesses der Lernsubjekte, die eigenen Weltbeziehungen so zu entwickeln, dass die eigene Handlungsmächtigkeit erfahrbar zunimmt (vgl. Wulff/Rihm 2006, 101ff).
In Anschluss an Arnd Hofmeister (2006, 118) kann der Verständigungsmodus in seiner dialektischen Verschränkung mit dem Vermittlungsmodus als Modus der "Perspektiven-Bildung" bezeichnet werden, der den Aufbau von Weltbeziehungen bzw. Weltorientierung zum Ziel hat. Die Inklusion aller Kindern und Jugendlichen, auch der mit "special educational needs", führt zu einer Pluralisierung von (Lebensführungs-)Perspektiven auf der Basis der o.g. "Orientierungsdaten" aus den Vermittlungsprozessen. Die Bearbeitung der dadurch entstehende Komplexität der Prozesse in den Lerngruppen kann aber nicht mehr alleine einzelnen Akteuren zugerechnet werden: inklusiv angeordnete schulische Verhältnisse tendieren deshalb hin zu "Arbeitsbündnissen" (Oevermann 2006, 74ff), die auf wechselseitige Anerkennung (eben auch der Expertise der Lernenden bzgl. ihres Lern- bzw. Bildungsprozesses) und wirksame Teilhabemöglichkeiten im Rahmen dialogischer Austauschverhältnisse setzen (und damit die oben von Prengel/Heinzel genannten Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Solidarität einfordern). Perspektiven-Bildung braucht alle und ist eine Chance für alle am schulischen Prozess Beteiligten (Rihm 2014, 450f). Mit der Implementierung eines zweiten, klar konturierten auf "Diskursive Verständigung" ausgelegten Modus, kommt es zu einer Weitung des Blicks auf inklusive Schulentwicklung, mit Hilfe dessen auf wesentliche Leerstellen des ober erörterten Vermittlungsmodus verwiesen werden kann: didaktisch gesehen, auf die Frage nach dem Verhältnis von Lebensführung und schulischen Lern- bzw. Bildungsanforderungen, und der Spezifik des pädagogischen Bezugs, der eine solche Verhältnisbestimmung zur Geltung kommen lässt; organisatorisch betrachtet auf die Frage, welcher Rahmungen solche Verständigungsprozesse bedürfen, damit die Lernsubjekte zu Antworten bzgl. ihrer existentiellen Fragestellungen kommen können; institutionell gesehen, auf die Frage nach Flexibilisierungen hinsichtlich Curricula, Leistungsverständnis, Schulzeit und sonderpädagogischer Expertise.
Eine Didaktik vom Subjektstandpunkt versteht sich als ein handlungstheoretischer Ansatz, der die Lernproblematiken der Lernenden sowie ihre damit verbundenen Interessen und Begründungen zum Ausgangspunkt nimmt (Initiativen), um daran anknüpfende didaktische Leistungen der Lehrenden in Form von Verstehens- und Beratungsprozessen (Resonanzen) zu begründen (Ludwig/Rihm 2013, 86). Hierbei können die im Rahmen des Vermittlungsmodus thematisierten Orientierungsdaten durchaus eine Rolle spielen, müssen dies aber nicht. Die darauf bezogenen Lehrhandlungen stehen unter Vorbehalt der Akzeptanz durch die Lernenden. Lehrende sind dabei nicht selbst die Vermittler einer neuen Gegenstandsbedeutung; vielmehr unterstützen sie die Lernenden in ihren Vermittlungs- und Differenzierungsprozessen. Die Lernenden vermitteln selbst im Rahmen der Umsetzung der Lernhandlung (Realisierungen) zwischen den ihnen verfügbaren differenten Bedeutungen. Lehrende können sich diesen Vergleichsprozessen verstehend annähern und stellvertretende Interpretationsangebote anbieten. (ebd., S. 87). Dieses Vermittlungsverständnis wird vor allem dort relevant, wo Menschen im Rahmen ihrer Lebensführung auf für sie bedeutsame Handlungsproblematiken stoßen, die sie nicht selbst überwinden können, aber wollen. In diesen krisenhaften Situationen können sie initiativ werden. Dies mit dem Ziel, sich über einen, aus Verstehens- bzw. Beratungsprozessen hervorgegangenen, Außenstandpunkt zu vergewissern (ebd., S. 88).
Im Wirkungszusammenhang von Initiativen-Resonanzen-Realisierungen wird das Lernvorhaben sukzessive auf der Basis von Vorgewusstem bzw. Vorgelerntem und entsprechenden Beratungsangeboten entwickelt. Die „Lernproblematik“ wird zunächst genauer bestimmt und darüber der "Lerngegenstand" differenzierter entfaltet. „Wissensuchende Fragen“ spielen hierbei eine bedeutsame Rolle; sie sind "der eigentliche Fragemodus des Lernens" (Holzkamp). Die Lernenden „eröffnen“ mit Hilfe der dabei zum Tragen kommenden Fragen, Anmerkungen, Hinweise etc. den Beteiligten (Lehrende; ggf. auch Mitlernende) Einblicke bezogen auf die sie leitenden Sinnaspekte bzw. die ihnen schon verfügbaren (aber zur Bewältigung der Handlungsproblematik noch nicht ausreichenden) Wissensstrukturen inhaltlicher wie methodischer Art. Die Äußerungen fungieren als Bezugspunkte, auf die sich weitere Lehrberatungen gründen. Erst wenn diese Präkonzepte von den Lehrenden im Medium von Anerkennung, Gegenprüfung und Kritik verstanden wurden, können im Sinne eines Beratungshandelns Wissensbestände bzw. Lehrarrangements als Gegenhorizonte von den Lehrenden in den Vermittlungsprozess eingeführt werden, die geeignet erscheinen, die Handlungsproblematiken der Lernenden zu überwinden. Über diese Gegenhorizonte können die Lernenden im Rahmen der Realisierung verfügen. Lernen und Lehren (im Sinne unterstützender Beratung) wird so als ein zirkulärer und optionaler Suchprozess unter der Federführung der Lernenden deutlich, der immer wieder neue Wendungen nimmt, und über „qualitative Lernsprünge“ das diskrepante Ausgangsproblem auf den Begriff zu bringen versucht (Ludwig/Rihm 2013, 89.).
Eine verfügungsoffene Rahmung schulischer Lernverhältnisse übersteigt die vom Vermittlungsmodus vorgesehenen Handlungsräume. Vom Subjektstandpunkt aus betrachtet geht es hierbei nicht nur um Beteiligung im Sinne einer Einbezogenheit nach Maßgabe der Lehrpersonen. Vielmehr geht es darum, Lernumgebungen so zu organisieren, abzusichern bzw. zu "standardisieren", dass es Lernenden möglich wird, sich ins Verhältnis zu den institutionellen Anforderungen setzen zu können, um sich über deren Bedeutung bezogen auf ihre Lebensführung hin verständigen zu können. Es geht also nicht nur um rezeptive Teilnahme, die Nachvollzug meint und weitergehende Ansprüche auf Mitwirkung von zu erfüllenden Vorbedingungen abhängig macht, sondern um Teilhabe, die es zulässt, ja gerade dazu einlädt, sich im Tun diesbezüglich zu qualifizieren. Wirksame Teilhabe steht hier für die selbstbestimmte Einflussnahme der Beteiligten (Lernende und Lehrende) auf Lerninhalte, auf Lernprozesse, auf organisatorische Abläufe, auf institutionelle Zielsetzungen etc., um im Rahmen dieser Beteiligungsräume Anschlussmöglichkeiten bzgl. ihrer Lebens- bzw. Berufsinteressen bzw. Lebens- bzw. Berufsperspektiven herstellen zu können (vgl. Bliss/Althoff 2006, 156ff/Rihm 2014, 13ff).
Ein solches Verständigungsszenario setzt eine institutionelle Rahmung voraus, die die im Vermittlungsmodus gewährte Selbststeuerung (unterhalb der Zielvorgaben) einer Weitung hin zu einer Verfügungsoffenheit aufweist. Eine entsprechende Lernumgebung fungiert dann als Möglichkeitsraum für Initiativen der Lernenden. Diesbezüglich sind zumindest vier Parameter von Bedeutung (vgl. Rihm 2015b; Rihm/Häcker 2007, 207):
Die Lebenswelt lässt sich als ein raum-zeitliches Bezugssystem bestimmen. Die Frage, wann ich welche Räume aufsuche, wie lange ich darin verweile, um sie dann wieder zu verlassen, provoziert begründete Entscheidungen von mir, durch die ich je meiner Entwicklung von Weltbeziehungen eine spezifische Richtung gebe bzw. durch die ich meinen Interessen Ausdruck verleihe.
Das Motiv, d.h. der Beweg-Grund, für meine Entscheidung, mich auf einen speziellen Lernweg zu begeben, liegt in der "Passung" von Lerninteressen und Lerngegenständen. Diese sind in ihrer verallgemeinerten Form Bedeutungen im Sinne von Handlungsmöglichkeiten, die mich den Verfügungsgrad über die Lebenswelt erweitern lassen. Sie sind "Bedeutungen für einen möglichen Sinn" (Wulff/Rihm 2006, 96).
Um die Lernmöglichkeiten möglichst umfassend bestimmen und realisieren zu können, bedarf es einer Austausch- und Unterstützungskultur. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass je meine Lernvorhaben hinsichtlich der erfassten inhaltlichen Aspekte, des projektierten Lernwegs, der Lernergebnisse und der notwendigen Lernbedingungen auf 'blinde Flecken' hin einer kooperativen Verständigung unterzogen werden können.
Die von je mir entworfenen Lernvorhaben sind immer auch eingebunden in jene sozialen Kontexte, aus denen die Lernproblematiken entstammen. Meine Lernaktivitäten, die auf die Überwindung von Diskrepanzerfahrungen zielen, wirken unweigerlich mehr oder weniger auf den Kontext ein. Der Grad meiner Einflussmöglichkeiten wird dann zu einer wesentlichen Variable, wenn es darum geht, die eigene Handlungsmächtigkeit zu erfahren.
So konturierte "Zeit-Raum-Ressourcen", sind dann strukturierte Umgebungen, auf die Lernende selbstbestimmt zugreifen können, um die in ihrer Lebenswelt verankerten Problemlagen initiativ - in Kooperation mit den Mitlernenden und Lehrenden - bearbeiten zu können (Rihm 2015b; Ludwig 2012, 27). Solche deliberative Organisationsformen bieten den Beteiligten sowohl Orientierungsdaten an als auch Artikulationsräume, um diese Daten einem kooperativen Selbstverständigungsprozess unterziehen zu können (Sliwka 2008/2014). Im Rahmen dieser können etwa Standards des Vermittlungsmodus (= Orientierungsdaten) in den Zusammenhang von Lebensperspektiven gestellt und darüber die Bildung von Standpunkten unterstützt werden. Der Modus "Diskursive Verständigung" ist dann aber geradezu durchzogen von Momenten der Ungewissheit, was den Beginn, den Verlauf und den Ausgang von Verständigungsprozessen betrifft: Prozesse der Klärung, zumindest aber des Verstehens von wahrgenommenen Widersprüchen, des Abgleichs unterschiedlicher Ansprüche der Beteiligten, der Entscheidung auf der Grundlage von Begründungsdiskursen etc. sind prinzipiell ergebnisoffen und insofern nicht berechenbar.
Eine derartige deliberative Konturierung eines 2. Modus schulischer Bildung wirft Fragen auf, die eine grundlegende Neubestimmung, zumindest jedoch eine andere Umsteuerung vorsieht, als die von Seiten der "evidenzbasierten" Schulentwicklung nahegelegte. Schulische Institutionen werden dann zunehmend selbstreflexiv (vgl. Gimmler 1998, 229). Über die Wahrnehmung des Subjektstandpunkts (hier: Voraussetzungen, Bedürfnissen und Perspektiven der Lernenden) können weitergehende Flexibilisierungen bzgl. Verständnis, Rahmung und Verläufe zum Thema werden. Diese sollen hier zumindest ansatzweise angesprochen werden:
Forschungsbewährte Kompetenzinventare und Themenkataloge, die im Sinne eines Basiswissens als notwendige Voraussetzung für eine möglichst selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fungieren (hier relativiert als Orientierungsdaten - s. o.), können im Rahmen von Selbstverständigungsprozessen als wichtige Orientierungsgrundlage dienen. In ihrer Dialektik von "Erwartungssicherheiten" und "Entscheidungsfreiheiten" reichern sie Perspektiv-Bildungsprozesse der Lernenden an bzw. geben diesen Richtung (vgl. Schimank 2005, 431ff). Solche als "Kern"-Curricula zu konzipierenden Inventare sind im Rahmen des Verständigungsmodus ebenso verfügungsoffen zu konzipieren wie die Lernumgebungen selbst. Sie dienen dann den Lernsubjekten dazu, den Blick auf den diskrepanten Weltausschnitt, den sie ausgegliedert haben, zu weiten und stehen ihnen als "Unterstützungsystem" für Fragen der Selbstverständigung zur Verfügung.
Wenn "Leistung" mehr ist als ein extern verabredeter Gütemaßstab, der auf den offiziellen Zwecksetzungen des Schulsystems aufliegt, muss sie neben dieser universellen auch eine den Subjektstandpunkt berücksichtigende Bezugsnorm umfassen, die nicht auf den Vergleich mit einer Durchschnittsnorm setzt. Diese zweite, sinnunterlegte Bezugsnorm bezieht sich auf Handlungsdiskrepanzen, die von den Lernsubjekten als Lernproblematik aktiv ausgegliedert und übernommen werden. Diese Diskrepanzen aufzuschlüsseln, sie ggf. aufzulösen oder zumindest deren Dynamik zu verstehen ist ebenso eine schulische "Leistung", die Anerkennung würdig ist. Um verstehen zu können, dass im Zuge der Inklusion der Leistungsbegriff nicht abgeschafft wird, sondern vielmehr umfassender zur Geltung kommen kann, bedarf es eines "mehrperspektivischer Leistungsbegriffs" (Prengel 2015, 38).
Die Anerkennung von Eigenzeiten der Lernenden verweist darauf, dass individuelle Lern- bzw. Bildungszeiten keineswegs lineare, von außen festzulegende, verwertbare Größen sind. Vertikale wie horizontale Flexibilisierungen von Schulzeit können hier die Möglichkeit der Lernenden verbessern, externe Erwartungen und subjektive Zeitverläufe besser in Passung zu bringen: etwa durch die Entkoppelung von Schulzeitphasen, in denen die beiden Modi unterschiedlich gewichtet sind, durch die Verlängerung oder Verkürzung der Schulbesuchsdauer, durch die Möglichkeit des zeitweisen Ausstiegs und Wiedereinstiegs etc. Derartige Öffnungsklauseln gilt es entsprechend strukturell zu verankern und abzusichern, um sie für die Beteiligten verfügbar zu halten (Rihm 2006, 421/2010, 89).
Um Etikettierungen im Rahmen der aktuell notwendigen Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs zu minimieren, bedarf es einer zunehmenden Entkoppelung sonderpädagogischer Expertise von dem Gedanken separat existierender Sonderschulen: "Der Förderort "allgemeine Schule" erhält unter inklusivem Aspekt absolute Priorität" (Heimlich 2012, 22). Die Umwandlung von Sonderschulen in Beratungs- und Unterstützungszentren an allgemeinbildenden Schulen ist folglich die gebotene Folge fortschreitender Inklusion (vgl. Speck 2012, 509). Die zunehmende Aufhebung von Parallelstrukturen institutionalisierter Allgemein- und Sonderpädagogik ist, ohne dass sonderpädagogische Expertise dabei einem Spardiktat zum Opfer fällt, aus systematischen Gründen geboten; die Aufrechterhaltung differenzierter sonderpädagogischer Forschung ist dagegen unerlässlich.
Indem Inklusion, wie sie hier verstanden wird, solche Flexibilisierungen auf den Plan ruft, birgt sie die historische Chance in sich, die bisherige halbierte Modernisierung (hier: des "evidenzbasierten" Schulsystems) in Richtung einer umfassenden Modernisierung zu überwinden, die egozentrische Individualisierungsvorstellungen zugunsten einer Vorstellung von Individuierung als Folge umfassender intersubjektiver Bildungsprozesse meint. "In den institutionellen Arrangements sedieren sich solche Koordinationen" (Gimmler 1998, 229) und bilden eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für inklusive Schulentwicklung - nicht hinreichend, weil es auch auf die beteiligten Subjekte ankommt, inwieweit sich der deliberativen bzw. der flexibleren Arrangements bedienen.
Mit der Forderung nach Einbezug aller Schülerinnen und Schüler (im Horizont der Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Solidarität) in eine Schule vor Ort, wie sie im Rahmen einer umfassenden schulischer Inklusion vorgesehen ist, werden den Umsteuerungsversuchen im Rahmen des Modus "Gesteuerte Vermittlung" Grenzen gesetzt: Junge Menschen, die aufgrund ihrer "special educationel needs" sog. "Normalbiographien" wenig oder nicht entsprechen können oder wollen, erhöhen die Komplexität schulischer Verhältnisse immens, da sie "quer" zu der an zweckrationalen Gesichtspunkten ausgerichteten Qualitätsvorstellungen liegen. Mit dem Vermittlungsmodus können diese lebensweltbezogenen Verständigungsbedürfnisse (Individuierung, soziale Integration, kulturelle Reproduktion etc.) nicht adäquat bearbeitet werden. Schule muss deshalb, will sie sich stärker auch Ansprüchen öffnen, die über die Inklusionsfrage institutionell Eingang finden, den Vermittlungsmodus (gesteuerter Aufbau von Wissens- und Könnensinventaren) relativieren und durch einen Modus ergänzen, der Zeit-Räume für Fragestellungen der Lebensführung eröffnet und absichert und diesbezüglich ein adäquates Handlungskoordinierungssystems bereit stellt.
Die weiterführende Frage wird nun sein, wie die beiden Modi ins Verhältnis zueinander zu setzen sind. Ich habe, unter Rückgriff auf eine zusätzliche bildungstheoretische Analysefolie (Peter Bieri), eine organisatorische Konturierung und Absicherung zweier institutionell abgesicherter gewissermaßen "standardisierter" Bildungs-Zeit-Räume vorgeschlagen, die klar die unterschiedlichen Qualitäten der beiden Modi ausweist: Zeit-Räume der "Ausbildung", die im Modus "Gesteuerte Vermittlung" (Geschäftsfähigkeit) laufen, und Zeit-Räume der "Perspektiven-Bildung", die im Modus "Diskursive Verständigung" (Lebensführung) strukturiert sind (Rihm 2014, 450f). Beide Modi bleiben dialektisch miteinander verschränkt. Andere Verhältnisbestimmungen sind sicherlich denkbar. Entscheidend ist jedoch, dass Ansprüche aus den Systemen und lebensweltliche Ansprüche "als solche sichtbar bleiben. Überintegration […] führt zur Kolonialisierung und Technisierung der Lebenswelt" (Gimmler 1998, 198) und damit der lebensweltlichen Belange der Lernsubjekte in der Schule. Unter dieser Prämisse ließe sich eine Veränderung von Schule in inklusivem Sinne voranbringen, deren Ziel es ist, die höhere Komplexität zu bearbeiten, welche ein ernstgemeinter, politisch gestützter Einbezug aller in eine Schule vor Ort mit sich brächte.
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