Abstract: In diesem Beitrag wird mit Blick auf die Perspektive der Educational Governance (Forschung) ein Instrument (NiK) vorgestellt, das es erlaubt, die Komplexität und Einflussfaktoren von Entwicklungen zur Inklusivität des Bildungssystems (im zeitlichen Verlauf) im Rahmen von Forschungsvorhaben zu erheben. Daran anschließend werden Überlegungen zu unterschiedlichen Auswertungsmethoden und deren Erträge angestellt. Der Beitrag versteht sich u.a. als ein Diskussionsbeitrag für Möglichkeiten einer (re-)konstruktiven Inklusionsforschung. Am Ende wird die Frage aufgeworfen, inwieweit NiK auch indirekt als ein Medium der Steuerung nutzbar gemacht werden kann.
Stichwörter: Inklusion – Schule – Bildungssystem – Inklusionsforschung – Netzwerke – (Soziale) Netzwerkanalyse – Educational Governance – Mehrebenenkonstellation – Forschungsmethode
Inhaltsverzeichnis
Sicherlich ist es ein anspruchsvolles Unterfangen, die Prozesse nachzeichnen zu wollen, die sich unter dem Begriff „Inklusion“ vollziehen. Zum einen wird dies erschwert, da die Entität „Inklusion“ alles andere als gut fassbar ist und unterschiedliche Konnotationen existieren, die sich zwischen z. B. erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Argumentationen (vgl. Stichweh 2013, vgl. Cramer & Harant 2014) und einer lediglich begrifflichen Umwidmung des Integrationsbegriffs bewegen. Dies führt in Teilen des Diskurses möglicherweise auch dazu, sich von „Inklusion“ als Leitmetapher eher wieder abzuwenden. Zum anderen kann, was den Stand der Umsetzung angeht, von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gesprochen werden (vgl. Dlugosch 2013a, 22). Auch die unterschiedlichen, zum Teil separat geführten Diskursstränge über Heterogenität und Differenzkonstruktionen (vgl. Budde 2013), flankiert und forciert durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations 2006), begünstigen eine komplexe Gemengelage, derer habhaft zu werden eine besondere Herausforderung für Theorie, Forschung und Praxen darstellt. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, z.B. im Sinne einer „Reflexiven Inklusion“ (Budde & Hummrich 2013), verhelfen dazu, genauere Standortbestimmungen vornehmen zu können. Legt man die Beschreibung von Susan Geideck und Wolf-Andreas Liebert (2003) an, so kann von Inklusion auch als „Sinnformel“ gesprochen werden. Sinnformeln wirken nach ihrer beider Ansicht dann, „wenn sie bei den Akteuren eine ästhetische Resonanz erfahren. Dazu ist es notwendig, dass sie emotional ansprechend sind … Sinnformeln sind meist verbalsprachlich, sie können Metaphern, aber auch andere Sprachformen sein, z.B. Schlüsselwörter, Maximen, Slogans“ (ebd., 5).
Was sich unter der Sinnformel „Inklusion“ vollzieht, ist die unserem Vorhaben zugrunde liegende Erkenntnisfrage. Es handelt sich dabei nicht um eine (formative oder summative) Evaluation, bei der geschaut wird, inwieweit, z.B. für eine Schule auf dem Weg der Inklusion, benannte Indikatoren mit mehr oder minder hoher Qualität in die Tat umgesetzt werden, sondern um die Rekonstruktion der Prozesse, die auf das Einlösen von Inklusion (welcher Lesart auch immer) in unterschiedlichen lokalen oder regionalen Einheiten (wie) Einfluss nehmen. Die Frage der Einflussnahme ist dabei bewusst neutral gehalten und lässt sowohl fördernde als auch hemmende Faktoren in die jeweilige Systemlandschaft einfließen. Die genannten Faktoren können sich gegenseitig nicht, unmittelbar, aber auch mittelbar bedingen. Die so entstehenden Bedingungsgefüge im Kontext der Inklusion – oder, wie wir es formulieren, die inklusiven Konstellationen, können auf unterschiedliche Art und Weise erhoben werden, z.B. durch Expert_innenbefragungen und deren Einschätzung (vgl. Dlugosch 2013a, Dlugosch 2013b, Dlugosch & Langner 2014).
Abb. 1 Einflussmatrix (selbst erhobene Daten)
Auf die Frage „Was nimmt Einfluss auf die Umsetzung von Inklusion?“ entstehen Einflussmatrizen, die sich auch als mind-maps oder Netzwerke visualisieren lassen. Sichtbar wird dadurch, dass es sich bei dem Phänomen „Inklusion“ um eine Mehrebenenkonstellation (Dlugosch 2013a, vgl. Emmerich 2010) handelt. Der Begriff der Mehrebenenkonstellation stellt in Rechnung, dass es „typische Konstellationen von Akteuren gibt, typische ‚Schichten‘ auf denen eigene Handlungslogiken herrschen“ (Emmerich 2010, 360). Der Begriff der Mehrebenenkonstellation in unserer Lesart synthetisiert zwei bestehende Konzepte, man könnte auch sagen metaphorische Konzepte, miteinander: das Mehrebenensystem und Akteurskonstellationen: „Mit dem Begriff Mehrebenensystem wird hervorgehoben, dass Akteurskonstellationen mitunter durch interne Differenzierungen bestimmt sind, die abgrenzbare ‚Räume‘ konstituieren, die für sich einen jeweils eigenständigen Erfahrungsraum darstellen. Akteure haben demnach nicht nur rollenspezifisch verschiedene Sichtweisen und Interessen. Sie bewegen sich darüber hinaus auch in divergenten Handlungskontexten, mit unterschiedlichen situativen und normativen Bezugspunkten, die die Kommunikation und Koordination grundlegend erschweren“ (Rürup 2011). Die Kategorie des „Mehrebenensystems“ ist dem Kontext der (Educational) Governance-Perspektive(n) zuzuordnen (vgl. Dietrich & Heinrich 2014, 29f). Hierbei werden, üblicherweise in Rekurs auf Arthur Benz (2004), zwei Logiken miteinander verbunden: eine Logik der Zuständigkeiten auf unterschiedlichen (hierarchisch angeordneten) Ebenen (z.B. des formal strukturierten Bildungssystems) mit der Logik der Aufgabenbewältigung, die sich auf, unter, aber insbesondere auch zwischen den Ebenen ereignet. Hierarchische Modellvorstellungen (Ebenenmodell) werden hierbei durch Vorstellungen nichtlinearer Dynamiken komplexer Systeme, d.h. komplexer Wechselwirkungsgefüge, konterkariert, da sich weder die Grenzen der Ebenen noch die Abstimmungsmodi zwischen den Ebenen eindeutig konturieren lassen (vgl. Dietrich & Heinrich 2014, 30). Mit dem Begriff des Mehrebenensystems und weiterer Analysekategorien wird so versucht, die Komplexität der Einflussnahmen und Beteiligungen unterschiedlicher Akteure und Handlungsbereiche zu erfassen. Es geht demnach neben der formalen Strukturierung um Formen grenzüberschreitender Koordination von Handlungen, d.h. um Interdependenzmanagement. „Da sich die zu bearbeitenden Aufgaben und Probleme nicht an Grenzen der Zuständigkeit halten, werden sie beinahe systematisch überschritten“ (Kussau & Brüsemeister 2007, 32). Auf der Handlungsebene treten daher Akteure miteinander in Verbindung (Akteurskonstellation). Dietrich und Heinrich (2014) verdeutlichen dies am Beispiel der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden kurz: BRK), wodurch die Vereinten Nationen zunächst als „bildungspolitisch relevanter Akteur“ (ebd., 31) in Erscheinung treten. Sichtbar wird in der Betrachtung der nachfolgenden Ereignisse allerdings auch, dass und „warum eine hierarchische an formalen Zuständigkeiten orientierte Fassung eines Mehrebenensystems allenfalls den Ausgangspunkt einer governanceanalytischen Untersuchung darstellen kann“ (ebd., 31; Hervorh. A.D.). Systemtheoretisch informiert müssen die nachfolgenden Prozesse zwangsläufig als zirkuläre Prozesse aufgefasst werden, weshalb hier auch nicht mehr der einzelne Akteur, sondern die Konstellation der Akteure betrachtet wird, welche entlang der angenommenen Codes der funktionalen gesellschaftlichen Subsysteme spezifischen Handlungslogiken ausprägt (vgl. Kussau & Brüsemeister 2007, 33). Intendierte Veränderungen in bestehenden Systemen stellen demnach diese Dynamiken in Rechnung. Hieraus resultiert in der (Educational) Governance eine „forschungsprogrammatische Zentralstellung der Relationalität“ (Dietrich & Heinrich 2014, 32). Für die Frage der „Umsetzung“ eines supranationalen Abkommens, wie das der BRK, sowie nachfolgender Steuerungsansinnen, wird im Rahmen der Educational Governance Perspektive davon ausgegangen, „dass sowohl bezogen auf die Genese des politischen Beschlusses als auch hinsichtlich dessen Umsetzung bzw. Ausgestaltung oder Konkretisierung im Sinne entsprechender ‚Rekontextualisierungen‘ verschiedene Akteure über alle Ebenen hinweg – wie vermittelt und intendiert auch immer – an der Ko-Konstruktion der Reformmaßnahmen rekursiv beteiligt sind“ (ebd., 32).
In der Abkehr von unterkomplexen Vorstellungen von Steuerung und der Beachtung von nicht-hierarchischen Koordinationsmechanismen (vgl. Grande 2012, 567) liefert die (Educational) Governance (Forschung) somit einen probaten Bezugsrahmen: An die Stelle von richtungs(zu)weisenden Metaphern der (politischen) „Steuerung“, die unilineare Verbindungen suggerieren oder „Entwicklungen durch unilaterale Maßnahmen verursacht …sehen“ (Altrichter, Brüsemeister, Heinrich 2005, 7), treten daher Fragen der Handlungskoordination, „der Art und Funktionalität des Zusammenwirkens verschiedener Einzelbeiträge zur Koordination und Entwicklung des Gesamtsystems“ (ebd., 7). Dieses Konzept legt den Schwerpunkt darauf, „wie Akteure an verschiedenen Stellen eines komplexen Systems intentional und transintentional an der Regulierung der Leistungserbringung dieses Systems mitwirken“ (Altrichter & Heinrich 2007, 72). Die Governance-Perspektive sensibilisiert zusammenfassend für Dynamiken in sozialen Systemen unter Berücksichtigung von Änderungsabsichten und Zielperspektiven von Entscheidern bzw. Akteuren eingedenk einerseits der Effekte, die eintreten, aber minder beachtet werden, und andererseits der Wirkungen, die als gescheitert eingeschätzt werden, da sie nicht die ursprüngliche Intention einlösen. Uwe Schimank unterscheidet dementsprechend auch zwei Arten von Transintentionalitäten (vgl. Schimank 2003, 246f.). „Beide Arten von Transintentionalität haben gemeinsam, dass handelndes Zusammenwirken mehrerer Akteure Struktureffekte hervorbringt, die jenseits der Intentionen der Beteiligten liegen. Aber dieses Jenseits meint sehr Verschiedenes – in Alltagsredewendungen ausgedrückt: ‚Daran habe ich überhaupt nicht gedacht‘ und: ‚So habe ich mir das nicht vorgestellt‘“ (ebd., 247). Kooperation und Koordination „sind Schlüsselbegriffe der Governance-Forschung. Sie stehen im Mittelpunkt der normativ-präskriptiven Governance-Konzepte; und das Ziel der empirisch-analytischen Ansätze in der Governance-Forschung besteht im Kern darin, die Bedingungen für kooperative Problemlösungen und die Koordination von gesellschaftlichen Aktivitäten zur Produktion öffentlicher Güter zu identifizieren und zu reflektieren“ (Grande 2012, 567). Die (Educational) Governance stellt für Muster der Handlungskoordination unterschiedliche Analyseinheiten bereit: die Governance-Mechanismen Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung (vgl. Lange & Schimank 2004, 19ff. zit. n. Kussau & Brüsemeister 2007, 37ff.) und für komplexere Formen der Handlungskoordination auf der institutionellen Ebene: Hierarchie, Markt, Gemeinschaft und Netzwerke. Hierarchie betont die herrschende Rangordnung und eine Entscheidungsspitze, die von wenigen oder einzelnen eingenommen wird. Markt ist durch einen eher freien und gleichberechtigten Zugang, einen Nutzenvorteil und eine anonyme Art der Koordination gekennzeichnet. Gemeinschaft steht für eine affektive und bindungsbetonte (identifikatorische) Koordination (ebd., 41). Netzwerke zeichnen sich mit der Governance-Lesart durch auf Freiwilligkeit basierende Einigungsprozesse aus (ebd., 41). Es ist davon auszugehen, dass die hier beschriebenen Analyseeinheiten weniger in Reinform denn in unterschiedlichen Mixturen vorkommen. „Die Steuerungstheorie vermag gut zwischen unterschiedlichen institutionellen Steuerungsformen zu differenzieren. Es stellt sich jedoch auch die Frage nach der Kombinatorik verschiedener Steuerungsformen“ (Scheidegger 2012, 48).
Inzwischen mehren sich die Beiträge, die Inklusion mit der Governance-Perspektive betrachten. So beobachten beispielsweise Altrichter und Feyerer (2011) unter Bezugnahme auf Anthony Giddens (unter Berücksichtigung von Regeln und Normen einerseits und materiellen bzw. immateriellen Ressourcen andererseits) insbesondere die Übergänge unterschiedlicher Ebenen. Im Zentrum ihrer Ausführungen stehen die Selbstbindung an der Schnittstelle von supranationaler und nationalstaatlicher Ebene, die Parallelität von Bewusstseinsbildung und Ressourcenentwicklung auf nationaler Ebene sowie eine kohärente Abstimmung (Alignment von Strukturen), um (erwartbare) Dissonanzen zu minimieren. Dies kann durch das Einbeziehen relevanter Kontexte (Systeme) versucht werden. Vor diesem Hintergrund stellt ihr Beitrag für die Entwicklungen in Österreich eine strukturell begünstigte Zwei- oder Doppelgleisigkeit heraus. In der Verhinderung von Beliebigkeit und in einer dezidierten Selbstbindung der Regierung in der Folge einer „eindeutige(n) und klar kommunizierte(n) nationale(n) Strategie“ (ebd.) sehen die Autoren eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Einlösung der BRK. Andreas Hinz und Robert Kruschel (2012) nutzen die Educational Governance als „‘Diagnose-Instrument‘“ (ebd.) zur Untersuchung eines landesweiten Unterstützungssystems für inklusive Schulentwicklung in Schleswig-Holstein (Inklusion in Praxis/„InPrax“), wobei ihr Beitrag nach einer allgemeinen Einführung zum Begriffsinstrumentarium zur Educational Governance bzgl. der Ergebnisse eher skizzenhaft verbleibt und die Autoren diesbzgl. auf Folgepublikationen verweisen. Matthias Rurüp (2011) fächert auf der Beschreibung des bundesdeutschen Bildungssystems und seinen inhärenten Elementen (z.B. das gymnasiale System als quasi unantastbare Säule) den Problemhintergrund für das Vorhaben „Inklusion“ auf und sieht in der Educational Governance-Perspektive Chancen für eine genauere und systematische Erfassung der Komplexität. Seine Analyse lässt sich mit dem Begriff der „Besitzstandswahrung“ im Sinne der Sicherung des Status Quo für unterschiedliche Sektoren verdichten: Besitzstandswahrung von Ressourcen und Personal der Förderschulen (insbesondere das nicht-öffentliche Segment), für bestimmte Elterngruppierungen – auch hier im Sinne der Beibehaltung des Status Quo – oder auch eine Bestandssicherung der sonderpädagogische Diagnostik und damit verbundener Regelungen. Für Rurüp ist mit dem Ansatz der Educational Governance eine „heuristische Ergiebigkeit“ (ebd.) verbunden. Gleichwohl verweist er auch auf Begrenzungen, z.B. „eine prinzipiell Formalisierung lebensweltlicher Alltagserfahrungen und psychologisch-emotionaler Komplexität der einzelnen Personen mit einem Interesse des Aufdeckens von Regelmäßigkeiten und Mechanismen“ (ebd.). Auch besteht ggf. die Gefahr, Vorstellungen von optimalen Steuerungsbewegungen in die Beobachtungsperspektive, im Sinne einer „Good Governance“ (vgl. Dietrich & Heinrich, 2014, 34), einzuspeisen. Distanzierung, die Einbeziehung auch nicht-rollenförmiger und nicht-intentionaler Einflüsse sowie die Möglichkeit des Auffindens von Neuem aus erhobenem Datenmaterial (im Vergleich zu einem subsumtionslogischen Vorgehen bestehender Kategorien) sind Fabian Dietrich und Martin Heinrich zustimmend über „eine(r) dezidiert rekonstruktive(n) Reformulierung der Educational Governance“ (ebd., 34) zu erreichen.
Um die Komplexität, die Beteiligungen (z.B. Objekte, nichtmenschliche Entitäten, Menschen, Diskurse, Organisationen, vgl. Clarke 2012, 17) und die gegenseitigen Einflussnahmen auf und zwischen unterschiedlichen Ebenen sowie in unterschiedlichen Handlungsfeldern aus der Sicht von (unterschiedlichen) Akteuren erheben zu können, nutzen wir für die Befragung von (Schlüssel-)Personen im Kontext der Inklusion ein Instrument, das zunächst aus einem leeren, daher neutralen (aber feinlinig skalierten) Spielbrett (DIN A2) besteht. Nach einem gesetzten verbalen Impuls des (erzählgenerierenden) Interviewers werden von der befragten Person Entwicklungen und Einflüsse mithilfe von eher abstrakt gehaltenen Figuren (sowie ggf. durch abstraktere Spielsteine) gestellt, über die frei verfügt werden kann. Das Entstehen der jeweiligen Konstellationen wird zugleich verbal beschrieben sowie kommentiert. Der gesamte Prozess wird videographiert.
Abb. 2: Erhebungssituation mit NiK
Die dadurch entstehenden Konstellationen lassen sich in einem ersten Zugriff deskriptiv-analytisch als Netzwerk(e) fassen, da Akteure und ihre Beziehungen im Hinblick auf Entwicklungen hin zur Inklusion dargestellt werden (Netzwerke inklusiver Konstellationen, kurz NiK). Diese Unterscheidung ist im Vergleich zu Netzwerken als institutionelle Steuerung, wie sie oben bereits angesprochen wurden (vgl. Scheidegger 2012, 41; vgl. Rürup 2015, 19), wichtig. Der Netzwerkbegriff wird bei NiK also zunächst übergreifend und ohne inhaltliche Festlegung genutzt, d.h. nicht normativ-qualitativ als ein spezifischer Regulationsmechanismus (Hybridform) zwischen Markt und Hierarchie im Sinne eines eigenständigen Typus der Handlungskoordination (vgl. Scheidegger 2012, 42). „Sowohl die Untersuchungseinheiten als auch die charakteristischen Beziehungen können entsprechend den jeweiligen theoretischen Erwägungen relativ frei bestimmt werden. Netzwerkanalytisch durchleuchtet werden können – und das zeigt der Kontrast zur ersten (bzw. anderen, A.D.) Konzeption des Netzwerkbegriffs – sowohl hierarchische Beziehungen wie auch marktliche Transaktionen. Am Netzwerkbegriff lasten diesbezüglich keine Vorannahmen“ (ebd., 47; Hervorh. A.D.). Durch die in der Erhebungssituation von NiK forcierte Offenheit (Begrenzungen werden zwar durch das Spielbrett hergestellt, es kommt aber auch vor, dass in Rückblenden/flashbacks der Erzählung auch Spielfelder kreiert bzw. ergänzt werden) ist anzunehmen, dass die beschriebenen Einflüsse (Ties, s.u.) mit unterschiedlichen Qualitäten belegt werden. Durch die in der Anlage von NiK evozierte Erzählsituation treten Relevanzsysteme des/der Befragten (hier in Bezug auf die Umsetzung von Inklusion) in Erscheinung. Im Sinne des sich in den letzten Jahren zunehmend etablierenden Strangs der qualitativen Netzwerkforschung (vgl. Hollstein & Straus 2006) wird es so möglich, einen sinnverstehenden Zugang herzustellen (vgl. Hollstein 2006, 18). „Mit der qualitativen Netzwerkanalyse erschließt man das Netzwerk der Interaktionen, wie es sich aus der Sicht des befragten Akteurs ergibt. Genau diese Sicht liegt auch seinen Interventionen zu Grunde“ (Häussling 2006, 148). Die Potenziale qualitativer Verfahren für die Netzwerkforschung liegen nach Hollstein (2006) u.a. in explorativen Vorhaben (mit nachfolgenden quantitativen Untersuchungen), in dem Blick auf die Deutungen der Akteure, ihren subjektiven Wahrnehmungen und handlungsleitenden Orientierungen und in der Rekonstruktion konkreter Interaktionen und Handlungsvollzüge der Subjekte in ihrem Kontext (vgl. ebd., 20f.). Allerdings muss auch der Anfrage begegnet werden, inwieweit es sich bei NiK explizit um ein Netzwerkanalyseverfahren und nicht lediglich um ein Verfahren für die Analyse von Netzwerken handelt. „Wir bezeichnen daher nur solche Verfahren als Netzwerkanalyseverfahren welche explizit für die Untersuchung von Relationen entworfen wurden“ (Franke & Wald 2006, 154). Bisher werden bei Forschungsvorhaben weitestgehend Netzwerkkarten und Visualisierungen von Netzwerken eingesetzt (vgl. ebd., 161; siehe Weiterentwicklungen bei Neumann & Schmidt (2012) zu einem sog. „Netzwerkspiel“ (ebd., 199). NiK ist durch die räumliche Anordnung dreidimensional angelegt und lässt ebenso Verläufe in der Zeit sichtbar werden. Bisher überwiegt im Rahmen der (sozialen) Netzwerkforschung der quantitative gegenüber dem qualitativen Zugang, wenngleich in Bezug auf letzteren in den vergangenen Jahren eine zunehmende Publikationstätigkeit zu verzeichnen ist (vgl. Herz, Peters, & Truschkat 2015, Abs. 3F). Beide Zugänge gehen jedoch zunächst von einem deskriptiv-analytischen Netzwerkbegriff aus.
Dieser Netzwerkbegriff wird in der Regel auf bestimmte Qualitäten bzw. Arten von Beziehungen (Ties/Kanten, z.B. Interaktionen – wie z.B. „hilft“, „berät“, „redet mit“ oder soziale Beziehungen, wie Vorgesetzter, Freund, mögen/hassen) zwischen Akteuren (Knotenpunkte/Knoten/Nodes) bezogen (vgl. Scheidegger 2012, 47). Die sich daraus ergebende Struktur eines Netzwerkes – Matrix – kann auch mathematisch (als Graph) gefasst werden. Das Instrument (NiK) erlaubt es, in ein und demselben Erhebungsprozess prinzipiell quantitative und qualitative Daten erheben zu können, und eignet sich unseres Erachtens deshalb für ein echtes Mixed-Methods-Design entsprechend der Definition von Anne Brake:
Die Art der Datenerhebung realisiert einen hohen Grad der Integration – ein Charakteristikum eines Mixed-Methods-Designs – von qualitativen und quantitativen Daten. Hinsichtlich eines möglichst hohen Integrationsgrades bei der Auswertung der Daten bestehen momentan jedoch auch noch einige offene Fragen, z.B. bzgl. der Interpretation von stark divergenten Ergebnissen der jeweiligen Forschungszugänge.
In ersten Erprobungen von NiK haben wir Personen (unterschiedlicher Ebenen) des Bildungssystems aus einer Region zu den Einflussfaktoren und Entwicklungen im Kontext der Inklusion befragt. Hinzu zählen u.a. Personen, die im Kontext von Inklusion mit neuen Rollen betraut wurden und die, wenn auch auf unteren Ebenen positioniert, in Anlehnung an Hartong & Schwabe (2013) ggf. auch als „Agenten des Wandels“ (ebd., 494) bezeichnet werden können. [1]
Erste Ergebnisse der Auswertung (hier zunächst des gewonnenen Textmaterials nach der Methode der Grounded Theory gemäß Strauss & Corbin 1996) weisen u.a. auf die Frage hin, welche Personalbesetzungspolitik wie verfolgt wird, wie es gelingt, eine Sensibilisierungsarbeit bzgl. heterogener Lernausgangslagen zu erzielen, die auf (die Schüsselkategorie) „gemeinsames Inklusionsziels“ zurückwirkt und vice versa. Eine besondere Bedeutung fällt der Kernkategorie „Transparenz“ (auf unterschiedlichen Ebenen) zu. Diese kann nachfolgend im Zusammenhang jener Veröffentlichung diskutiert werden, die den Erfolg von Innovationen aktuell in den Kontext von Vertrauen stellen (vgl. Kolleck & Bormann 2014, 10). Weiter zu erprobendes Potenzial liegt in der sequenzanalytischen Auswertung des Bildmaterials. Unter anderem der Beitrag von Herz, Peters und Truschkat (2015) liefert hier wertvolle Anregungen.
Das Erhebungsinstrument (NiK) ist ebenso anschlussfähig an die quantitative Netzwerkanalyse. Am Beispiel der BRK soll dies im Folgenden kurz angedeutet werden: Für den Akteur „UN-Behindertenrechtskonvention“ des Gesamtnetzwerkes kann mit ausgewählten Analyseverfahren folgende Aussage nach der quantitativen Netzwerkanalyse getätigt werden: Die UN-Behindertenrechtskonvention weist in diesem Gesamtnetzwerk eine relativ geringe Zentralität auf. Mit Verfahren zur Zentralität werden Aussagen getroffen, hinsichtlich „der Wichtigkeit, öffentlichen Sichtbarkeit oder ‚Prominenz‘ von Akteuren in Netzwerken“ (Jansen 2006, 127). Um Aussagen diesbzgl. treffen zu können, wird beispielsweise die Anzahl der eingehenden und ausgehenden Ties (Kanten) unter Berücksichtigung der Gewichtung der Ties errechnet (Inverse-Weighted-Degree). Aus der Berechnung der asymmetrischen Matrix[2] (Gesamtnetzwerk) und den darin sich befindenden gewichteten Werten ergibt sich für den Akteur (Knotenpunkt) „UN-Behindertenrechtskonvention“, dass keine Bewertung hinsichtlich des Outdegree besteht – es gehen keine Ties von der BRK zu anderen Akteuren. Bei der Bestimmung des Indegree (eingehende Ties in den Knotenpunkt BRK) liegt die UN-Behindertenrechtskonvention auf dem 9. Rang von 16 möglichen Rängen, wobei diese letzten sieben Akteure sehr dicht beieinanderliegen. Damit ist die BRK kein zentraler Akteur hinsichtlich des Einflusses in dem Netzwerk aus Sicht der anderen Knotenpunkte. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Lage der Akteure nach dem Inverse-Weighted-Degree-Verfahren.
Abb. 3: Zentrale Akteure nach Inverse-Weighted-Degree
Neben der Bestimmung der Zentralität eines Netzwerkes durch unterschiedliche Verfahren können Ähnlichkeiten zwischen Akteuren analysiert werden, indem beispielsweise Gruppen oder Teilgruppen von Akteuren in einem Netzwerk identifiziert werden. „Teilgruppen können auf zwei verschiedene Weisen definiert werden. Einmal kann man Teilgruppen als Mengen von Akteuren definieren, die besonders nah beieinanderliegen, zum anderen kann man eine Menge von Akteuren mit außergewöhnlich vielen (insbesondere direkten) Beziehungen untereinander als Teilgruppe bezeichnen“ (Trappmann et al. 2011, 73). Für den Akteur „UN-Behindertenrechtskonvention“ kann bestimmt werden, dass er kein Cliquenmitglied in den bestehenden zwei Cliquen dieses Netzwerkes ist. Dies verweist einmal mehr darauf, dass diesem Akteur auf der bestehenden Datenbasis nur ein sehr geringer Einfluss bei der Umsetzung der (schulischen) Inklusion zugeschrieben werden kann.
Abb. 4: Dendrogram Cliquen
An den skizzenhaft vorgestellten Ergebnissen wird deutlich, dass es mit der quantitativen Netzwerkanalyse möglich ist, Ähnlichkeiten zwischen Akteuren oder Strukturen, d.h. die Topologie des Netzwerks über die Relationen zwischen den Akteuren zu bestimmen. Existieren Daten über einen zeitlichen Verlauf (mehrere Matrizen in zeitlicher Abfolge), dann sind auch Aussagen hinsichtlich von Veränderungen bezogen auf eben diese Fragen möglich. Mit quantitativen Verfahren können jedoch nicht die Art der Ties oder mögliche Einflussfaktoren (ausgenommen vorher festgelegte Attribute) charakterisiert werden, wie auch keine Rekonstruktion von Prozessen erfolgen kann. Dies fordert dazu auf, die Verzahnung von qualitativen und quantitativen Zugängen zu intensivieren.
Im Rahmen unserer Vorstudie arbeiten wir an folgenden Fragen:
Der Einsatz von NiK in der konkreten Arbeit unterschiedlicher Akteure, die die Umsetzung von (schulischer) Inklusion begünstigen sollen, lässt vermuten, dass NiK sich nicht nur als Erhebungsinstrument, sondern auch als ein Reflexionsinstrument eignet, um Entwicklungen, Bedarfe und Prozesse (unterschiedlicher Beteiligter) detaillierter fassen zu können. Insofern kann NiK mittelbar Einfluss auf die Umsetzungsprozesse von Inklusion nehmen, da es einen Reflexionsgewinn verspricht, was wir durch Aussagen von Befragten bestätigt sehen. Das Instrument diente zur Sichtbarmachung der Strukturen, Verläufe und Bedingtheiten und führte bei den Befragten zu einer besseren Handhabung der Komplexität – auch im Sinne nächstfolgender Interventionen.
Das Potenzial von NiK liegt unseres Erachtens darin, dass aus dem mit ihm erhobenen Material Einflüsse, Verflechtungen, mögliche Bedingtheiten, aber auch ggf. die beteiligten Ebenen (eines Mehrebenensystems) sowie Qualitäten der Vernetzungen und Interaktionen rekonstruiert werden können. Sehr wahrscheinlich können so auch neue und für dieses Handlungsfeld spezifische bzw. charakteristische Muster der Handlungsabstimmung und
-koordination gewonnen werden.
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[2] Eine asymmetrische Matrix entsteht, wenn nach einem gerichteten und gewichteten Netzwerk gefragt wird. Akteur A schätzt den Einfluss zu B ein und Akteur B bestimmt den Einfluss zu A. Kommen A und B zu einer differenten Einschätzung des gegenseitigen Einflusses, so entsteht eine asymmetrische Matrix – die nicht an der Diagonalen spiegelbar ist (z.B. Abbildung 1).