Sven Sauter: Ästhetische Erfahrung als Umweg und Widerständigkeit

Abstract: In diesem Beitrag wird im Kontext ausgewählter Ergebnisse des Projekts Arts & Abilities eine grundlagentheoretische Diskussion hinsichtlich ästhetischer Erfahrungen im Hinblick auf Behinderung geführt. Dabei werden Kunsttheorie und Erkenntnistheorie von John Dewey miteinander verbunden und aufgezeigt, wie ästhetische Erfahrungen individuelle und gesellschaftliche Bilder transformieren können.
Stichworte: Ästhetische Erfahrung, Disability Studies, John Dewey, verletzbare Körper

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Ein Plädoyer für das Unvollkommene
  3. Kunst als Erfahrung
  4. Erfahrungen aus dem Workshop mit Niko von Glasow
  5. Zeigen als Selbstermächtigung
  6. Ausblick
  7. Literatur

1. Einleitung

Innerhalb der Disability Studies sorgt seit einiger Zeit ein Akronym für Beunruhigung und lebhafte Kontroverse: TAB – dies meint Temporarily Able Bodied (Goodley 2011). Frei übersetzt bedeutet das, von Deborah Marks im Kontext eines sozialen Modells von Behinderung bereits 1999 in die Diskussion gebrachte Konzept, dass wir Menschen nur über einen zeitweise befähigten Körper verfügen. Es ist also möglich, sogar äußerst wahrscheinlich, dass viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben die Erfahrung machen, die Verfügung über den eigenen Körper zu verlieren. Dieses hinter dem Akronym stehende Konzept der kritischen Disability Studies, die Erfahrungen des körperlichen (und auch kognitiven Anders-Seins) als ein Scharnier gesellschaftlich und kulturell vermittelter Erfahrung verstehen, markiert auch ein Verhältnis zwischen Mehr- und Minderheiten. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Dichotomie zwischen Behindert und Nicht-Behindert. Ganz im Gegenteil wird mit dieser Theoriefigur versucht, diese Dichotomie aufzuheben und vielschichtig zu theoretisieren.
Ganz ohne Wertung zeichnet der Ausdruck TAB einen grundsätzlichen Prozess der Verletzlichkeit des Körpers nach. Die Leiblichkeit des Menschen, seine Verwundbarkeit und grundsätzliche Verletzbarkeit machen überdies die historisch wirkmächtigen Trennungen zwischen gesunden und kranken, behinderten und nichtbehinderten Menschen hinfällig (vgl. Dederich 2013, 26). Dadurch kann eine doppelte Beunruhigung entstehen: Wir haben keine Möglichkeit, der Verletzbarkeit zu entgehen und es besteht keine klare Trennlinie zwischen den unterschiedlichen Zuständen oder besser: anthropologisch bedingten Seins-Weisen.
Im Allgemeinen bestehen in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Möglichkeiten zu reagieren:

  1. Angst und Verleugnung halten die Illusion des unverletzlichen Körpers aufrecht
  2. Eine Achtsamkeit für den eigenen und anderen verletzlichen Körper entsteht und es wird sorgsam mit ihm umgegangen.

Welchen Weg diese Auseinandersetzung mit dem TAB und der Verletzlichkeit des Köpers nimmt, das hängt – so meine These – wesentlich von ästhetischen Reflexions- und Vermittlungsprozessen ab, die diese Erfahrung transformieren in eine weder beunruhigende noch beruhigende Gewissheit der Unausweichlichkeit elementarer Erfahrungen des Menschseins: Die körperlichen Transformationen als unumstößlicher Fakt.
In dieser Hinsicht kommen die Formen und Möglichkeiten der ästhetischen Erfahrungen ins Spiel. Sie sind erfahrbar in Formaten kultureller und künstlerischer Praxis. In den Forschungen zur Kulturellen Bildung beginnt sich dieses Feld von Differenz, Teilhabe und Inklusion als neues Forschungsthema zu konturieren. Dies lässt sich anhand der Debatte: „Kulturelle Bildung für alle! Wie gelingt Teilhabe?“ aufzeigen, die auf der Wissensplattform Kulturelle Bildung online geführt wird (vgl. http://www.kubi-online.de/). In diesem Zusammenhang wird sich auch zunehmend mit Metatheorien und Methodologien beschäftigt. Über diese beiden Motive wird nachgedacht, so sieht es Eckart Liebau, wenn sich ein Fach oder ein Thema in einer Übergangssituation befindet. Von daher beobachtet Liebau, dass sich die Kulturelle Bildung und das ihr eigene Forschungsfeld in einer Phase der Ausdifferenzierung und also in einer Übergangssituation befinden (vgl. Liebau 2014). Das Thema „Behinderung“ im Fokus dieses Forschungsfeldes steht allerdings noch zur Erschließung an.
Aus diesem Grund können die im Projekt Arts & Abilities entstandenen Befunde, die als Ausgangspunkt – in kulturellen und künstlerischen Formaten – erfahrene Reflexionen über die bestehenden individuellen und gesellschaftlichen Bilder von Behinderung untersuchte, anschlussfähig an diese Ausdifferenzierung der Kulturellen Bildung werden.

2. Ein Plädoyer für das Unvollkommene

Eine Ästhetik des Unvollkommenen wird in den Formaten von Kunst und Kultur erfahrbar und fügt diesen, meist unberücksichtigten Teil der menschlichen Natur, wieder in die allgemeine ästhetische Erfahrung ein. Ein Plädoyer für das Unperfekte entsteht, das der Tänzer und Choreograph Raimund Hoghe im Kontext künstlerischer Praxis reflektiert. Er zeichnet in seinem Essay „Den Körper in den Kampf werfen“ die Darstellung von Behinderung auf der Bühne, speziell beim zeitgenössischen Tanz, nach. Hoghe schildert darin den autobiographischen Bezug seiner Bühnenarbeit und entwirft in diesem Zusammenhang ein sehr schönes Bild:
„In meiner Kindheit sah man sehr wenige Behinderte auf der Straße, ob Gehörlose oder Rollstuhlfahrer. Mit welcher Behinderung auch immer, sie wurden einfach weggesperrt, die kamen einfach nicht auf die Straße. Heute werden Behinderte oft gar nicht erst geboren, weil man das Leben eines Behinderten nicht für ein lebenswertes Leben hält. Dagegen wehre ich mich. Ich will, dass verschiedene Körper existieren können auch verletzte und deformierte Körper. Ich sage nicht, dass es toll ist, einen Buckel zu haben, aber ich sage auch, dass ich kein hässliches Entlein bin und nicht als Märchenfigur oder Freak behandelt werden will. Das Meer ist schön und die Berge sind hässlich – das kann man so nicht sagen. Es gibt Berge und es gibt das Meer und man kann nicht sagen: Die Berge sollen alle weg, wir wollen nur noch flaches Land. Und vergleichbar mit den verschiedenen Landschaften sind für mich auch die Körper von Menschen. Der Körper ist wie eine Landschaft und es geht darum, dass man sorgsam mit ihnen umgeht – mit Körpern und Landschaften.“ (Hoghe 2006)
Die vielfältigen Landschaften des Körpers zeigen, um ein Bewusstsein für seine Verletzbarkeit zu schaffen, einen achtsamen Umgang damit einzuüben, das sind die Wirkungen (und vielleicht auch die Aufgaben) zeitgenössischer Repräsentationen von Behinderung auf der Bühne, in Tanz, Theater, Performance und in der Musik. Können sie einen weit reichenden Einfluss auf die Bewusstseinsbildung gegenüber Menschen mit Behinderungen nehmen? Wovon wird es abhängen, dass diese Bewusstheit für den verletzlichen Körper entsteht und ein achtsamer Umgang mit dem eigenen und fremden Körper des Menschen von da aus seinen Lauf nimmt?
In dieser Hinsicht lassen sich keine kausalen Wirkfaktoren isolieren. Ebenso wird es nur um den Preis der Isolierung der ästhetischen Erfahrung aus dem Aufführungskontext möglich sein, die Einflüsse empirisch experimentell zu messen. Dennoch zeigen sich Spuren einer anderen Form der Repräsentation, die viel mit einer möglichen Form der Selbstermächtigung, wie sie von Raimund Hoghe ins Spiel gebracht wird, gemein hat. Diese hat Folgen und hinterlässt Eindrücke bei den Zuschauenden vor der Bühne.
Was sich im Spiel, auf der Bühne, in der Performance, im Erleben visueller Eindrücke zeigt, das lässt sich auch als eine gleichsam experimentelle Situation eines möglichen Anders-Seins verstehen: Im vielgestaltigen Feld der Kunst eröffnet sich ein Spiel-Raum, ein Spiel mit den Optionen und den vielfältigen Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu erfahrbaren, bietet sich auf der Bühne und wird sinnlich erfahrbar. Die Bühne, so schreiben Benjamin Schmidt und Gesa Ziemer im Kontext ihres Forschungsprojekts Verletzbare Orte. Zur Ästhetik anderer Körper auf der Bühne, „ist ein Ort der Verletzbarkeit par excellence. Das öffentliche Zur-Schau-Stellen des Körpers beinhaltet die Möglichkeit, die Ambivalenzen körperlicher Inszenierbarkeit zu verschärfen. Der Wechsel vom Alltag auf eine Kunstbühne geht einher mit dem Wechsel von Wahrnehmungsräumen.“ (Schmidt/Ziemer 2004, 14)
Es wäre allerdings naiv anzunehmen, dass sich alleine mit diesen ästhetisch vermittelten Formen des Zeigens von anderen Möglichkeiten sich zu bewegen (und mit anderen Körpern ausgestattet zu sein) in einer Performance, bei einem Bühnenstück, in einem Film, auf einem Foto, bereits eine festgefügte Einstellung beim Zuschauenden ändern ließe.
„Die Wahrnehmung eines anderen Körpers kann nicht dazu führen, dass man den Anderen versteht, dass man nachvollziehen kann, wie er sich fühlt, oder dass man sich gar emphatisch [sic!] in ihn hineinversetzen kann. Solche Versuche münden schnell in der Sackgasse des Mitleids. Mitleid manifestiert eine Hierarchie, es stabilisiert eine klare Trennung von Subjekt und Objekt und ordnet diese auf einer Werteskala an.“ (Schmidt/Ziemer 2004, 37) Dieses falsch verstandene – weil in hierarchische Verhältnisse eingebettete – Mitleid gilt es dabei zu überwinden. So gewarnt stellt sich dennoch die Frage, was also wirkt, und was den Blick verändert? Vielleicht wäre es dennoch möglich, genauer in den Blick zu nehmen, wie die Wahrnehmung eines anderen Körpers – jenseits von Hierarchien – zu einer kinästhetischen Einfühlung führen kann, um damit Wahrnehmungsprozesse und Körperbilder zu verändern (vgl. Quinten Einstellung in Bewegung… in dieser Ausgabe).

3. Kunst als Erfahrung

Kausale Wirkungsketten, direkt berechenbare oder unmittelbar ableitbare Vorher-Nachher-Effekte sind in diesem Fall möglich, aber unwahrscheinlich. Gleichwohl bestehen durchaus Formen, in denen sich bei den Zuschauenden eine Zu- oder besser: Einlassungsbereitschaft verändert, das Zulassen von alternativen Denk-Räumen und ein Sich-Einlassen darin, eine Herausforderung verschiedener Möglichkeitsformen und das Annehmen von Optionen erscheint im Bereich des Erdenklichen. Die umgestaltete Zulassungsfähigkeit von festgefahrenen Routinen fordert auf alle Fälle dazu auf, über die gemachten sinnlich-ästhetischen Erfahrungen, die eigene Position des Zur-Welt-Seins zu reflektieren und das Menschenbild zu vergegenwärtigen: Wo befinde ich mich im vielfältigen Möglichkeitsraum der Körperformen? Stehen die gemachten Erfahrungen in Gegensatz zu meinen Wahrnehmungsroutinen? Überraschen mich die gemachten ästhetischen Erfahrungen, oder lösen sie Angst und Befremden aus? Sehe ich Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten im gezeigten Anderen? Lasse ich mich auf eine neue Erfahrung ein?
Im Auftauchen und vor allem im Zulassen von diesen elementaren Fragen sowie dem darin enthaltenen Angebot zur Selbstreflexion, liegt das weit reichende Potenzial von Kunst als Erfahrung (vor allem im Kontext von Behinderung). John Dewey (1988) beschreibt in seiner kunsttheoretischen Schrift „Kunst als Erfahrung“ die Zusammenhänge von Kunst, Ästhetik und Erfahrung. In dieser Schrift lotet Dewey den für ihn zentralen Begriff der Erfahrung aus einer Perspektive von Kunst und Ästhetik aus. In seinen erkenntnistheoretischen und philosophischen Schriften spielt der Erfahrungsbegriff immer wieder eine zentrale Rolle, wobei der verwendete Begriff „experience“ im Deutschen nur unzureichend mit Erfahrung wiedergeben ist. Was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass in der deutschen Sprache Erfahrung – zumindest in seiner gewöhnlichen und alltagssprachlichen Verwendung – größtenteils passiv konnotiert ist: Erfahrung meint bei uns in erster Linie, dass uns etwas zustößt, dass uns etwas beeindruckt oder dass wir einem äußeren Einfluss unterliegen (vgl. Neubert 1998, 70). „Im Gegensatz dazu verweist Deweys pragmatistischer ‚experience‘-Begriff auf die Handlung als primären Bezugspunkt; er versteht die Handlung als die Einheit des ‚experience‘, und zwar die Handlung in ihrer vollen Entwicklung als eine Verbindung zwischen Tun ‚doing‘ und Erleiden ‚undergoing‘. ‚Experience‘ umfaßt daher bei Dewey grundlegend und immer sowohl aktive als auch passive Bedeutungsanteile.“ (Neubert 1998, 71).
Steffen Neubert umschreibt Deweys ‚experience‘-Begriff als das Gesamt des Weltbezugs des Menschen, wenn dabei die, sich in den Interaktionen von Organismus und Umwelt vollziehenden, Wechselwirkungen als primäre Dimension von Erfahrungswirklichkeit im Auge gehalten werden. Aus diesem Grund wird die Bedeutsamkeit einer Klärung ersichtlich, inwiefern sich diese Erfahrungswirklichkeit verändern lässt und die Interaktionen eine Richtung vorgeben können. Im Medium von Kunst und Kultur lässt sich an diese primären Dimensionen der Erfahrungswirklichkeit anknüpfen. Allerdings unter einer wichtigen Voraussetzung: Theorien der Kunst müssen, so sagt Dewey, wieder anschließen an eine Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen (Dewey 1988, 18).
Die Kraft der Kunst liegt im Evozieren von Gefühlen. Dadurch kann Kunst Einsichten in und Reflexionen über gesellschaftliche Verhältnisse ebenso ermöglichen, wie Zugänge in eine geteilte menschliche Gemeinschaft eröffnen. Vermittelt wird dies über Erfahrungen. „In dem Maße, in dem Erfahrung eine Erfahrung ist, bedeutet sie erhöhte Vitalität. Statt einen Zustand anzuzeigen, in den man mit den eigenen Gefühlen und Empfindungen eingeschlossen ist, bedeutet sie den aktiven und aufgeweckten Umgang mit der Welt. […] Weil Erfahrung jene Erfüllung bedeutet, zu der ein Organismus in einer Welt der Dinge in seinen Kämpfen und Errungenschaften gelangt, ist sie die Keimzelle der Kunst.“ (Dewey 1988, 27)
Es verändern sich dadurch die Maßstäbe der gemeinsam geteilten Erfahrung, der Referenzrahmen verschiebt sich in Richtung der vielfältigen Ausdrucksformen von menschlicher Existenz und biographischer Erfahrungen. Aber es bleiben letztlich die eigenen Positionen, von denen Erfahrungen und ein neues Licht gesetzt werden; die ästhetische Erfahrung wirkt wie eine Spiegelung der üblicherweise verborgenen Ansichten auf die Welt. Aber im Spiegelbild ändern sich die Seitenverhältnisse. Ich sehe keine exakte Kopie, ich sehe Blick-und Spiegelverhältnisse (vgl. Sauter 2009).
In diesem Sinne bleibt eine wesentliche Ambivalenz bestehen, die darin ihren Ausdruck findet, dass die ästhetischen Erfahrungen, die sich im Medium von Kunst machen lassen, keine lenkbare Richtung haben. Sie lassen sich letztlich nicht didaktisch planen und als vorhersagbares Ergebnis eines Lernprozesses in begrenzbarer Zeit überprüfen. Eigensinn und Eigenzeit stören damit die, üblicherweise in der Evaluation formaler Lernprozesse objektivierbaren, Kriterien eines erfolgreichen Lernens. Somit bleibt es letztlich ein offenes Feld, das dennoch Lernmöglichkeiten und das Potenzial einer Perspektivenveränderung eröffnet. Darüber soll nun aus dem Projektzusammenhang exemplarisch berichtet werden.

4. Erfahrungen aus dem Workshop mit Niko von Glasow

Für den Bereich der Visual Arts im Projektzusammenhang Arts & Abilities war es ein Ziel, in einem vorbereitenden Seminar zunächst die gegenwärtige und historische Bildproduktion im Kontext von Behinderung kritisch zu überprüfen. Die Studierenden sollten lernen, eine kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln, um bewerten zu können, was eine Performance oder ein Film zu einem aufschlussreichen Lernfeld bezüglich Bildproduktion sowie Präsentation von Behinderung macht. In dieser Absicht wurden begründbare Argumentationslinien und Begründungslinien vermittelt, die differenzierter über eine ästhetische Erfahrung Aussagen machen können als das übliche „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“. Dennoch wurde mit der Subjektivität gearbeitet, denn gesucht wurden in der Reflexion der angeschauten Stücke vor allem die irritierenden Momente, die Bruchstellen, an denen ein Prozess der inneren Ablehnung seinen Ausgangspunkt markierte oder es möglicherweise nicht schwer fiel, dem Weg in andere Repräsentationsweisen von Behinderung in der künstlerischen Produktion zu folgen.
Kontrovers diskutierte und innovative Produktionen und Performances wurden dabei exemplarisch auf ihre Präsentationen und Repräsentationen von Behinderung untersucht, so standen drei verschiedene Stücke zur kritischen Betrachtung an: Jérôme Bels „Disabled Theater“, Christoph Schlingensiefs „Freakstars 3000“ sowie den Film-„Klassiker“ von Tod Browning „Freaks“ aus dem Jahre 1932. Dabei war es wesentlich, sich auf neue Seh-Weisen einzulassen und die mit einer veränderten Wahrnehmung gemachten ästhetischen Erfahrungen zu reflektieren und außerdem die gängige Rezeption kritisch zu sichten.
Da es ein wichtiges Anliegen im Projektzusammenhang war, dass die Studierenden unmittelbare ästhetische Erfahrungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit (behinderten) Künstlern machen, hatte ich den Regisseur und Fotokünstler Niko von Glasow zu einem Workshop im Kontext des Projekts Arts & Abilities eingeladen. Bekannt waren mir bislang die Filme von ihm aus der Trilogie, die das Thema Behinderung aufgreifen (NoBody´s Perfect, Alles wird gut, Mein Weg nach Olympia). Der direkte, ironische und teilweise provokative Zugang zum Thema Behinderung hatte mir darin gut gefallen. Als ich dann auch die Fotoarbeiten von Niko von Glasow (www.nikovonglasow.com) entdeckte, war es mein Wunsch, ihn als kooperierenden Künstler für das Projekt zu gewinnen. Dank einer Finanzierung durch das Kultur-Team der TU Dortmund war der Weg frei und der Künstler konnte eingeladen werden. Im März 2014 war Niko von Glasow in Dortmund und 25 Studierende, die Hälfte davon kam aus dem Projektzusammenhang Arts & Abilities, hatten im Workshop „Nobody is perfect – Die Ästhetik der Unvollkommenheit“ die Gelegenheit, mit dem Künstler zu arbeiten.
Im Workshop wurden die Wünsche der Teilnehmenden nach Perfektion und die Ängste vor der Unvollkommenheit thematisiert. In der intensiven Auseinandersetzung mit den persönlichen Ängsten und Wünschen wurde versucht, mögliche Wege auszuloten, diese Ängste in Dynamik zu transformieren, und Barrieren zwischen Wünschen und deren Erfüllung zu überwinden. Geplant waren als Ergebnis des Workshops Portrait-Fotos, die ausdrucksstark und beispielhaft, vor allem aber ästhetisch ansprechend, diese Ängste visualisieren, aber auch Würde, Individualität und Schönheit ausstrahlen. Angst, so machte Niko von Glasow im Workshop deutlich, ist eine Behinderung und alle Menschen haben Angst. Den Workshop gestaltete er weniger als Fotograf, sondern im Prozess vielmehr als Regisseur, der eine genaue Vorstellung davon hat, wie er eine bestimmte Szene arrangiert, um Wirkung zu erzielen und damit dramaturgische Effekte erreichen kann. Einige Studierende waren von der direkten Art der Anweisungen irritiert, einige fühlten sich auch der unmittelbaren Konfrontation mit den gruppendynamisch äußerst anstrengenden Situationen im Arbeitsprozess nicht gewachsen. Ängste sind ein sehr persönliches sowie heikles Thema und da die Mitarbeit im Workshop definitiv auf freiwilliger Basis beruhte, also eine hohe Einlassungsbereitschaft voraussetzte, verabschiedeten sich einzelne Teilnehmerinnen aus dem Workshop. Dennoch gelang es mit der verbleibenden und engagierten Gruppe, innerhalb von nur drei Tagen insgesamt 13 ästhetisch ansprechende Fotos zu machen, die im Großformat gedruckt wurden. Am 13. März 2014 wurden die Fotos in einer Ausstellung im IBZ der TU Dortmund präsentiert.

Ausstellung Nobody is perfect - Die Ästhetik der Unvollkommenheit, Foto: Sven Sauter
In einem Reflexionsbericht zum Projekt, der explizit die Aufgabenstellung umfasste, die eigenen Wahrnehmungsveränderungen im Verlauf der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Künstler und dem Prozess der Kunstproduktion zu beobachten und kritisch zu reflektieren, stellte eine Studentin, Tamara Langhans[1], fest, wie sich ihr Blick veränderte. Sie nahm, angeregt durch den Workshop mit dem Künstler anders und mehr wahr, ihre Beobachtungen wurden sensibler. „Kunst“, so berichtet sie, „erschien mir noch vor einem Jahr […] etwas Fassbares zu sein, dass nicht sichtbar sein muss, aber mit den Augen oder Ohren wahrnehmbar und daher real. Dabei habe ich zwischen klaren Linien oder Abstraktionen nicht unterschieden, sondern die Wirkungsweise des Werkes bestimmen lassen. Besonders der Workshop von Niko von Glasow hat diese pragmatische Auffassung korrigiert. Die Tage mit ihm haben meine Wahrnehmung von Kunst als auch auf das Thema Behinderung verändert.“ (Projektbericht TL 2014, S. 7)
Sie spricht im Projektbericht von sinnlichen Erfahrungen und einer dadurch entstandenen „intensiveren Wahrnehmungsfähigkeit“ auf sich und auch auf das Thema Kunst und Behinderung. Tamara Langhans hat sich am dritten Tag des Workshops fotografieren lassen. Sie schreibt diesbezüglich: „Die Konfrontation mit mir, mit ihm als Fotografen und seiner Inszenierung, dabei die Kamera, der Dialog und das Spüren meiner innerlichen Behinderung erweisen sich im Nachhinein als eine wichtige Erfahrung.“(Projektbericht TL 2014, S. 8)
Wobei sich diese erweiterte Selbstreflexivität noch weiter ausdehnt und auch den Moment des Zeigens der entstandenen Kunstwerke umfasst, also noch eine weitere Reflexionsstufe enthält: „Das Bild, was anschließend bei der Ausstellung zu sehen war, konfrontierte mich erneut mit der Irritation, doch diesmal bezogen auf das Thema ‚Kunst‘. Was ich auf dem Bild sah, empfand ich nicht als schön, eher im Gegenteil und im ersten Moment war ich enttäuscht. Doch auf den zweiten Blick nahm ich Abstand von meiner Person auf dem Bild und betrachtete es von innen. Und da spürte ich das erste Mal, dass Kunst nicht sichtbar, oder real sein muss und keine präzise Funktion erfüllt, sondern lediglich ein kreativer Prozess ist.“ (ebd.)
Es ist dieses kreative Moment, das etwas Neues zu schaffen vermag, eine neue Perspektive auf sich selbst und das eigene „Bild“, das also, was von einem gezeigt wird, wenn wir mit anderen in Kontakt treten. Dadurch entsteht diese, der Selbstreflexion zuneigende, Fähigkeit des Abstand-Nehmens von sich selbst. Das Spiegeln im Anderen, im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Künstler hat außerdem noch eine weitere Dimension. Sie lässt sich rekonstruieren in einem anderen Projektbericht. Nora Reich schreibt: „Ein Ereignis aus dem Workshop mit Niko von Glasow brachte mich zum Nachdenken. Bei einem Spaziergang mit ihm sind mir die Blicke anderer Menschen aufgefallen, wohingegen mir die Behinderung von Niko nicht mehr bewusst war.“ (Projektbericht NR 2014, S. 3)
Im Umgang mit Differenz fallen der Studentin nun die Blicke der Anderen auf, die sie außerhalb des Workshops und des Zusammenhangs der dabei gemachten, ästhetischen Erfahrungen vielleicht nicht wahrgenommen, oder aber auch indifferent hingenommen hätte. Nun allerdings verschiebt sich der Blick: Nora Reich sieht einen Zusammenhang mit der Präsentation von Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit und der in diesem Zusammenhang meist zu beobachtenden Reduktion zu Opfern ihrer Behinderung. „An diesem Punkt ist es wichtig zu beachten, dass das Bewusstsein immer wieder hergestellt werden muss und in diesem Zusammenhang spielt für mich die Bildwürde eine Rolle.“( Projektbericht NR 2014, S. 3)
Mit dem Konzept der Bildwürde spricht Nora Reich einen wichtigen Bezugspunkt aus der, das Projekt Arts & Abilities begleitenden, Seminarveranstaltung an. Untersucht wurden im Verlauf des Seminars unterschiedliche Darstellungsweisen von verkörperter Differenz hinsichtlich der impliziten Menschenbilder. Spielt die Darstellung auf Mitleid an, stellt sie das Besondere heraus oder kann sich das Allgemeine im Besonderen darstellen? Exemplarisch wurden gegenwärtige Repräsentationen von Menschen mit Behinderungen daraufhin untersucht und das Unterscheidungsvermögen eingeübt.
Bildwürde ist eine reflektierte Darstellungsweise des Menschen im Rahmen einer Ästhetik der Existenz, wie es Christian Mürner im Hinblick auf das Zeigen behinderter Menschen auf den Punkt bringt. Es zeigt sich dabei allerdings ein ambivalenter Sachverhalt: Die Differenz des anderen Körpers spielt immer wieder mit in die Präsentation. Zwischen Zeigen und Verbergen ist die Darstellung, das machen vor allem kunsthistorische Analysen deutlich, in aller Regel gefangen. Diese Ambivalenz muss jedoch kein Nachteil sein, denn, wie Mürner schreibt, liegt in den Ambivalenz-Analysen die Chance der kreativen Sensibilisierung komplexer Sachverhalte (vgl. Mürner 2013, 176).
Was sich also in der Fokussierung auf die Bildwürde herausstellt, ist in der Reflexion von Nora Reich, die gewonnene Einsicht, dass es keinen naiven und unschuldigen Blick gibt. Der Blick ist immer eingelassen in biographische Erfahrungen und gesellschaftliche Verhältnisse, die er letztlich offenlegt. Wie lassen sich diese Erfahrungen und Verhältnisse freilegen und betrachten?

5. Zeigen als Selbstermächtigung

Es geht hier wieder um das Zeigen: Aber es ist ein reflektiertes Zeigen, so wie es Niko von Glasow in seiner filmischen Trilogie zum Thema Behinderung (Nobody´s Perfect, Alles wird gut, Mein Weg nach Olympia, aber vor allem in der Dokumentation Schau mich an) und auch im Fotoworkshop als dramaturgisches Prinzip einsetzt. Im Zentrum steht eine Differenzerfahrung, die eine ästhetische Erfahrung auslöst. Als Künstler setzte er diese produktiv, provokativ und bewusst ein. Niko von Glasow schreibt dazu: „Ich bin Filmemacher, der kurze Arme hat, verursacht durch das Medikament Contergan. Wer mich das erste Mal sieht oder trifft, reagiert darauf, wie ich aussehe. Wenn die Menschen auch nichts sagen: Sie starren oder sie schauen weg. Sie zeigen, dass sie sich unsicher fühlen in meiner Gegenwart. Ich kann es ihnen kaum verdenken. Ich fühle mich ja selbst sehr unsicher. Ich habe mich mein Leben lang unwohl gefühlt bei dem Gedanken an meine Behinderung und versucht sie zu ignorieren und mich nicht der Wirklichkeit zu stellen. Vielen Behinderten fällt es schwer, das angeekelte, verwirrte oder mitleidige Starren ihrer Mitmenschen zu ertragen. Die Gesellschaft muss sich an unseren Anblick gewöhnen und davon wegkommen, uns wie Wesen von einem anderen Planeten zu sehen. Natürlich sehen wir anders aus, aber man kann darüber hinausschauen. Ich sehe einen Weg, der dahin führen kann.“ (von Glasow/Dabrowska 2008, 72)
Im zitierten Text von Niko von Glasow fällt auf, dass er diese Ambivalenz, die sich im Thema Behinderung so präsent einschreibt, auch selbst erlebt. Sie scheint nicht hintergehbar zu sein und das Thema Behinderung unaufhebbar zu begleiten. Um auf diesen spezifischen Weg zu gelangen, von dem Niko von Glasow spricht, und der zugleich auch ein Ausweg aus einer gesellschaftlichen Zuweisung von bestimmten Rollen und Möglichkeitsräumen darstellt, braucht es ein selbstbewusstes Zeigen und eine damit einhergehende Selbstreflexivität zum Thema Sehen und Zeigen gleichermaßen. Das Zeigen im Film NoBody´s Perfect ist ein Zeigen von Würde, von Stärke und der Schönheit des Unvollkommenen. Was sich dadurch auf den Weg bringen lässt, sind nicht nur mögliche Gewohnheitseffekte, sondern vielmehr Ermächtigungen, sich selbst anders ins Spiel zu bringen, andere Bilder zu generieren und das Zeigen nicht in den üblichen Oppositionen zu gestalten (normal-anormal, gesund-krank, behindert-nichtbehindert usw.) sondern hierbei wieder die grundsätzliche Verletzlichkeit des Körpers in Erinnerung zu rufen und damit Blick- und Machtverhältnisse zu reflektieren. Der Weg führt daher unausweichlich über Selbsterkenntnis, eine Möglichkeit der Bewusstheit in der ästhetischen Erfahrung und über ein Hinausschauen. Dieses Hinzuschauen bedeutet nicht, dass die Differenz zum Verschwinden gebracht wird. Hinaus umschreibt vielmehr den Blick über die individuellen Unterschiede hinaus zum Horizont als einer gedachten Linie, auf der sich unterschiedliche Möglichkeiten und Formen, ein Leben zu leben, aneinanderfügen. Jenseits des Horizonts verbinden sich diese Unterschiede auf der gedachten, aber möglichen Linie der Gemeinsamkeit menschlicher Formen und Ausdrucksfähigkeiten.
Für eine andere „Politik des Blicks“ (Schmidt/Ziemer 2004, 14) spielt diese andere Repräsentation von Menschen mit anderen Körpern eine zentrale Rolle. Die eben angesprochenen Ermächtigungen sind durchaus auch als Selbst-Ermächtigungen zu verstehen. Wenn Niko von Glasow zu den Beweggründen zu seinem Film NoBody´s Perfect schreibt, dass ihn das Anstarren der Nicht-Behinderten bedrückt und er mit dem Film „die Leute dazu bringen wollte, mit dem Starren aufzuhören, dann sollte ich es ihnen ermöglichen, sich sattzustarren und ihnen etwas zum Anstarren geben, was sich lohnte.“ (von Glasow/Dabrowska 2008, 7) zeigt er sich als aktiver Gestalter, der sowohl über die Kraft als auch das Vermögen verfügt, andere Bilder zu schaffen. Vor allem im Dokumentarfilm „Schau mich an!“ (2007) arbeitet Niko von Glasow dieses Thema aus und bestimmt dieses Moment der Selbstermächtigung in dem er selbst darüber verfügt, wer was von ihm zu sehen bekommt, was er von sich zeigt.
Entsprechendes berichtet auch die Künstlerin Ju Gosling im Forschungsprojekt „Verletzbare Orte“ von Schmidt und Ziemer über Kunst und Selbst-Ermächtigung: Sie ist auf die Bühne gegangen, weil sie die Blicke der Anderen kontrollieren wollte. So kann sie entscheiden, was sie zeigt und was sie versteckt. Sie überlässt die Wahrnehmung ihres Körpers nicht den einfach den Passanten, sondern steuert ihren Blick und kann die Sehgewohnheiten damit beeinflussen (vgl. Schmidt/Ziemer 2004, 31).

6. Transformationen des Blicks

Dieses Hinausschauen, das im Zitat von Niko von Glasow eine zentrale Rolle für eine Wahrnehmungsveränderung spielt, ist durchaus rekonstruierbar. Wird – wie in den Beispielen aus den Reflexionsberichten beschrieben – ein kreativer Prozess durch eine ästhetische Erfahrung ausgelöst, so ist es möglich, dass ein Veränderungs-Prozess seinen Lauf nimmt. In seiner Theorie ästhetischer Erfahrung hat John Dewey diesem Potenzial der Kunst besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dewey zeigt auf, dass die Ästhetik nicht von außen in die Erfahrung eindringt, sie ist (oder kann es zumindest sein) in den Erfahrungen selbst enthalten. Für Dewey ist Ästhetik Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung (vgl. Dewey 1988, 59).
Erfahrungen werden ständig gemacht, im Sinne von Interaktionen, sie sind Bestand-Teile des eigentlichen Lebensprozess, denn ohne Erfahrung ist kein Leben möglich. Wie aber fügten sich die Erfahrungen zusammen, so dass ein Lern- und Veränderungsprozess entsteht?
„Oftmals jedoch bleibt die gemachte Erfahrung unvollständig. Man erfährt die Dinge, fügt sie aber nicht zu einer Erfahrung zusammen. Es herrschen Trennung und Auflösung. Was wir beobachten und was wir denken, was wir ersehnen und was wir erlangen, steht nicht miteinander im Einklang.“ (ebd., 47)
Etwas wird nicht zu Ende geführt, meist so sieht es Dewey, aufgrund innerer Lethargie oder äußerer Unterbrechung, oder aber wenn es kein Zusammenfügen von neuen und alten Erfahrungen zu geben scheint. Hier zeigen sich weit reichende und aufschlussreiche Anschlüsse an eine Theoriefigur der Bewusstheit des Blicks. Wann also ist eine Erfahrung als Erfahrung im Sinne Deweys zu bezeichnen?
„Im Gegensatz zu solcher Art von Erfahrung machen wir eine Erfahrung, wenn das Material, das erfahren worden ist, eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft. Dann, und nur dann, ist es in den Gesamtstrom der Erfahrung eingegliedert und darin gleichzeitig von den anderen Erfahrungen abgegrenzt […]. Eine solche Erfahrung bedeutet ein Ganzes, sie besitzt ihre besonderen, kennzeichnenden Eigenschaften und eine innere Eigenständigkeit. Sie ist eine Erfahrung.“ (ebd.,. 47)
Das muss konkret bedeuten, dass der Abschluss eine Vollendung und nicht Abbruch ist, ein Problem findet also seine Lösung, ein Spiel wird bis zum Ende durchgespielt, eine neue Sichtweise entsteht, eine Perspektive verändert sich kohärent, nachvollziehbar und kann schlüssig in die eigene Weltsicht eingefügt werden.
Eine Erfahrung ist dynamisch, was Dewey, wie oft in seinen Schriften, durch die bildhafte Sprache und die Metapher vom Fluss, vom fließenden Leben, veranschaulicht: „Auch in einer Erfahrung gibt es eine fließende Bewegung von etwas weg zu etwas hin.“ (ebd., 47)
Das Neue ist auf dem Weg bereits konturiert, das Alte aber noch in Sicht. Wichtig dabei scheint mir zu sein, dass Erfahrungen emotional und intellektuell sind. Sie wirken in beide Richtungen. Sonst wäre eine kognitive Veränderung über affektive Inhalte kaum möglich. Beweglichkeit, auch im Denken, scheint hierbei eine Voraussetzung zu sein, eine Veränderung qualitativ zu markieren:
„Denken vollzieht sich in Form von Ideenketten, doch die Ideen bilden nur deshalb eine Kette, weil sie weitaus mehr darstellen als das, was die analytische Psychologie als Gedanken bezeichnet. Sie sind praktisch und gefühlsmäßig voneinander unterschiedene Phasen einer zugrundliegenden, immer deutlicher hervortretenden Qualität; sie sind deren dynamische Spielarten; sie sind nicht isoliert und voneinander unabhängig […], sondern subtile Schattierungen eines sich verbreitenden und stärker werdenden Farbtons.“ (Dewey 1988, 49).
Auch Denkerfahrungen, verstanden als Schluss(folgerungen), haben einen ästhetischen Charakter, wichtig ist in diesem Zusammenhang das Element der ästhetischen, sinnlichen Erfahrung, die diese Denkerfahrung initiiert.
„Kunst vereinigt in ihrer Form eben jene Beziehung von aktivem Tun und passivem Erleben, von abgebender und aufgenommener Energie, die eine Erfahrung zur Erfahrung macht.“ (S. 62)
Zusammenfassend lässt sich zu den Wirkungen und Eigenschaften ästhetischer Erfahrungen sagen, dass bei Dewey der affektive Gehalt des Erfahrenen eine große Rolle spielt:
„Wird eine ästhetische Erfahrung in einem Moment zusammengedrängt, so geschieht das nur in dem Sinne, daß ein Höhepunkt vorangegangener, langanhaltender Prozesse in eine übergreifende Bewegung einmündet, die alles Übrige so in ihn hineindrängt, daß alles andere in Vergessenheit gerät. Was eine ästhetische Erfahrung ausmacht, ist die Umwandlung von Widerständen und Spannungen, von an sich zur Zerstreuung verleitender Erregung, in eine Bewegung, die auf einen umfassenden, erfüllenden Abschluß hinzielt.“ (ebd., 70)
Dieses Zitat von Dewey markiert eine Schlüsselstelle für das Verständnis von Kunst, Erkennen und Bewusstseinswandel durch ästhetische Erfahrung, denn dieser erfüllende Abschluss ermöglicht ohne Zweifel auch einen anderen Blick auf den differenten fremden und auch auf den eigenen verletzlichen Körper. Es kann dadurch gelingen, dass eine drängende Frage eine Antwort findet und sich durch eine neue Perspektive ein bislang ungekanntes Feld beobachten lässt.
Wichtig für Dewey ist hierbei wieder der Rhythmus, die Bewegung: Weder zu schnell, noch zu langsam muss dieser Prozess ausgestaltet sein. Wird eine Eigenzeit gefunden, so ist ein Weg zu dem erfüllenden Abschluss möglich. Ohne Überforderung, ohne Umwege und somit individuell mit Sinn erfahrbar. Etwas Neues entsteht (vorausgesetzt, der Prozess hat gelingensförderliche Bedingungen) dabei über die kommunikative Funktion von Kunst. Wichtig zu betonen bleibt in dieser Hinsicht die Bedeutung des Parameters Zeit. Denn: „Erfahrung braucht Zeit, um gemacht zu werden, und sie braucht Ruhe, um von einem Status des Besonderen in einen Status des Allgemeinen hinüber wechseln zu können. Dieser Wechsel findet nicht automatisch statt, sondern bedarf des Ab- und Einsinkens, der Erosion und Transformation. Mit ‚Ruhe‘ ist nicht Stilllegung, sondern das Vorbereiten einer neuen Bewegungsabfolge gemeint.“ (Peskoller 2013, 69). Was Helga Peskoller anmahnt, ist dieses Zeitnehmen und Zeitgeben, damit der Wechsel (auch und vor allem von ästhetischen) Wahrnehmungen auch tatsächlich gelingen kann (vgl. dazu die weitergehende Diskussion der Strukturmerkmale ästhetischer Erfahrungen im Kontext von Behinderung: Quinten et al. 2015)
Am Ende des Projekts – im gegebenen Zeitrahmen von zwei Semestern – zeigten die Studierenden abschließend ihr, im Projektverlauf selbst erarbeitetes, ästhetisches Produkt. Bei diesem handelte es sich bei der Projektgruppe, die die Visual Arts beforschte um Portrait-Fotographien. Sie zeigten verschiedene Menschen mit Diskriminierungserfahrungen (im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Behinderung, Migrationshintergrund, sexuelle Orientierung). Der Titel der Ausstellung „Denkst du schwarz-weiß? Kunst schafft bunte Vielfalt“ war dabei durchaus programmatisch zu verstehen und verfolgte das Ziel, einen wertschätzenden Blick auf die Stärke und Potenziale eines jeden Individuums zu werfen. Angeregt werden sollte dadurch ein Bewusstseinswandel beim Betrachter. Insgesamt haben 83 Menschen an dem Projekt teilgenommen und es entstanden großformatige und eindrucksvolle schwarz-weiß Portraits, die alle ein gemeinsames und wichtiges Merkmal erfüllen: Bildwürde. Mit Bildwürde benennt Christian Mürner (2013) eine kunsthistorisch bedeutsame Entwicklung. Als ‚bildniswürdig‘ galten noch um 1500 nur wenige Personen und meist waren auf den Bildern geistliche oder weltliche Würdenträger abgebildet. Bildwürde in einen modernen Sinn bedeutet auch und vor allem die dem Menschen inhärente Würde zu achten und darzustellen. Es gilt dabei, eine Person sichtbar zu machen, die viele unterschiedliche Facetten hat und sich nicht auf ein individuelles Merkmal reduzieren lässt.

7. Ausblick

Gezeigt hat sich im Projektverlauf eine erkennbare Art der Widerständigkeit der künstlerischen Projekte und der persönlichen ästhetischen Erfahrungen in Richtung eines gesellschaftlich-politischen Transformationsprozesses. Beim Thema Behinderung liegt es auf der Hand, dass in diesem Zusammenhang das Thema Inklusion fokussiert wird und der Bewusstseinswandel die Leitidee der UN-BRK, nämlich Würde, Selbstbestimmung und Diskriminierungsfreiheit unterstützt. Doch die bislang freigelegten Ambivalenzen lassen sich nicht aussetzen, sie stellen sich einer direkten Transformation des Blicks in den Weg. Bleiben die Überlegungen zu einem transformativen Potenzial der Kunst im Hinblick auf die Wahrnehmung von Behinderung mithin nur Spekulation? Es soll keinesfalls dieser Eindruck entstehen, nur muss das Potenzial der Kunst und der ästhetischen Erfahrungen realistischer eingeschätzt werden. Wenn sich also die direkte Einflussnahme verweigert, was bleibt übrig? Durchaus ein Anschluss an das Politische. Es muss allerdings vielschichtiger und über einen Umweg gedacht werden. Es geht dabei durchaus um ein politisches Anliegen im Zusammenhang von Kunst, Behinderung und Inklusion: „Es reicht in unserem Kontext nicht aus, einfach ein Stück über Diskriminierung und Behinderung zu machen. Das Theater hat seinen Ort als moralische Anstalt längst verloren. Was es aber vielleicht für die Gesellschaft weiterhin leisten kann, ist einen Schauplatz für Wahrnehmungstraining anzubieten. Viel eher geht es darum, das Nicht-Repräsentierbare geschehen zu lassen. Das Politische muss auf der ästhetischen Ebene auch direkt ins Theater kommen. Theater wird dann politisch, wenn nicht die Regel, sondern die Ausnahme gezeigt wird.“ (Schmidt/Ziemer 2004, 41). Es versteht sich, dass Theater hier durchaus als ein Platzhalter für die vielfältigen künstlerischen Formen und Möglichkeiten stehen kann, über die ästhetische Erfahrungen vermittelt werden.

8. Literatur:

Dederich, M. (2013). Zwischen alten Bildern und neuen Perspektiven. Geistige Behinderung als Herausforderung für die Ethik. In: B. Ochsner / A. Grebe (Hg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld: transcript.
Dewey, J. (1988). Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Goodley, D. (2011). Disability Studies. An Interdisciplinary Introduction. London: Sage.
Hoghe, R. (2006). „Den Körper in den Kampf werfen“. Behinderte schockieren auf der Bühne oft mehr als Gewalt. Ein Plädoyer für das Unperfekte. In: Du – Zeitschrift für Kultur, Nr. 3.
Marks, D. (1999). Disability: Controversial Debates and Psychosocial Perspectives. New York: Routledge
Mürner, C. (2013). Die nackte Wahrheit. Bildnisse mit Behinderungen. In: B. Ochsner / A. Grebe (Hg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld: transcript.
Liebau, E. (2014). Wie beginnen? Metatheoretische Perspektiven zur Erforschung Kultureller und Ästhetischer Bildung. In: E. Liebau / B. Jörissen / L. Klepacki (Hrsg.): Forschung zur Kulturellen Bildung. Grundlagenreflexionen und empirische Befunde. München: kopaed.
Neubert, S. (1998). Erkenntnis, Verhalten und Kommunikation. John Deweys Philosophie des ‚experience‘ in interaktionistisch-konstruktivistischer Interpretation. Münster u.a.: Waxmann.
Peskoller, H. (2013). Erfahrung/en. In: J. Bilstein / H. Peskoller (Hrsg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden: Springer VS.
Quinten, S. / Krebber-Steinberger, E. / Sauter, S. / Schwiertz, H. (2015). In jedem Fall dazwischen?! Künstlerische Vermittlungsprozesse im Kontext von Behinderung und Inklusion. In: A. Klinge / N. Eger (Hrsg.). „Im Dazwischen. Künstlerinnen und Künstler vermitteln“. Projektverlag, Verlag für Wissenschaft und Kultur.
Sauter, S. (2009): Von der „Ästhetik des Widerstands“ zur „Ästhetik der Existenz“ – Repräsentationen der Normalität und die Möglichkeiten dieser Normalität nicht entsprechen zu wollen. In: U. Strasser / J. Weisser / M. Wolters Kohler / J. Blickenstorfer: Ästhetisierung der Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
von Glasow N. / Dabrowska, A. (2008). NoBody´s Perfect. München, Sandmann.

[1] Alle Namen wurden verändert