Abstract: Inklusion wird in der pädagogischen und politischen Diskussion nur noch verkürzt als Unterrichtsform wahrgenommen. Ein Rückbezug auf die menschenrechtlichen Grundlagen rückt das gemeinschaftliche Leben von Menschen mit und ohne Behinderung in den Mittelpunkt, lässt für die Gestaltung pädagogischer Prozesse aber alle Freiheit, um den Rechten des Einzelnen als Glied der Gemeinschaft gerecht zu werden. Dadurch bekommen die alltäglichen Lebensvollzüge in der Schule einen eigenen Stellenwert. Sie sind die Grundlage des Lernens, indem sie wie aller Unterricht Selbstwertgefühl, Gefühl der eigenen Würde und das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft vermitteln müssen. Inklusion ist daher keine zusätzliche pädagogische Aufgabe, sondern ein grundlegender Anspruch an alles pädagogische Handeln.
Stichwörter: Behindertenrechtskonvention, Menschenwürde, Inklusion, moralisches Recht, Lebensweltansatz, inklusive Schule, inklusive Pädagogik
Inhaltsverzeichnis
Die Tatsache, dass der folgende Vortrag den Tag abschließt, gibt nach vielen Beiträgen und den Gesprächen in den Arbeitsgruppen Gelegenheit, einen Überblick zu versuchen. Bemerkenswert unterschiedliche Zugänge zum Thema „Inklusion“ sind zur Sprache gekommen. Zunächst standen mit Blick auf die Vertragspflichten aus der Behindertenrechtskonvention rechtlich-politische Gesichtspunkte im Vordergrund. Im Vortrag von Prof. Georg Feuser ging es um eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Dann folgten medizinisch-naturwissenschaftliche Aspekte sowie eine geisteswissenschaftliche Annäherung an das Thema. Nicht zuletzt spielten reformpädagogische und pädagogisch-psychologische Gesichtspunkte eine Rolle. Die teils erheblich divergierenden Positionen lassen die Frage entstehen, ob es einen verbindlichen Bezugspunkt geben kann, dem sich alle Aussagen zuordnen lassen, einen gemeinsamen Gegenstand also, an dem gemeinsam gelernt werden kann.
Um dahin zu finden, schlage ich vor, noch einmal einen Schritt zurück zu gehen, und zwar zum Ausgangspunkt der aktuellen Debatte, der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 selbst. Denn mit den dort verankerten Menschenrechten hat es eine besondere Bewandtnis. Als die Vereinten Nationen im Jahr 1966 die Internationalen Pakte für bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedeten, stellten sie ausdrücklich fest, dass sich „alle diese Rechte aus der Menschenwürde herleiten“. Das gilt deshalb auch für die entsprechenden in der Behindertenrechtskonvention verankerten Rechte von Menschen mit Behinderungen. Menschenwürde und der entsprechende Schutz vor Diskriminierung sind das bei allen Einzelregelungen immanente Grundmotiv.
Die Behindertenrechtskonvention ist in Deutschland ebenso wie in Russland geltendes Recht, nachdem die nationalen Parlamente der Konvention in Deutschland 2009 und in Russland 2012 zugestimmt haben. Politisch wird der Konvention in beiden Ländern große Bedeutung beigemessen. Sie hat bereits im Rahmen von Regierungskonsultationen und beim „Petersburger Dialog“ auf der Tagesordnung gestanden.
Unter diesen Umständen würde es nahe liegen, als Grundlegung der Auseinandersetzung über Inklusion politische und juristische Fragen voranzustellen. Der Rückbezug aller in Rede stehenden Rechte auf die Menschenwürde bedeutet jedoch, dass man hier die Chance hat, auf die „Quelle“ aller uns bewegenden Fragen zu treffen. Menschenwürde ist in ihrem substanziellen Kern aber nicht juristischer Natur, sondern sie gründet auf dem Menschsein als solchem und geht damit allen staatlichen und juristischen Begründungen voraus. Als moralisches Recht ist sie der Maßstab, an dem alles juridische Recht zu messen ist. Deswegen spricht vieles dafür, den gemeinsamen Gegenstand in der Auseinandersetzung mit der Menschenwürde in diesem vorjuristischen und vorstaatlichen Sinne zu suchen, also, indem wir uns mit Grundfragen des Menschseins befassen, das heißt: mit Anthropologie.
Die anthropologische Auseinandersetzung mit der Menschenwürde gibt dem Dialog zwischen unseren Ländern eine besondere Chance. Der Rechtsvergleich zwischen verschiedenen Staaten hätte bei einer Analyse der Rechtsordnungen, also der konkreten Bestimmungen und Regelungen ansetzen müssen, die innerstaatlich in Russland und in Deutschland gelten. Man hätte herauszuarbeiten, wo Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede bestehen – ein aufwändiges und kompliziertes Verfahren. Indem jedoch alle diese Regelungen die stillschweigende Voraussetzung haben, dass wir als Menschen zusammenleben, und wir uns überhaupt nur deshalb Gedanken über Recht und Gerechtigkeit machen können, entsteht im Gespräch über Menschsein und Menschenwürde eine Brücke, die den Dialog über Unterschiede der Rechtsordnungen und über Staatsgrenzen hinweg erleichtert. Denn wir reden von nichts anderem als von uns selbst. Die Würde des Menschen ist kein abstraktes philosophisches Thema; der Blick richtet sich vielmehr immer zugleich auf uns selbst und was wir als Menschenwürde empfinden, wie wir anderen Menschen begegnen wollen, insbesondere auch, wenn wir selbst behindert sind oder mit Menschen mit Behinderung zusammenleben.
So können wir durch die Auseinandersetzung mit der Menschenwürde auf Gemeinsamkeiten treffen, die uns menschheitlich verbinden und Erkenntnisse ermöglichen jenseits dessen, was in dem konkreten innerstaatlichen Recht geregelt ist. Wir bewegen uns im Bereich des „überpositiven“ Rechts – wie wir das in Deutschland nennen –, also im Bereich des ungeschriebenen Rechts, das allem geschriebenen „positiven“ Recht vorausgeht. In diesem Sinne kann die anthropologische Grundlegung den Maßstab dafür liefern, was in den innerstaatlichen Rechtsordnungen als „richtiges Recht“ (Rudolf Stammler) anerkannt werden kann.
Nun scheint es, dass wir mit dem Blick auf das allgemeine Menschsein ganz absehen könnten von den konkreten Lebensverhältnissen, in denen wir leben. Das ist aber nicht so. Allein schon, wenn wir danach fragen, was wir selbst als unsere Würde und die Würde anderer betrachten, spricht immer mit, dass wir geprägt sind durch Erziehung, Bildung, soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten wie überhaupt durch die Lebenswelt, in der wir aufgewachsen sind und heute leben.
So ist die Menschenwürde zwar ein universeller völkerrechtlicher Anspruch; was dies konkret bedeutet, erschließt sich aber erst, wenn wir den in der Menschenwürde liegenden moralisch-rechtlichen Anspruch auf die realen Lebensverhältnisse beziehen. Uns verbindet die Gemeinsamkeit des Menschseins – was daraus folgt, hängt aber zugleich entscheidend von den uns umgebenden Lebensbedingungen ab. Deshalb müssen wir uns vergegenwärtigen, dass wir in verschiedenen Ländern leben. Wir haben zwar in der europäischen Geschichte einen großen gemeinsamen Hintergrund, zugleich aber leben wir doch in unterschiedlichen Lebenswelten und mit unterschiedlichem Selbstverständnis, nicht zuletzt auch geprägt durch die Erfahrungen der von deutschem Boden ausgegangenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Auf diese Weise hat die inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde immer auch einen historischen Bezug. Ohne die Absolutheit universell geltender Menschenwürde in Frage zu stellen, bedarf es der Einbeziehung der gesellschaftlichen Gegebenheiten, für die Menschenwürde Geltung beanspruchen muss. Ich mute Ihnen dazu die Formulierung eines bedeutenden deutschen Rechtsphilosophen zu. Gustav Radbruch (* 21. November 1878 in Lübeck; † 23. November 1949 in Heidelberg) schreibt:
„Das Rechtsideal“ – wir können sagen: das Ideal der Menschenwürde – „ist ein Ideal ... für das Recht einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Volkes, für ganz bestimmte soziologische und historische Verhältnisse ... Wie die künstlerische Idee sich dem Material bequemt, wie sie eine andere wird, wenn sie in Bronze, eine andere, wenn sie in Marmor sich verkörpern soll, so ist es jeder Idee eingeboren, materialgerecht zu sein. Wir nennen dieses Verhältnis die Stoffbestimmtheit der Idee, indem wir uns den Doppelsinn dieser Bezeichnung – durch den Stoff bestimmt, weil für den Stoff bestimmt – bewusst zu eigen machen“ (Rechtsphilosophie, Stuttgart 1973, S. 94).
Der Austausch über die Verhältnisse, in denen wir in Deutschland und in Russland leben, macht daher einen besonderen Erkenntnisreiz unseres Dialogs aus.
Vor diesem Hintergrund versteht sich, dass meine folgenden Überlegungen sehr einseitig von den Erfahrungen, Problemen und Diskursen ausgehen, die wir in Deutschland haben. Die übrigen Beiträge und Gespräche haben dies sicherlich aus russischer Sicht abzurunden.
In Deutschland ist das Verständnis der Menschenwürde nachhaltig geprägt von der Erfahrung des Nationalsozialismus. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, hieß es. Das war die Voraussetzung für die Entwürdigung und Entrechtung des Einzelnen und nicht zuletzt auch für die Abstumpfung des persönlichen Gewissens. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war es deshalb ein tiefes Bedürfnis, zu einer Wiedergesundung des Rechts zu kommen und die Würde des Menschen wiederherzustellen. Das hat 1949 den ersten Artikel unseres Grundgesetzes geprägt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Darin klingt an, was die Vereinten Nationen 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgedrückt haben: „...die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“. In diesem Sinne ist auch im Grundgesetz die Gleichheit aller Menschen festgeschrieben worden. Ausdrücklich eingefügt wurden die Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass das Eigenwesen und die Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Menschen Achtung und Schutz gebieten und damit zugleich die Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen unbedingte Anerkennung verlangen – und alle Menschen trotz dieser Verschiedenheit doch gleiche Rechte haben, unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben oder religiöser oder politischer Anschauung. Und insbesondere auch unabhängig von einer Behinderung. Menschen mit Behinderung sind in ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit zu sehen und zu achten wie jeder andere. Was so selbstverständlich sein sollte, kann einen doch vor große Herausforderungen stellen. Man muss nur bedenken, dass schwerste Behinderungen unter Umständen alles vermissen lassen, was wir an Vernunft, Freiheit oder Selbstbestimmungs- und Verantwortungsfähigkeit mit dem Menschsein verbinden. Verfügt darüber das Ungeborene oder ein Kind überhaupt? Soll einem Patienten im Koma die Menschenwürde abgesprochen werden, weil er nicht mehr selbstbestimmungsfähig ist? Gerade hier ist doch der Schutz der Menschenwürde notwendig! Dies fordert uns dazu heraus, jenseits aller bloßen Eigenschaften das wahre Wesen des Menschen zu entdecken. Wir müssen lernen, dieses wahre Wesen „im Antlitz des Anderen“ wahrzunehmen, auch im stummen Blick des geistig Abwesenden, ja auch im Antlitz des Verstorbenen.
BILDER aus: Willy Dreifuss, Kindergesichter, Basel/Stuttgart 1978
Was René Spitz, wie Prof. Feuser erwähnte, bei ‚seinen’ Kindern herausgefunden hat, - dass sie sich auf die Augen-Stirn-Partie des Gegenübers konzentrieren - , das machen wir Erwachsenen gar nicht anders und bemerken, wie der Andere aus seinem tiefsten Wesen zu uns spricht. Der Anspruch auf Anerkennung der Menschenwürde kommt uns in der „Geradheit des Von-Angesicht-zu-Angesicht“ (Emmanuel Lévinas) sinnenfällig entgegen. Wenn wir uns so ‚ansprechen’ lassen, versteht sich, dass egalitäre Normen nie der tiefere Grund der Menschenwürde sein können. Jeder Mensch ist ‚eine Norm für sich’. Die wechselseitige Anerkennung der Individualität als solcher ist deshalb der Kern der Menschenwürde und verbietet, den Menschen auf seine Eigenschaften, Leistungen oder gar Defizite zu reduzieren.
Der Blick auf den einzelnen Menschen ist aber nur eine Seite der Menschenwürde. Wir wissen zugleich, dass das Menschsein immer auch das „Mit-den-andern-in-der-Welt-sein“ (William Luijken) ist. Keiner lebt für sich; immer sind wir verbunden mit anderen, mit den Eltern, mit Verwandten und mit der Lebensgemeinschaft, die uns umgibt. Genauso mit den Zeitgenossen, mit denen wir das Zeitschicksal teilen. Die Lebenserfahrung zeigt, dass davon nicht nur unsere biologische und gesellschaftliche Existenz abhängt – die Begegnung mit dem Anderen gehört existenziell zu unserem Wesen. Wir sind Beziehungswesen, aus: Michael Hertl, Totenmasken, Stuttgart 2002 und wir benötigen den Spiegel der Gemeinschaft, um uns selbst zu finden und um überhaupt sein zu können, wer wir sind und wie wir sind - der Mensch wird am Du zum Ich, heißt es zu Recht. Die Beziehungen, in denen wir leben, sind ein wesenhafter Teil von uns selbst. Das Recht auf Teilhabe ist daher kein soziales Recht wie andere, sondern ist Substanz der Menschenwürde selbst.
So ist die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft die andere Seite der Menschenwürde. Von Anbeginn haben die Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen dies als das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft formuliert. Ausdrücklich hat die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 den Kindern mit Behinderung das Recht auf „aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“ zugesichert. Keine Konvention hat diese Seite des Menschseins als Teil der Menschenwürde jedoch so umfassend und nachhaltig zum Ausdruck gebracht wie die Behindertenrechtskonvention. Der Ausschluss der Menschen mit Behinderung von der Gemeinschaft, insbesondere auch der Gemeinschaft mit Menschen ohne Behinderung, wird als menschenrechtswidrige Diskriminierung verurteilt. Auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens genauso wie ‚in den Köpfen‘ wird Barrierefreiheit gefordert. Vor allem auf dem Gebiet der Bildung wird dies ausformuliert: Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung haben das Recht, „nicht vom allgemeinen Bildungswesen ausgeschlossen (zu) werden“. Deshalb haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, ein „inklusives Bildungssystem“ zu schaffen – Inklusion verstanden als das selbstverständliche Miteinander aller Menschen mit oder ohne Behinderung auch im Bildungswesen.
Die Anerkennung als Individualität und der ungehinderte, gleichberechtigte Zugang zur Gemeinschaft machen also gleichermaßen die Menschenwürde aus. Verschränkt sind beide Aspekte durch das Recht auf Selbstbestimmung, auf Autonomie. Es bedeutet, prinzipiell frei wählen zu können, ob, wann und in welcher Gemeinschaft man leben will. Menschenwürde verleiht das Recht auf Gemeinschaft, bedeutet aber nicht Zwang zur Gemeinsamkeit. Das Recht auf Zugehörigkeit heißt deshalb auch nicht, stets und ständige Gemeinsamkeit mit andern suchen zu müssen. Menschenwürde schließt Freiheit und damit auch das Recht auf Alleinsein ein oder sich frei mit anderen zusammen zu schließen. Gemeinsamkeit ist ein Urbedürfnis genau so wie, sich vom Zusammensein zurück zu ziehen. Beides ist Teil des Gemeinschaftslebens und muss frei zur Wahl stehen, und zwar nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu als Ausdruck autonomer Lebensgestaltung. Achtung der Menschenwürde und die Gewährleistung dieses Freiheitsraumes sind dasselbe; sie machen die Substanz des Rechts auf Inklusion aus.
Diesen unveräußerlichen Rechten – auf Individualität und auf Gemeinschaft – fügt die Behindertenrechtskonvention einen überaus wichtigen Aspekt hinzu. Sie besagt, dass die Menschenwürde – der Selbstwert des Menschen ebenso wie das Recht auf Zugehörigkeit zur Gemeinschaft – sich dem Gefühl mitteilen müssen – das meint sense of dignity and self-worth und sense of belonging. Die Menschenwürde wird nicht nur objektiv garantiert, sie muss, indem sie gelebt wird, subjektiv erfahrbar werden. Die Achtung als eigenständige Persönlichkeit und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft müssen im Lebensgefühl des Menschen konkret werden. In jeder zwischenmenschlichen Begegnung, aber auch im Leben in Institutionen – wie in der Schule – muss jeder die Atmosphäre wechselseitiger Anerkennung als Mensch und Mitglied der Gemeinschaft erleben können. Die Achtung der Individualität und das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft müssen Teil des Alltags sein – in der Gesellschaft wie in der Schule.
Die Tatsache, dass sich die gegenwärtige Diskussion vornehmlich um die Schule dreht, darf nicht verdecken, dass der Anspruch der Behindertenrechtskonvention wesentlich weiter geht. Der Kindergarten, die Berufsausbildung, die Arbeitswelt wie die Gesellschaft als Ganzes sind mitgemeint. Der von der Konvention geforderte „Systemwechsel“ ist wegen der strukturellen Gegebenheiten jedoch für das Schulwesen von besonderer Dramatik.
In der Diskussion über Inklusion in Deutschland ist der menschenrechtliche Horizont der Inklusion weithin verloren gegangen. Wir haben 16 Bundesländer, die für das Bildungswesen zuständig sind. Dort werden zurzeit die Schulgesetze in sehr unterschiedlicher Weise überarbeitet. Was eigentlich menschenrechtlicher Natur ist, findet sich unversehens meist verkürzt in der Sprache der verwalteten Welt wieder.
Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass wir in Deutschland von sog. „Regelschulen“ reden, in die alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen gehen. Daneben besteht für die Kinder mit Behinderungen ein differenziertes Angebot von „Förderschulen“. Sie sind weitgehend gut ausgestattet, aber eben Sondereinrichtungen, wo die Kinder mit Behinderungen unter sich sind. Diese Sondereinrichtungen fühlen sich durch die Konvention in ihrer Existenz bedroht, weil ein Widerspruch zum Grundgedanken der Behindertenrechtskonvention gesehen wird, wenn die Kinder mit Behinderungen unter sich bleiben. Die Umgestaltung des Bildungssystems ist daher von starken Ängsten begleitet, nicht nur der Schulträger der Fördereinrichtungen, sondern auch der Eltern, die ihre Kinder dort gut aufgehoben sehen, und nicht zuletzt auch der „Regelschulen“, die sich überfordert fühlen. Denn Inklusion wird in den Schulgesetzen verkürzt als „gemeinsamer Unterricht in der Regelschule“ gesehen. Für die „inklusive Schule“ soll es genügen, die Kinder mit Behinderung in der „Regelschule“ mitzuunterrichten, sofern sichergestellt ist, dass ergänzend Förderlehrkräfte für die Kinder mit amtlich bescheinigtem Förderbedarf zur Verfügung stehen. Solche Hilfen können als „angemessene Vorkehrungen“ unbedingt erforderlich sein. Sie sollen und können dazu beitragen, die individuelle Förderung des einzelnen Kindes zu verbessern. Wie die von den Bundesländern gebildete Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen vom 20.10.2011 „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ sagt, bleibt der Unterricht aber ausgerichtet an den „allgemeinen Bildungsstandards und Lehrplänen, ...ohne dass die inhaltlichen Leistungsanforderungen grundlegend verändert werden.“ Übersehen wird, dass sich durch das „Mitunterrichten“ der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen das gesamte Beziehungsgefüge in einer Klasse ändert, zieldifferentes Lernen statt gleicher Stoffvermittlung für alle den Alltag bestimmen muss und Inklusion den Lehrkräften damit Leistungen abverlangt, die mehr erfordern als die Addition von „Regel- und Sonderpädagogik“. Zu Unrecht dreht sich Deutschland fast alles um die Gewinnung von Sonderpädagogen für die „Regelschulen“ – das kann dem eigentlichen Anliegen der Inklusion nicht gerecht werden. Die Vorstellung, die Kinder mit Behinderung werden „inkludiert“, im Übrigen aber bleibe es bei der „Regelschule“, geht an der ‚Herausforderung Inklusion’ vorbei. So darf man sich über die verbreitete Einschätzung, dass sich Inklusion unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht verwirklichen lässt, nicht wundern.
Man muss deshalb festhalten, dass die Behindertenrechtskonvention ein durchaus anderes Bild der inklusiven Schule entwirft. Wenn man Inklusion als Ausdruck der Menschenwürde menschenrechtlich versteht, kann eine Schule in diesem universellen Verständnis inklusiv nur sein, wenn sie die Achtung der Individualität und die Sorge um die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aller Kinder zu ihrem Konzept macht. Die Behindertenrechtskonvention ist kein ‚Sonderrecht’ für Menschen mit Behinderung. Der menschenrechtliche Gedanke der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft wird von der Behindertenrechtskonvention zwar mit besonderer Nachdrücklichkeit für Menschen mit Behinderung betont; er entspringt aber, wie wir gesehen haben, dem Menschsein als solchem und umfasst daher alle Menschen, und gilt nicht wiederum nur für Menschen mit Behinderung als einer Teilgruppe. Inklusion in der Schule ist deshalb eine Herausforderung, bei der es um die gesamte Schülerschaft geht – einschließlich der Kinder mit Behinderung. Sie alle zusammen bilden einen Organismus, der sich durch jedes Kind verändert. In diesem Rahmen müssen die unterschiedlichen Lern- und Lebenswege aller Kinder und Jugendlichen Platz haben. Alle haben das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe. Mit gutem Grund spricht die Behindertenrechtskonvention vom „allgemeinen Bildungssystem“. Gemeint ist daher auch eine „allgemeine Schule“. Allein schon der Begriff der „Regelschule“ steht dazu im Widerspruch, weil eine Ausnahme für Menschen mit Behinderungen mitgedacht wird, die dem Denken der Behindertenrechtskonvention fremd ist.
Ein so grundlegender Systemwechsel kann allerdings nur ein sich schrittweise vollziehender Prozess sein. So ist auch die Behindertenrechtskonvention zu verstehen, wenn sie im Rahmen des Berichtswesens nach Art. 35 BRK davon spricht, dass jeder Vertragsstaat zu berichten hat „über die Maßnahmen, die er zur Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Übereinkommen getroffen hat, und über die dabei erzielten Fortschritte“. Damit unterstellt die Konvention, dass die Umwandlung des Bildungssystems nicht ‚über Nacht’ gelingen kann. Der Prozess ist jedoch nicht beliebig. Art. 4 BRK fordert die Vertragsstaaten auf, zur Verwirklichung der anerkannten Rechte alle „verfügbaren Mittel“ einzusetzen mit der Verpflichtung, jeden Reformschritt im Bildungswesen zu nutzen, um mehr Inklusion zu verwirklichen.
Die inklusive Schule muss daher unverrückbares Ziel der Politik bleiben, und klare politische Bekenntnisse müssen diese Staatenverpflichtung untermauern. Zugleich muss der Prozess überschaubar sein, wie Fortschritte erzielt werden sollen. Der menschenrechtliche Ansatz der Inklusion lässt im Einzelnen sicherlich Gestaltungsfreiheit; es trifft aber zu, dass Sondereinrichtungen, in denen Menschen mit Behinderung unter sich sind, in dieser Form nicht bestehen bleiben können. Die im Alltag erlebbare Lebensgemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderung ist das Hauptanliegen der Konvention. Unabhängig vom Grad innerer und äußerer Differenzierung müssen deshalb Strukturen entstehen, die im schulischen Alltag dieses Gemeinschaftsgefühl ermöglichen, unabhängig von einer Behinderung dazu zu gehören.
Nachdem die Schaffung von Behinderteneinrichtungen nach dem 2. Weltkrieg eine große Errungenschaft war, wird gerade an dieser Stelle deutlich, dass der Umwandlungsprozess zwar zielstrebig, aber doch mit Augenmaß betrieben werden muss. Der Verzicht auf Sonderschulen setzt voraus, dass als „inklusive Schulen“ Einrichtungen zur Verfügung stehen, die qualitativ den Bedürfnissen aller Kinder tatsächlich gerecht werden können – einschließlich der „angemessenen Vorkehrungen“ für Kinder mit Behinderungen. Dazu sind kleinere Klassen, zusätzliche therapeutische Hilfen, unterstützende Systeme, aber vor allem Lehrkräfte und therapeutische Fachkräfte erforderlich, die im Unterricht als Team zusammenarbeiten. Gerade auch, wenn es um schwere körperliche oder geistige Behinderungen geht, darf das Menschenrecht auf Inklusion nicht aufgegeben werden; die Bedingungen jedoch, unter denen es zu verwirklichen ist, setzen eine radikale Veränderung der Institutionen, des pädagogischen Settings und der personellen und sächlichen Ausstattung voraus.
Dieses menschenrechtlich begründete Inklusionsverständnis muss schließlich Konsequenzen für die Pädagogik selbst haben, insbesondere für die pädagogische Ausbildung. Förderpädagogik bleibt wie die „angemessenen Vorkehrungen“ als Hilfe zur individuellen Integration in die Gemeinschaft unbedingt von Bedeutung. Förder- oder heilpädagogische Ansätze gehören deshalb in die Ausbildung, ohne dass sich dadurch jedoch die Kompetenz entsprechend vollausgebildeter Fachkräfte ersetzen ließe. Förderpädagogische Fachkräfte behalten in der inklusiven Schule ihren Platz.
Inklusive Pädagogik geht aber entscheidend darüber hinaus. Sie muss allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik einschließen, zugleich aber ein von der ganzen Gemeinschaft ausgehendes übergreifendes Konzept verfolgen. Das Gefüge einer Klasse ist eine sensible Ganzheit, und die in der inklusiven Schule zunehmende Heterogenität verlangt allen Beteiligten ein höheres Maß an gegenseitigem Einfühlungsvermögen, Toleranz, Geduld und Rücksichtnahme ab, und zwar nicht im Verhältnis der Kinder mit und der Kinder ohne Behinderung, sondern im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Lern- und Lebenswege aller Kinder – und nicht erst wegen der Kinder, für die „Sonderförderbedarf“ behördlich nachgewiesen ist. In diesem Rahmen findet die der Individualität des einzelnen Kindes geschuldete individuelle Förderung statt. Ein ständiges Ausbalancieren der vielfältigen individuellen Aspekte innerhalb und im Widerspiel mit der ganzen Gemeinschaft ist die eigentliche Herausforderung inklusiver Pädagogik.
Im Einzelnen kommt es darauf an, die besonderen Begabungen jedes Kindes und das Eigenleben der Gemeinschaft zu entdecken und zu fördern. In diesem Sinne sind die Lernvoraussetzungen für jedes Kind zu klären, nicht nur im Rahmen behördlich vorgeschriebener Förderpläne für diejenigen mit einer Behinderung. Die Achtung vor dem Eigenwesen der Individualität bedeutet, dass Ansatz der Förderung nicht die – woran auch immer gemessenen – Defizite eines Menschen sein dürfen; Ausgangspunkt des pädagogischen Handelns müssen die im Menschen angelegten Entwicklungsmöglichkeiten sein, die jeder mitbringt. Diese Potenziale zu erschließen und auf diesem Wege dann auch Schwächen auszugleichen und Hindernisse zu überwinden, ist die Aufgabe.
Dieser Ansatz wird in Deutschland durch die Finanzierungsstrukturen massiv behindert. Denn die finanzielle Unterstützung wird vom Nachweis von „Defekten“ abhängig gemacht und nur finanziert, was der Integration des Einzelnen dient. Stattdessen bedürfte es eines Finanzierungskonzepts, das die erhöhten Anforderungen in einer inklusiv arbeitenden Klasse unter Einschluss der Kinder mit besonderen Bedürfnissen zugrunde legt.
Methodisch stellen sich alte Fragen unter dem Einfluss der Inklusion neu. Kann es bei dem üblichen Vermitteln von vorgegebenem Unterrichtsstoff bleiben, das stets davon ausgeht, dass etwas noch nicht gekonnt ist und damit unterschwellig ein Defizit vorausgesetzt wird, das durch den Lernprozess zu überwinden ist? Denn es ist genau dieses abstrakt vorgegebene Leistungsniveau, das zur Klassifizierung der Kinder führt, derer, die leistungsstark, und jener, die ‚schwach’ sind. In vermeintlich homogenen Lerngruppen mag dies weniger auffallen, bei größerer Heterogenität wird die Unzulänglichkeit dieses pädagogischen Vorgehens aber offensichtlich. Verstärkt wird dieser Auslesemechanismus durch die herkömmliche „Regelpädagogik“ mit ihrer starken Orientierung an einem missverstandenen Gleichheitsgedanken und einem dementsprechenden Bewertungssystem und den darauf bezogenen Abschlüssen.
Eine inklusive Pädagogik muss den ‚Stoff’ auf der Grundlage der Potenziale jedes Kindes als Medium verstehen und handhaben können, an dem sich das Kind in der Begegnung von Ich und Welt entwickeln und entfalten kann. Dieses Vorgehen „vom Kinde aus“ trägt dem Gebot Rechnung, das Kind nicht als Objekt des Lernens zu sehen, sondern als Subjekt und Träger eigener Rechte. Dadurch verändert sich die Begegnungsqualität zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen und macht Eigeninitiative und Beteiligung zum Prinzip im Schulalltag. Der Interaktion der Kinder als Entwicklungspotenzial in der Gemeinschaft gilt dann besondere Aufmerksamkeit. Für das, was im Englischen Peer-Learning genannt wird, also die Lernprozesse, die zwischen den Lernenden stattfinden, gilt es, geeignete Arrangements zu gestalten. Dies muss Teil der Ausbildung sein ebenso wie die Fähigkeit, durch innere oder äußere Differenzierung der Lerngruppen jedem Kind die Entwicklung seiner Möglichkeiten zu erlauben – und zugleich sicher zu stellen, dass sich Zusammengehörigkeit in der Gemeinschaft von Kindern mit und ohne Behinderung als Lebensgefühl mitteilt. Wenn man meint, dieses Ziel gebiete, das gemeinsame Leben und Lernen stets als „Gemeinsamen Unterricht“ durchzuführen, liegt ein grundsätzliches Missverständnis vor. Zwar verlangt der Grundgedanke der Inklusion, auch im Unterricht möglichste Gemeinsamkeit zu verwirklichen, zumal die positiven Effekte des gemeinsamen Lernens vielfach belegt sind. Sofern das Grundgefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gewahrt wird, ist Differenzierung – auch im Sinne getrennter Lerngruppen – aber durchaus kein Verstoß gegen Menschenrechte; sie kann im Interesse der Förderung des Einzelnen geradezu geboten sein. Die dafür leitenden Gesichtspunkte herauszuarbeiten, ist Aufgabe einer inklusiven Pädagogik.
Wie sich die mir wichtigen menschenrechtlichen Gesichtspunkte im Alltag widerspiegeln, möchte ich anhand eines Praxisbeispiels zusammenfassen. Denn ich kann darauf zurückgreifen, dass ich in einem kleinen Bereich auch pädagogisch tätig bin, und zwar im Fach Sozialkunde, Recht und Politik. Ich gebe diesen Unterricht in der Oberstufe einer Waldorfschule – der Windrather Talschule, www.windrather-talschule.de. Die Windrather Talschule nimmt seit ihrer Gründung im Jahr 1995 Kinder aller Begabungen auf, insbesondere auch Kinder mit Behinderungen. So liegen, auch wenn man das damals noch nicht so nannte, langjährige Erfahrungen zum Thema Inklusion vor.
Im vergangenen Jahr hat das Kollegium versucht, die bisherigen Erfahrungen zu bündeln und als „Momente inklusiver Pädagogik“ auszuformulieren. Von Momenten reden wir, weil wir keineswegs den Anspruch erheben, ein vollständiges Bild inklusiver Pädagogik entwickelt zu haben. Und auch deshalb, weil wir in der Praxis erleben, dass Inklusion meist nur in glücklichen Momenten gelingt – und oft auch scheitert. Trotzdem sind pädagogische Gesichtspunkte zusammengetragen worden, die den Dialog beleben können. Kurz zusammengefasst einige Beispiele:
Unter diesem Gesichtspunkt erkunden wir für jedes Kind, was wir an individuellen Potenzialen entdecken und welche Ziele im laufenden Schuljahr angestrebt werden könnten. Die „Förderpläne“, die sonst nur bei sonderpädagogischem Förderbedarf erstellt werden, werden für alle Kinder erforderlich. Natürlich sind solche Pläne nur Papier; aber es hilft, sich über die Situation jedes einzelnen Kindes Rechenschaft abzulegen. So kann zugleich eine Grundlage für das Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern selbst und mit deren Eltern entstehen. Denn gerade die Eltern von im üblichen Sinne begabten Kindern haben oft Sorgen, dass ihre Kinder nicht genug lernen. Auch sie müssen davon überzeugt werden, dass Inklusion sich nicht auf die Förderung der Kinder mit Behinderungen beschränkt, sondern alle Kinder zu ihrem Recht kommen sollen – auch die sog. Hochbegabten.
Unter diesem Stichwort haben wir aufgegriffen, dass Intelligenz sehr unterschiedliche Gesichter hat. Die Fixierung auf die sog. logisch-mathematische Intelligenz, deren Bedeutung ja nicht in Frage gestellt werden kann, ist eine Verkürzung menschlicher Möglichkeiten. Anders Begabte werden dadurch zurückgesetzt. Von gar nicht geringerer Bedeutung sind nämlich personale und soziale Intelligenz, Bewegungsintelligenz, Intelligenz des räumlichen Vorstellungsvermögens, sprachliche oder musikalische Intelligenz. Auf jedem dieser Gebiete sind besondere Leistungen möglich, und zwar gerade auch von Kindern, die vom logisch-mathematischen Aspekt her als minderbegabt gelten. Uns ist wichtig, in diesem Sinne alle Kinder als „Leistungsträger“ zu betrachten und uns damit einseitigem Leistungsdenken zu widersetzen.
Besonders herausgefordert fühlen wir uns durch das Thema Differenzierung. Zunächst sehen wir die Notwendigkeit, innerhalb jedes Unterrichts die Schülerinnen und Schüler so anzusprechen, dass jedes innerlich dabei sein kann. So genanntes zieldifferentes Lernen soll möglich sein, also müssen sowohl die Lernziele als auch die Lernwege individuell gestaltbar sein. Immer wieder kann es nötig sein, innerhalb der Klasse Lerngruppen zu bilden, die unterschiedliche Aufgaben haben, ohne dass die gemeinsame Lernatmosphäre verloren gehen darf. Aber dabei stößt man an Grenzen. Das können die eigenen Fähigkeiten sein oder auch, dass einzelne Kinder so stark herausfordernd sind, dass es nicht gelingt, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Gruppe zusammengehalten werden kann. Dann sehen wir die Notwendigkeit äußerer Differenzierung, also auch zur besonderen Betreuung einzelner Kinder oder Gruppen. Entscheidend ist dann, dass diese Kinder nicht einfach ‚ausgesondert‘ werden, sondern eigene individuelle Schritte ermöglicht werden. Und immer, vor allem in der Oberstufe kann es sinnvoll sein, je nach Unterrichtsinhalten „Lerninseln“ für kleinere Gruppen zu bilden, nicht zuletzt, um die Schulabschlüsse erreichen zu können, die wir in unterschiedlichster Form anbieten.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir in diesem Rahmen auch Kinder in der Gemeinschaft halten konnten, die sonst als ‚gescheitert’ gelten. Wir sind uns aber bewusst, dass noch weitergehende Lösungen gefunden werden müssen, wenn wir uns vorstellen, auch Kinder aufzunehmen, die zum Beispiel anstelle sprachlicher Verständigung ganz andere Formen der Kommunikation brauchen. Wir sind überzeugt, dass solche Schwierigkeiten kein Argument gegen Inklusion sein können, sehr wohl aber zeigen, dass es notwendig ist, dafür wesentlich bessere Bedingungen zu schaffen.
Die großen Anforderungen an Differenzierung können den falschen Eindruck erwecken, das Ideal individuellen Lernens sei letztlich, dass jedes Kind seine eigene Lehrkraft hat. Wir sehen aber die Gefahr, dass Lernen dann vordergründig auf die offen zutage liegenden bewussten Aneignungsprozesse verkürzt wird. In Wirklichkeit geschieht Lernen immer auch unbewusst und überbewusst. Immer wieder erleben wir, dass wichtige Entwicklungsprozesse gar nicht primär durch das bewusste Lernen in Gang gesetzt werden. Die Verbindung der Kinder als Lebensgemeinschaft ermöglicht in tieferen Schichten Fortschritte, die wir gewöhnlich nur zu wenig wahrnehmen. Das gegenseitige Vorbild, auch die von andern ausgehende Ermutigung, aber eben vor allem die Lebensgemeinschaft als solche können Entwicklungsfortschritte ermöglichen und eine entscheidende Stütze für ein positives Selbstbild als Basis allen Lernens sein. In diesem Sinne können wir die vielfach belegten positiven Erfahrungen des inklusiven Lebens und Lernens bestätigen.
In der Unterrichtspraxis hat sich als hilfreich erwiesen, darüber nachzudenken, welche existenziellen Grunderfahrungen dem Lernstoff zugrunde liegen. Sie können einen Zugang für alle ermöglichen, wenn es gelingt, in jedem „Fach“ solche Erfahrungen aufzusuchen und dadurch einen „gemeinsamen Gegenstand“ zu finden. Als gefühlte Erfahrung lässt sich beschreiben:
Diese Erfahrungen sind immer eine Bereicherung, auch für die, die dann weitere Lernschritte tun.
Als den alles entscheidenden Gesichtspunkt für Inklusion wollen wir Kindern und Jugendlichen das Grundgefühl ermöglichen, alle zusammen ohne Unterschied dazu zu gehören. Zumal wenn im Unterricht Differenzierung stattfindet, muss umso mehr Sorge dafür getragen werden, dass der Schulalltag vom gemeinsamen Leben geprägt ist. Die Schule soll so etwas wie Heimat sein. Traditionell entwickelt sich eine Klassengemeinschaft am Rande der sog. eigentlichen Aufgaben der Schule. Für uns ist das jedoch eine zentrale Gestaltungsaufgabe. Jeden Morgen sind alle Kinder und Jugendlichen zusammen, singen, besprechen, verabreden, was am Tag geschieht. Das ist das Basislager. Von hieraus finden die individuellen Expeditionen des Lernens statt – in der Oberstufe auch mehrwöchige Expeditionen in außerschulische Lebensfelder und andere Länder: Estland, Spanien, Israel, Übersee – und nicht zuletzt Russland. Die Erfahrungen werden im Basislager und in der Schulgemeinschaft berichtet und werden so wieder zum Erlebnis für alle. Gemeinsamkeit gibt es aber nicht nur im Unterricht, sondern immer auch beim Essen und Arbeiten in Küche und Cafeteria, auf dem Handwerkermarkt, im Zirkus, bei der Arbeit auf dem Bauernhof, bei Theater- und Eurythmieprojekten, auf Klassenfahrten und Ausflügen – dies alles bietet Raum für die Kinder und Jugendlichen, wie sie sind, und zugleich sind alle dabei. Das ist für uns Inklusion.