Sven Sauter: Den „Schiffbruch der eigenen Wahrnehmung“ erfahren. Reflexionen über Arts, (Dis-) Abilities & Inklusion

Abstract: Andere Bilder über Behinderung zu generieren war lange Zeit eine Aufforderung, die von den Disability Studies aufgeworfen worden ist. Nun liegen - geschaffen im Medium von Kunst und Kultur - viele dieser anderen Bilder über Behinderung vor. Welche Wirkungen diese Bilder auf veränderte Sehweisen und vor allem ästhetische Erfahrungen haben, wird im Beitrag diskutiert. Anknüpfend an den Artikel acht der UN-Behindertenrechtskonvention, der die Verpflichtung zum Bewusstseinswandel formuliert, werden in diesem Beitrag Überlegungen zu einer Meta-Theorie der Inklusion angestellt

Stichwörter: Behinderung, Kunst, Bewusstseinswandel, UN-Behindertenrechtskonvention, Disability Studies, Inklusion

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung: Neue Perspektiven auf Behinderung und Kunst
  2. Das Projekt Arts & Abilities
  3. Selbstreflexion und Verletzbarkeit
  4. Ästhetische Erfahrung als irritierender Lernprozess
  5. Authentizität oder Spiel?
  6. Fazit: Bestehende Bilder von Behinderung herausfordern
  7. Literatur

1. Einführung: Neue Perspektiven auf Behinderung und Kunst

In meinem Beitrag verfolge ich zwei Ziele: Zum einen berichte ich über ausgewählte Befunde aus dem Forschungsprojekt Arts & Abilities, das wir Gast-Herausgeber und Gast-Herausgeberinnen dieses Themenheftes der Zeitschrift für Inklusion im letzten Jahr an der TU Dortmund durchgeführt haben. Ich stelle zunächst den spezifischen Projekt-Ansatz sowie Ergebnisse der Projektarbeit vor und werde in einem zweiten Schritt eine theoretische Grundlagenreflexion über Kunst, Inklusion und Disability Studies durchführen. Ausgangspunkt dieser Grundlagenreflexion ist der Artikel acht der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), der die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft hervorhebt. Eine mögliche Zukunft der Disability Studies wird in diesem Zusammenhang ebenfalls herausgearbeitet.
Dazu, so meine These, kann und muss auch die Bedeutung von Kunst und Kulturpraxis neu in den Blick geraten. Lange Zeit war es konsensfähige Übereinkunft, dass es Aufgabe der Disability Studies sei, andere Bilder über Behinderung zu erzeugen, den klinischen Blick zu überwinden sowie das Anstarren der Anderen als visuellen Austausch komplexer kultureller und historischer Bedeutungen zu erkennen und schließlich andere Geschichten zu erzählen (Ochsner/Grebe 2013; Goodley 2011; Waldschmidt/Schneider 2007; Tervooren 2007; Thomson 2005). Nun ist es an der Zeit zu erforschen, was diese anderen Bilder tatsächlich ermöglichen. Denn diese anderen Bilder sind seit geraumer Zeit im Bereich von Kunst- und Kulturproduktionen zu finden (vgl. für den Bereich Performance: Bugiel 2014; für die darstellenden Künste: Luz 2012). Eine Erweiterung und vielleicht auch eine Klärung des Inklusionsbegriffes werden möglich, wenn das Diskurs-Feld der Inklusion sich weiter öffnet und über die gegenwärtig enggeführten und ideologisch beeinflussten Fragen zur Schulstruktur hinaus geht (vgl. Dannenbeck 2011).

2. Das Projekt Arts & Abilities

Im Wintersemester 2013/2014 habe ich mit zwei Kolleginnen aus der Fakultät Rehabilitationswissenschaften (Susanne Quinten aus dem Bereich Bewegung und Eva Krebber-Steinberger aus dem Bereich Musik) im neuen Lehr-Lernformat des Projektstudiums das Projekt Arts & Abilities – Ästhetische Produktion, Repräsentation, Behinderung und Inklusion durchgeführt. Adressiert war dieses Projekt für Studierende im fachlichen Bachelor des Studiengangs Rehabilitationspädagogik. Ein Ziel im Projekt war zunächst, die künstlerische Praxis von Menschen mit Behinderungen zu untersuchen. Dabei ging es konkret darum, Formate und Orte zu recherchieren, wie und wo diese künstlerische Praxis bereits barrierefrei möglich ist. Dabei war vor allem die Bedeutung von Kunst und Kulturpraxis im Hinblick auf den – in Artikel acht der UN-BRK geforderten – Bewusstseinswandel zu analysieren.
Im Fokus unserer Arbeit standen drei unterschiedliche Formen künstlerischer und ästhetischer Praxis: Musik, Tanz sowie die Formate der darstellenden und visuellen Kunst – also Performance, Fotokunst und Theater. Aufgabe der Studierenden war es, neben den fachwissenschaftlichen Forschungen, ein ästhetisches und kreatives Produkt zu entwerfen. Beim Projektforum zum Abschluss des Studienjahres im Projektstudium wurden am 16. Juli 2014 bemerkenswerte Ergebnisse dieses Lehr-, Lern- und Forschungsformates präsentiert und hinsichtlich der Arbeiten aus dem Teilbereich der visuellen Künste eine Vernissage von Fotoarbeiten veranstaltet, die eindrückliche Portraits ganz im Sinne uneingeschränkter Bildwürde (Mürner 2013) und Respekt vor der Vielfalt körperlicher Erscheinungsformen zeigten.


Foto: Dana Thimel

Warum haben wir im Projekt Arts & Abilities das Untersuchungsfeld Kunst ausgewählt? Es fällt bei der Betrachtung der gegenwärtigen Diskurslage zu Inklusion auf, dass sich der Inklusionsdiskurs sehr auf Fragen der Schulstruktur und der Organisation des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderung verengt. Diese fachwissenschaftliche und bildungspolitische Kontroverse wird auffallend ideologisch geführt und die alten Dogmen lassen die unterschiedlichen Weltsichten unversöhnlich gegeneinander prallen.
Es ist ohne Zweifel von fundamentaler gesellschaftlicher Bedeutung den Artikel 24 der UN-BRK auf allen Ebenen der Vertragsstaaten umzusetzen und ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln. Teilhabe, Diskriminierungsfreiheit und eine Anerkennung von Würde kann und muss gelernt werden. Auch steht ganz oben auf der gesellschaftlichen und politischen Agenda, das Bildungssystem diskriminierungsfrei und teilhabegerecht zu gestalten. Aus dem Blick gerät allerdings, dass gegenwärtig noch keine hinreichend menschenrechtlich fundierten Indikatoren vorliegen, um empirisch belastbar zu erforschen, was Menschen mit Behinderungen im Bildungsprozess zur wirksamen Teilhabe an einer freien Gesellschaft befähigt (Sauter 2013).
Wir hätten im Forschungsprojekt zu Arts & Abilities auf Artikel 30 der UN-BRK fokussieren können, der die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben (sowie an Erholung, Freizeit und Sport) einfordert. Hier verlangt Absatz 1, dass die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen anerkennen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen. Diesbezüglich sind die Staaten gefordert, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu kulturellem Material in barrierefreien Formaten haben. Insofern gilt es, den Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten barrierefrei zu ermöglichen und ebenfalls den Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, also Theater, Museen, Kinos und Bibliotheken, ohne Barrieren zu gestalten.
Der Schwerpunkt der Forschung war jedoch nicht die Analyse der konkreten Barrieren für die kulturelle Teilhabe. Unser Anliegen war vor allem zu untersuchen, was das Potenzial von Kunst und Kulturpraxis im Hinblick auf den Artikel acht der Konvention sein kann. Mithin war das Ziel des Projekts weniger die physischen als vielmehr die „Barrieren in den Köpfen“(Feige 2013) zu erforschen.
Judith Feige vom Deutschen Institut für Menschenrechte diskutiert im Positionspapier Nr. 8 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention die Bewusstseinsbildung aus menschenrechtlicher Perspektive als einen Abbau dieser „Barrieren in den Köpfen“, die es mithilfe von geeigneten Maßnahmen abzubauen gilt. Dadurch können Entwicklungen vorangetrieben werden, damit Menschen mit Behinderungen nicht länger als „Objekte der Fürsorge“ sondern als Träger gleicher Rechte angesehen werden.
Feige schreibt diesbezüglich: „Die erfolgreiche Umsetzung der UN-BRK erfordert positive Bilder von Menschen mit Behinderungen. Diese leiten die gesellschaftlichen wie individuellen Lern- und Veränderungsprozesse. Lern- und Veränderungsprozesse bilden die Voraussetzung für eine volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft, gleichberechtigt mit anderen.“ (Feige 2013, 2)
Hierbei spielt vor allem Artikel acht der UN-BRK eine zentrale Rolle. In ihrem Text bezieht sich Judith Feige beispielsweise auf die Programme der Bundesregierung sowie der Bundesbehindertenbeauftragen zur Schärfung des Bewusstseins in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Explizit wird diese Aufgabe in der UN-BRK gefordert:
„Die Konvention benennt als geeignete Maßnahmen ausdrücklich die ‚Einleitung und dauerhafte Durchführung‘ wirksamer Kampagnen zur ‚Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit‘ mit dem Ziel ‚die Aufgeschlossenheit und positive Wahrnehmung gegenüber Menschen mit Behinderungen zu erhöhen‘ und ‚ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern‘ (Artikel 8 UN-BRK).“ (Feige 2013, 3)
Wir haben die Kunst- und Kulturproduktionen, die das Thema Behinderungen fokussieren, als „einen wichtigen experimentellen Raum für die Veränderung von Perspektiven“ (BMAS 2011, 103) angesehen. Denn Kunst- und Kulturproduktionen bieten viele Möglichkeiten des Ausprobierens und Neuerfindens. So definiert die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK die gegenwärtige Aufgabe der Kulturarbeit und dieses Potenzial der Neuerfindung hat auch unsere Analysen geleitet.
Artikel acht der Konvention thematisiert konkret die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft hin zur Anerkennung der Rechte und der Würde behinderter Menschen sowie der Wahrnehmung und Wertschätzung ihrer Fähigkeiten und ebenfalls ihres konstruktiven Beitrags zur Gesellschaft.
Wie auch die bereits erwähnten Artikel 24 und 30 nimmt Artikel acht vor allem die Barrierefreiheit – im Sinne von Zugänglichkeit – in den Blick. Zugänglichkeit verstanden als mögliche Teilhabe setzt aber auch eine Teilgabe voraus. Folglich geht es darum, etwas abzugeben und Neues zuzulassen; ein veränderter Blick, eine Transformation von Gewissheiten und Routinen ist dafür unumgänglich.
Hier setzt das Forschungsdesign des Projektes an, denn die Begrifflichkeit Bewusstseinswandel legt ein differenziertes Bewusstseinskonzept nahe. Dies ist in der UN-BRK allerdings explizit nicht weiter ausgeführt. Außerdem wird auch hier wieder ein Übersetzungsproblem deutlich, ähnlich wie bezüglich Artikel 24. Bei dessen Übersetzung aus dem englischen Originaltext wurde in der deutschsprachigen amtlichen, gemeinsamen Übersetzung von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Lichtenstein der Begriff Inklusion von dem der Integration ersetzt.
Aus diesem Grund greife ich auf die so genannte Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 zurück (www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/schattenuebersetzung-endgs.pdf), denn an der Übersetzung des Originaltexts haben die deutschsprachigen Länder fast ohne Beteiligung behinderter Menschen und ihrer Verbände über die Rechte von Menschen mit Behinderungen abgestimmt. Allerdings steht auch in der Schattenübersetzung der Begriff Bewusstseinsbildung als Übertragung des Originalbegriffs Awareness-Raising. Handelt es sich dabei um ein rein semantisches Problem?
Ganz im Gegenteil, denn Awareness hat in einem weiteren Bedeutungsfeld auch eine starke Bezugnahme zu den Begriffen Bewusstheit und Erkenntnis. Erweitert man also das Wort- und Bedeutungsfeld um diese beiden Begriffe, dann wird die Stärke einer kulturwissenschaftlichen Perspektive der Disability Studies klar: Es geht in diesem Kontext um eine Erhöhung der Selbstreflexivität, eine Arbeit an den eigenen Wahrnehmungsfiguren (vgl. Weisser 2005).
Bewusstheit hat auf der einen Seite der Bühne etwas mit einer reflexiven Politik der Bilder zu tun, mit einer Bewusstheit für die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse, und schließlich mit der Politik der Repräsentation. Auf der anderen Seite der Bühne stellen sich dabei vor allem Fragen von Selbstermächtigung, von den Wirkungen eines selbstbewussten Blicks zurück auf die Betrachter. Auf diese Weise wird auch eine Erweiterung von Sichtbarkeit/Sagbarkeit der Ausgegrenzten hergestellt (vgl. Renggli 2007). Es geht besonders im Feld der Künste um eine Form des sich selbst Erkennens und ein Erkennen des anderen ohne Bewertung in seinem So-Sein.
Kulturanalytisch orientierte Disability Studies können hierbei aufzeigen, wie im Medium von Kunst und Kulturpraxis diese Bewusstheit wesentliche Impulse erhalten kann.
Im Medium von Kunst und Kulturpraxis zu forschen, heißt auch und vor allem sich auf dem Weg der ästhetischen Erfahrung diesem Bereich anzunähern. Neben den vorbereitenden Seminaren zu den kunsttheoretischen, ästhetischen Grundlagen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven sowie von aktuellen Formaten der künstlerischen Praxis, war es im Projekt Arts & Abilities wichtig, die selbstreflexiven Anteile und Zugänge zu stärken.
So standen Exkursionen zu Orten der Kunst und Kulturpraxis, wie beispielsweise der Besuch des inklusiven Soundfestivals in Fürth oder dem Besuch von Atelier und Galerie Goldstein in Frankfurt am Main, auf dem Programm. Wir besuchten außerdem mehrere inklusive Tanz-, Theater- und Performanceprojekte.
Außerdem veranstalteten wir im Projekt Workshops und Begegnungen mit (behinderten) Künstlerinnen und Künstlern: beispielsweise einen inklusiven Tanzworkshop unter den Titel "dance and ability - Tanzen inklusiv!". Mir war es ein Anliegen einen Workshop mit dem Regisseur und Fotokünstler Niko von Glasow als ein weit reichendes Erfahrungsfeld jenseits der üblichen Lehrformate zu gestalten. Der international anerkannte und mit mehreren Filmauszeichnungen bedachte Niko von Glasow ist ein Künstler mit einer Conterganschädigung, der sich selbst als „einzigen kurzarmigen Regisseur Deutschlands“ bezeichnet.
In diesem Workshop wurden unter dem programmatischen Titel: „Nobody is perfect – Die Ästhetik der Unvollkommenheit“ die Wünsche der Teilnehmenden nach Perfektion und die Ängste vor der eigenen Unvollkommenheit thematisiert. Dabei ging es Niko von Glasow – wie bei seinen Film- und Theater-Produktionen – um die Möglichkeiten, Ängste und Unsicherheiten in kreative Energie, Schönheit und Würde umzuwandeln. Wir haben als künstlerisches Ergebnis dieser Arbeit insgesamt 13 ausdrucksstarke und großformatige Fotos in der TU Dortmund bei einer Vernissage ausgestellt.


Foto: Sven Sauter

3. Selbstreflexion und Verletzbarkeit

Nun komme ich zur Auflösung des Titels meines Beitrags und schaffe damit eine Verbindung mit dem kulturanalytischen Potenzial der Disability Studies. Der poetische aber vielleicht doch etwas rätselhafte Titel „Schiffbruch der eigenen Wahrnehmung“ muss erklärt werden, denn was er zu bedeuten hat, erschließt sich nicht von selbst.
In der Internet-Dokumentation zu der Ausstellung Der imperfekte Mensch, die 2001 im Deutschen Hygiene Museum in Dresden zu sehen war, einem wichtigen Markstein der Disability Studies in Deutschland, heißt es: „Ein Schiffbruch ist ein nicht ausgeführter Akt, weil das Schiff und seine Passagiere nach dem Auslaufen nicht an ihren Bestimmungshafen gelangen. Auch alle unsere alltäglich abgebrochenen Handlungen, besonders die vielen kleinen stockenden Gesten, sind Schiffbrüche. Schiffbrüche von Ideen, Absichten, Gefühlen.“ (http://www.imperfekt.de/ausstellung.html)
Der Schiffbruch lässt auch denken an das großartige Gemälde von Théodore Géricault „Das Floß der Medusa“ – ein äußerst vielschichtiges Bild, das inmitten der Katastrophe des Schiffbruchs das menschliche Ringen um Überleben zeigt und von Klaus Heinrich auf seine darin versteckten Metaphern und kulturellen Mythen hin interpretiert wurde (vgl. Heinrich 1995).
Ich habe mir diesen Satz bei der Philosophin Gesa Ziemer ausgeborgt. Sie hatte 2004 ebenfalls ein Kunstprojekt am Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst an der Kunst-Hochschule in Zürich durchgeführt. Dabei ging es um die Kreuzungspunkte zwischen Tanzgeschichte und der Behindertenbewegung. Allgemeine und leitende Frage war in diesem Projekt, ob es im Medium der Kunst Möglichkeiten gibt, neue Bilder von anderen Körpern zu kreieren.
Das Forschungsprojekt „Verletzbare Orte. Die Ästhetik anderer Körper auf der Bühne“ stellte sich außerdem die konkreten Fragen, wie man über Körper schreiben kann, ohne in die gängigen Dualismen von schön-hässlich, gesund-krank, normal-behindert zu verfallen.
Vor allem galt es zu untersuchen, welche Gestaltungskraft anderen Körpern zukommen kann, um das ästhetische Potenzial in der Konfrontation des unversehrten Körpers mit seiner Verletzbarkeit auszuloten. Forschungspartnerinnen und -partner waren unter anderem Tänzerinnen und Tänzer sowie Performer, die auf der Bühne den Körper als verletzbare Orte sichtbar machen wie beispielsweise Raimund Hoghe und Ju Gosling (Ziemer/Schmidt 2004).
Das Konzept des verletzbaren Ortes hat zwei verschiedene Bedeutungen. Zum einen geht es um den konkreten Körper. Den auffälligen, anderen, deformierten Körper. Aber es geht in einem erweiterten Sinn auch um verletzbare Orte, die über den Körper hinausweisen. Es geht auch um den „Ort der Philosophie, den Ort der Kunst, um den Ort der Politik“ (Ziemer 2008, 15). Und hinzufügen lässt sich auch: Der Ort der Disability Studies, denn hier erweitert sich der disziplinäre Gegenstandsbereich um ästhetische Kulturpraxis, die Tobin Siebers (2009) erstmals systematisch untersucht hat. Aus dieser Perspektive zeigt sich neben der bereits bestehenden Bewusstheit für das Thema Behinderung und ihrem eigenständigen ästhetischen Wert bei vielen historischen Kunstprodukten und gegenwärtigen Kunstschaffenden eine sehr starke Anschlussfähigkeit des Projekts.
Ursprünglich wurde das Konzept des verletzlichen Körpers von Anja Tervooren (2000) entwickelt. Tervooren hatte im Kontext der Diskussion poststrukturalistischer Ansätze und dem Verhältnis zwischen Allgemeiner Pädagogik und der Sonderpädagogik in einer ersten Grundlegung der deutschsprachigen Disability Studies versucht, eine Systematik zu entwickeln, wie ein anderer Umgang mit dem Thema Behinderung möglich wird. Ein Umgang, der aus den strikten Gegenüberstellungen von Behinderung vs. Nicht-Behinderung ausbrechen kann. Sie fand eine Lösung in der Methode der Dekonstruktion und folgte einer Überlegung des Psychoanalytikers Jacques Lacan: Im Spiegelstadium des Kindes, im Alter zwischen 6 und 18 Monaten entdeckt das Kind erstmals sein eigenes Bild im Spiegel und kann dieses Erkennen mit Jubel beantworten. Lacan folgert hierbei eine Doppelfigur: eine, die von Unabhängigkeit und Abhängigkeit gekennzeichnet ist, von einer Projektion des Körpers als imaginierter ganzer Körper und einer abhängigen Figur, die er den zerstückelten Körper nennt. Die Metapher des verletzlichen Körpers ist daraus entwickelt und zeigt das trügerische Bild von Selbstkontrolle und Unabhängigkeit.
In diesem Sinne nutzt Anja Tervooren diese Metapher für eine Neuinterpretation und findet im Konzept des verletzlichen Körpers eine Möglichkeit, aus der Dichotomie zwischen Behindert und Nicht-Behindert auszubrechen. Das wird möglich, da das Konzept nicht auf einer Unterscheidung basiert und „das existenzielle Verwiesensein jedes Menschen auf die anderen zum Ausdruck zu bringen vermag.“ (Tervooren 2000, 41)
Reflektiert man nun mit Kunst und nicht über Kunst, ein Vorgehen, das wir im Projekt Arts & Abilities mit dem Forschungsansatz von Ziemer gemeinsam geteilt haben, und beforscht die Präsenz von anderen, behinderten Körpern auf der Bühne, stellt sich die Frage nach einer anderen Ästhetik (und vor allem deren Folgen), die einen grundsätzlich verletzbaren Körper exponieren.
Dieses Exponieren stellt die Zuschauenden zweifach in Frage. Zum einen hinsichtlich ihres inneren Bildrepertoires von Menschen mit Behinderungen. Zum zweiten, so sieht es Ziemer, geschieht etwas Elementares bei diesen Inszenierungen. Sie „entsichern [den] Trugschluss [der Unverletzbarkeit] und zielen nicht nur auf die repräsentationskritische Erweiterung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten, sondern auch auf ein verändertes Verhältnis zwischen Darsteller und Zuschauer. Ihre Performances zeigen, dass vor allem der souveräne Betrachter Schiffbruch erleidet, weil das Bühnengeschehen den Zuschauer dazu auffordert, in sich und nicht auf etwas zu schauen.“[Der Zuschauende erkennt]: „Verletzbar sind alle Körper.“ (Ziemer 2008, 15, meine Hervorhebungen S.S.)

4. Ästhetische Erfahrung als irritierender Lernprozess

Dieser Prozess des In-Sich-Schauens hat eine ausdrückliche Verbindungslinie zu dem Begriff der Bewusstheit und damit zu dem grundlegenden Konzept von Artikel 8 der UN-BRK. Dass Inklusion nicht verordnet und nur gelebt werden kann, ist dabei eine grundlegende Prämisse. Dieses Leben knüpft unmittelbar an das theoretische Modell der Erfahrung an, das der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey bereits in den 1930er Jahren entwickelte (vgl. Oelkers 2009). Für die Frage nach dem Bewusstseinswandel, oder genauer, der Bewusstheit ist dieses Konzept von zentraler Bedeutung, da es zu klären vermag, wie Neues entsteht. Für Dewey ist Erfahrung, wie auch Jan Weisser (2012) unlängst im Kontext einer erkenntniskritischen Diskussion erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion aufgezeigt hat, etwas, worin wir uns erkennen können und nicht etwas, das uns vor allem Recht und Gewissheit gibt. Ist eine Erfahrung nur die Bestätigung einer Erwartung, kann es keine Überraschung geben. Wie aber entsteht Neues? Und vor allem: Was haben Denken und Handeln, was hat ästhetische Erfahrung damit zu tun?
Für Dewey ging es bei der Klärung dieser durch und durch erkenntnistheoretischen Fragen um drei Dinge: Das entdeckende Lernen, das Problemlösen und die Rekonstruktion von Erfahrung. Die dabei entstehenden Impulse können eine veränderte Praxis zur Folge haben. Handlungstheoretisch gesprochen: Sinnvolle und intelligente Handlungen sowie Veränderungen kommen nur zustande, wenn Reflexion vorausgeht.
In seiner im Original 1934 erschienen Schrift „Kunst als Erfahrung“ rekonstruiert Dewey den Erfahrungsbegriff aus dem Alltagsleben der Menschen und schreibt, dass ein großes Kunstwerk durchaus für sich stehen kann: „Ästhetische Bedeutung erhält es jedoch erst, sobald es in einem Menschen eine Erfahrung bewirkt.“ (Dewey 1988, 10)
Für ihn liegt der Ursprung der Kunst in der menschlichen Erfahrung. Im Laufe der historischen Entwicklung und der Ausdifferenzierung moderner und vor allem kapitalistisch organisierter Gesellschaften wurde Kunst jedoch immer mehr aus dem Alltag der Menschen ausgegliedert in Museen, Galerien oder Theater. Mit seiner Kunsttheorie will Dewey Kunst, Erfahrung und Ästhetik wieder in das Alltagsleben der Menschen zurückholen.
In Bezug auf die Präsenz und das ästhetische Erleben behinderter Körper auf der Bühne war es ein nachhaltiger Befund aus dem Projekt Arts & Abilties, dass es beim Besuch vieler Performances zu starken Irritationen hinsichtlich der Frage der Authentizität kam. Was ist echt, was ist gespielt? Beispielsweise drängte diese Frage mit Präsenz in den Raum, herausgefordert durch die Performance „Dschingis Khan“ des Performance-Kollektivs Monster Truck zusammen mit dem Theater Thikwa. Es standen drei Menschen mit Down Syndrom im Zentrum der Handlung, die, wie in einem lebenden Tableau einer Völkerschau als „echte Wilde“ in schweren Pelzmänteln und folkloristischer Ausstattung, als Mongolen in Szene gesetzt wurden. Irgendwann in der Mitte des Stücks gehen die (teilweise nicht behinderten) Arrangeure der Szenerie und die drei Schauspieler mit Down-Syndrom bleiben zurück. Sie agieren auf der Bühne alleine und bedienen so ziemlich alle Phantasien der Zuschauenden von vorzivilisatorischer ungezügelter Rohheit, Wildheit und dem erotisierten und exotisierten Anderen.
Spielen sie dabei sich selbst? Muss man Menschen mit einer Behinderung nicht vor dem Zuschaustellen schützen? Werden die kognitiv beeinträchtigen Schauspieler nur ausgenutzt? Wissen die Schauspieler mit Down-Syndrom überhaupt, was sie da tun? (vgl. Kasch 2012)
Diese Fragen verweisen unmittelbar auf das eigene Wahrnehmungsrepertoire und zeigen wie die Konstruktion des Anderen in der und durch die eigene Wahrnehmung geschieht. Zugespitzt und gewissermaßen als Meta-Kommentar zu den Diskussionen um das Stück entwickelte das Monster Truck/Thikwa in der aktuellen Arbeit „Regie“ die Ambivalenz und Lust an der Irritation weiter und trieb die Fragen nach der Repräsentation von Behinderung, Selbstbestimmung und auch den Formen des Theaters auf die Spitze (Kaempf 2014; Hammerthaler 2014)
Diese übliche Wahrnehmung hat auch Schiffbruch erfahren bei der gemeinsamen Betrachtung im Forschungsprojekt von Christoph Schlingensiefs „Freakstars 3000“ oder der Tanzperformance des belgischen Choreographen Jérôme Bel, der in seinem kontrovers diskutierten Stück „Disabled Theater“ ebenfalls Menschen mit Down-Syndrom auf die Bühne holte (vgl. dazu den Beitrag von Amelie Damschen in dieser Ausgabe). Sie tanzten und spielten. Aber was? Spielen sie sich selbst oder die Rollen, die sich die „normalen“ Betrachter von ihnen machen oder führen sie nur die Rollenskripte eines repräsentationskritischen Regisseurs aus?

5. Authentizität oder Spiel?

In aller Regel wird verkannt, dass es sich bei diesen Akteuren – beispielsweise vom Theater Thikwa – um professionelle und entscheidungsfähige Schauspieler handelt, die dazu in der Lage sind, vielschichtige Rollen zu spielen und somit auch mit den Zuschauern und ihren Erwartungshaltungen spielen können – also durchaus befähigt dazu sind, eine ironische Selbstreflexion auf der Bühne zu präsentieren (vgl. Wildermann 2014).
Das Spiel ist letztlich das, was man erwartet, wenn man als zahlender Zuschauer vor der Bühne Platz nimmt. Aber auch dieses übliche Arrangement kann aufgebrochen werden. Im Theaterprojekt „Sexistenz.Nahverkehr“, einem Theaterprojekt über Sexualität und Behinderung war das Spiel- und das Betrachtungsfeld zugleich die Bühne. Die Zuschauenden wurden links und rechts der Bühne am Rand platziert und in der Mitte der beiden Reihen spielten die Darsteller. Die sichere und distanzierte Beobachtungsposition wurde radikal aufgehoben und damit in Frage gestellt. Auch hier wieder stellten sich die Fragen: Wie authentisch ist das Gezeigte? Sind es von den Akteuren selbst erfahrene Geschichten? Die Szenen in „Nahverkehr“ rückten in der Tat sehr nah an die Zuschauer und fußten tatsächlich auf persönlichen, biographischen Erfahrungen der teilnehmenden Darsteller und Darstellerinnen.
Diese wurden allerdings aus der biographischen Begrenztheit heraus als ästhetische und künstlerische Erfahrung inszeniert und geben damit nicht nur Einblicke in die Situation und die Erfahrungs- und Erlebniswelt von Menschen mit Behinderung. Sie fordern zugleich auch den Zuschauenden auf, eigene Haltungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit einer Behinderung zu überprüfen. Denn es sind nicht nur die gezeigten körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen, die Hindernisse darstellen, um am sozialen Verkehr teilzunehmen.
Dieses Theaterprojekt wurde kuratiert von Siegfried Saerberg, einem blinden Wissenschaftler und Künstler, der zu diesem Thema ein multimediales Projekt mit einer Ausstellung, einer Buchpräsentation, einer Lesung sowie ein Audiostück beim Kölner Sommerblut Festival im Frühsommer 2014 präsentierte.
Saerberg bleibt im Hinblick auf die Positionen zwischen Künstler und Wissenschaftler, zwischen Zuschauenden und Darstellenden uneindeutig, mehrdeutig, er spielt mit allen Rollen und Perspektiven, mischt sie und kombiniert neu.
Vor allem bezüglich der Arbeit an der eigenen Wahrnehmung als Zuschauender ist seine Position interessant: „Macht ein behinderter Mensch Kunst, so stellt sich die Frage: Ist das anspruchsvolle Kunst oder Behindertenkunst?“ (Saerberg 2010,9)
Saerberg schreibt im Originaltext nicht behinderter Mensch, sondern Blinder, weil er aus seiner individuellen Erfahrungswelt und Position diese Frage aufwirft. Was kann er auf diese Frage antworten?
Kunst erschafft aus Unsicherheiten neue Wahrnehmungsweisen, Kultur macht sie allen zugänglich, Wissenschaft versucht darin Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, Blindheit erkennt die Unsicherheit unseres Wissens und weiß um die Macht des Zufalls.“ (Saerberg 2014)

6. Fazit: Bestehende Bilder von Behinderung herausfordern

Als stärksten Befund aus dem Projekt Arts & Abilities lässt sich dieser Zusammenhang von Kunst, Kultur, Behinderung und Wissenschaft fokussieren. Gezeigt hat sich durchweg, dass aus dieser Position des Mehrbezüglichen und Un-Eindeutigen die Gewissheiten über Behinderung herausgefordert werden und sich hinsichtlich des repräsentationskritischen Potenzials des Verbindens dieser fünf Aspekte Kunst, Kultur, Wissenschaft und Behinderung viel von den Impulsen offenbart, die für eine andere Bewusstheit im Kontext des Themas Behinderung von Bedeutung sind.
Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen nun für die Disability Studies? Ich habe versucht zu zeigen, wie sich zum einen durch die konsequente Erweiterung von Lehr- und Lernformaten in Richtung ästhetischer Erfahrung nicht nur neue Forschungs- und Erkenntniswege für vielfältige und transdisziplinäre Theoriebezüge aufweisen lassen. Es geht zum zweiten auch um Vorüberlegungen für eine Theorie der Inklusion, die Bewusstheit als notwendige Voraussetzung für Inklusion erforscht. Aber auch für den Bereich der Kunstproduktion ist ebenfalls eine Erweiterung festzustellen. Es geht dabei längst nicht mehr um eine „Kultur vom Rande“, die vom Zentrum wahrgenommen werden will.
Kultur vom Rande“ – so bezeichnet sich ein internationales Festival für Theatergruppen, im süddeutschen Reutlingen, bei dem Menschen unabhängig von Benachteiligung und Behinderung künstlerisch aktiv sind. Im Jahr 2014 fand es zum sechsten Mal statt. Es geht aus der eben skizzierten Theorieperspektive allerdings nicht mehr nur um das Aufzeigen des Lebens an den Rändern. Dahinter verbirgt sich eher eine defensive Position des Wartens auf Toleranz und der Duldung einer Minderheitenposition. Was ich in diesem Beitrag deutlich machen möchte, ist zum einen die fundamentale Kritik und In-Fragestellung der Idee von Zentrum und Peripherie der Künste und von den Eigenschaften behindert oder nicht-behindert der Künstler*innen. Ebenfalls verweist das Konzept der verletzbaren Körper auf eine bedeutende Thematik aus dem Zentrum des Lebens: Für wen ist wie, wann und wodurch das „gute Leben“ möglich? Wann und wodurch wird es gefährdet? Es wird möglich, wenn im öffentlichen Raum, auf der Bühne, in performativen Akten über Fragen von Ästhetik, Schönheit, des Körpers und des guten Lebens verhandelt wird. Und es wird gefährdet durch das Leben selbst.
Auch für die Disability Studies ergeben sich auch neue Anschlussmöglichkeiten, die bislang noch nicht hinreichend in den Gegenstandsbereich – zumindest der deutschsprachigen Disability Studies – einbezogen worden sind. Ich denke in dieser Hinsicht vor allem an das Forschungs-Projekt von Volker Schönwiese „Das Bildnis eines behinderten Mannes“, das die Präsentation und Repräsentation von Behinderung kulturgeschichtlich und kunsthistorisch rekonstruierte und zu interessanten Befunden kam (vgl. Schönwiese/Mürner 2006).
Mit einer Verschiebung auf gegenwärtige Produktionen aus dem vielfältigen künstlerischen und kulturpraktischen Feld lassen sich neue Politiken des Blicks und der sich gegenwärtig weitreichend verändernden Formen von Repräsentation und Präsentation verletzbarer Körper in der öffentlichen Wahrnehmung untersuchen. Eine Verbindung von Kunsterziehung und den, sich transdisziplinären neu ausrichtenden, Disability Studies hatte bereits John Derby (2012) in einem bemerkenswerten Artikel in der Zeitschrift Disability Studies Quarterly vorgeschlagen. Diese neue Komplizenschaft geschieht jedoch nicht, ohne die historischen Bezüge aus dem Blick zu verlieren. Denn auch die jüngere Geschichte kann aus der Perspektive einer ästhetischen und performativen Theorie der Disability Studies neue Interpretationen finden. Eine solche mögliche Neu-Interpretation lässt sich mit Blick auf die anderen Bilder zurück in die Geschichte projizieren:
Als am 19. Juni 1981 der Aktivist und Mitbegründer der deutschen „Krüppelbewegung“ Franz Christoph bei der Eröffnung der Düsseldorfer Messe „Reha-Care“ dem damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens mit seiner Krücke gegen das Schienbein schlug, war dies der Kontext weiterer Aktionen der politischen Behindertenbewegung – wie das so genannte Krüppeltribunal in Dortmund im Dezember 1981 – also deutlichen Bewegungen in Richtung Selbstermächtigung und deutlichen Signalen für eine Abkehr von der Politik der Fürsorge und Wohltätigkeit hin zu einer Politik der Rechte (vgl. Mürner/Sierck 2013). Bei dieser Aktion in Düsseldorf (ebenso den vielen anderen Aktionen von Franz Christoph – wie etwa seinem Asylantrag in Holland oder im Kontext der so genannten Singer-Kontroverse der Ankettung in Hamburg vor der Redaktionsgebäude der Wochenzeitung Die Zeit) handelte es sich um Performances in einem künstlerischen und ästhetischen Hinblick par excellence.


Quelle: Aktion Mensch

Charakterisiert man die Kunstform Performance als einen offenen künstlerischen Prozess in eigener Zeit, der als unmittelbare körperliche Handlung und Präsenz abläuft, und dessen Medium der Performer selbst ist, so wird klar, dass dabei keine Rollen gespielt werden. Der nicht austauschbare Performer durchlebt das Präsentierte im Augenblick des Entstehens künstlerisch am eigenen Leib und mit weit reichenden Folgen. Für den diskutierten Zusammenhang bedeutet dies: Franz Christoph dekonstruierte mit seinen Aktionen nachhaltig und folgenreich das Bild des hilflosen, wehrlosen und dankbaren Krüppels.
Die Perspektive des Performativen, so definiert Erika Fischer-Lichte (2012), geht davon aus, dass es kulturelle Phänomene und Prozesse sind, die neue Wirklichkeiten hervorbringen. Sie sind nicht lediglich als Zusammenhänge von Zeichen zu begreifen, die es zu entziffern und zu verstehen gilt. Eine neue Wirklichkeit wurde mit der Performance von Franz Christoph in Düsseldorf geschaffen und auch die Bildpolitik verändert sich durch diese Aktion: Das bis dahin bestehende Bild des Krüppels wurde in einer machtvollen Selbstermächtigung ebenso verstört wie die Meinung der so genannten Wohltäter (vgl. Tervooren 2007), dass es nämlich im Hinblick auf ihre „Versorgung“ die Behinderten „so gut wie nie hatten“ – so sah es zumindest der damalige Sozialminister Nordrhein-Westfalens Friedhelm Farthmann (vgl. v. Daniels 1983, 162).
Auch wenn die kompromisslose Radikalisierung und die Rolle von Franz Christoph innerhalb der Krüppelbewegung im Rückblick durchaus kontrovers eingeschätzt wird (vgl. Mürner/Sierck 2009), und auch die Krüppelbewegung in der bürgerlichen Presse nicht weiter beachtet wurde, die semiotische Kraft und kulturelle Dynamik der Aktionen ist nicht zu unterschätzen. Denn es sind die deutlichen Verbindungslinien der Aktionen im Jahr 1981, wie dem Krüppeltribunal und dem Entstehen der UN-BRK, die auch die Menschenexpertin und Disability Studies-Forscherin Theresia Degener aus gegenwärtiger Sicht in einen Zusammenhang bringt (vgl. Roebke 2012, 117).
Eine kulturanalytische und performancetheoretische Erforschung der bewusstheitsbezogenen Vorbedingungen einer inklusiven Transformation der Gesellschaft steht in diesem Sinne als zukünftige Aufgabe der Disability Studies auf der Agenda.

7. Literatur:

Bugiel, M. (2014). Auftreten und leuchten. Theater und Behinderung - eine Spurensuche zwischen Integration und künstlerischer Autonomie. In: Theater der Zeit, Heft Nr. 4
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin 2011.
Dannenbeck, C. (2011). Theater mit dem Museum – Inklusion und kulturelle Teilhabe. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 4. URL: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/79/79 [Zugriff am 02.01.2015]
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