Kristin Langer: Displace Marilyn Monroe – Eine qualitative Studie zu Partizipation und Wahrnehmung im Kontext eines inklusiven Musiktheaterstücks

Abstract: Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in eine qualitative Studie zu subjektiv empfundenen Wahrnehmungen von Beteiligten und Rezipient*innen im Rahmen des inklusiven Musiktheaterstücks Displace Marilyn Monroe. Ausgelotet werden Chancen sowie Risiken in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung, die gemeinsam mit ihren nicht behinderten Kolleg*innen als gleichberechtigte Künstler auf der Bühne agieren. DieseTheaterinszenierung mit Menschen mit und ohne Behinderung versteht sich so als ein „Ort des Sehens“ (vgl. Siebers 2012, 16). Nach einem Einblick in diese Theaterszene liegt der Fokus auf der Darstellung der Partizipation von Menschen mit Behinderung als Künstler*innen und der Deutung des Begriffes Partizipation im Kontext des Theaters. Aus den Erfahrungen des Dortmunder Modells Musik (DOMO: Musik), einem inklusiven Kulturprojekt, ist das Ensemble I CAN BE YOUR TRANSLATOR und mit ihnen das Musiktheaterstück Displace Marilyn Monroe entstanden, die beide vorgestellt werden. Ausgewählte Ergebnisse der Studie machen transparent, welche Erfahrungen in inklusiven kulturellen Projekten zum Ausdruck kommen und wie diese interpretiert werden können. Es wird der zentralen Frage nachgegangen: Konnten durch das Erleben des Musiktheaterstücks Displace Marilyn Monroe Prozesse des Überdenkens in Bezug auf die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in Gang gesetzt werden?

Stichwörter: Teilhabe / Partizipation, Behinderung, Menschen mit Behinderung als Künstler*innen, Wahrnehmungsänderung, inklusive Kulturprojekte, Musiktheater

Inhaltsverzeichnis

  1. Menschen mit Behinderungen als Künstler*innen. Ein Einblick in die Theaterszene
  2. Partizipation. Ein Versuch der begrifflichen Einordnung
  3. Das Musiktheaterstück Displace Marilyn Monroe
  4. Forschungsmethode und Untersuchungsdesign
  5. Partizipation und Irritation. Ein Einblick in die Studienergebnisse
  6. Fazit
  7. Literatur

1.Menschen mit Behinderungen als Künstler*innen. Ein Einblick in die Theaterszene

In den 1980er und 1990er Jahren entstanden die ersten Theaterprojekte mit Menschen mit Behinderungen (vgl. Deuflhard 2014, 39 f.). Die Beliebtheit von Theaterinszenierungen mit ihnen ist seither deutlich gestiegen (vgl. Linzer 2014, 16).
Ein Beispiel für künstlerische Umsetzungen mit Menschen mit Behinderungen ist das Blaumeier Atelier, dessen Anfänge fast dreißig Jahre (1986) zurückliegen. Damals wurde mit dem Bestreben, zu einem nicht therapeutischen Konzept überzugehen, ein Atelier für die künstlerische Betätigung der Klient*innen eröffnet (vgl. Laudenbach 2011, 87). Die „künstlerische Kraft“ der Teilnehmer*innen und nicht das Krankheitsbild werden in den Fokus des Interesses gestellt (vgl. Laudenbach 2011, 86). Seitdem finden Theaterinszenierungen des Blaumeier Ateliers wachsenden Anklang (vgl. Laudenbach 2011, 86.). Auch das Theater Ramba Zamba, gegründet 1991 von Gisela Höhne und Klaus Erforth verfolgt nicht therapeutische Ziele. Es versteht sich als Theaterensemble, in dem die Darsteller*innen durch die Arbeit im Theater eine Erweiterung ihrer Ausbildung erlangen. Im Fokus steht dabei dann das Produkt, die Inszenierung (vgl. Linzer 2014, 17). Hier erfolgt keine Therapie, sondern künstlerische Arbeit (vgl. Linzer 2014, 16 f.). Mit diesen Intentionen arbeitet auch das Theater Thikwa seit 1993 in Berlin und in Hamburg Station 17/ Barner 16 (vgl. Deuflhard 2014, 40) mit dem daraus erwachsenen Ensemble Meine Damen und meine Herren (vgl. Meine Damen und meine Herren, n.d.).
Es finden auch vermehrt Zusammenarbeiten mit bekannten Künstler*innen statt. Ein Beispiel dafür ist die Gruppe HORA aus Zürich mit dem Choreografen Jérôme Bel (vgl. Bugiel 2014, 14). In der Produktion Disabled Theater lässt Bel den Darsteller*innen viel Freiraum, um eine Vermischung von „Kunst und Leben“ herzustellen (vgl. Welgand 2014, 47). Ziel sei dabei, dass sich die Akteure ohne Angst frei auf der Bühne bewegen (vgl. Welgand 2014, 47). Die Intentionen seiner Arbeit beschreibt er wie folgt: „[…] Was mich interessiert hat, war, diese Menschen in unsere Welt der normalen Mehrheitsgesellschaft zu holen, um diese Welt zu erweitern- und nicht, um meine Protagonisten zu ändern. Die Frage ist, wie kann man mit ihnen leben, mit dem was sie sind? Und das habe ich in diesem Stück getan.“ (Bel 2014, zitiert nach Welgand 2014, 47) (siehe dazu auch den Beitrag von Damschen in dieser Ausgabe).
Große Anerkennung seitens des Theaterbetriebs erfuhr die HORA-Akteurin Julia Häusermann durch die Auszeichnung mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis (vgl. Bugiel 2014, 13). Es ist zu beobachten, dass Menschen mit Behinderungen immer besser ausgebildet werden und sich zunehmend zum Beispiel auch in Fernsehrollen behaupten (vgl. Bugiel 2014, 15). Einen Eindruck dieser künstlerischen Vielfalt können Zuschauer*innen innerhalb der mehrtätigen Festivals in Deutschland und der Schweiz erhalten. Spielräume für inklusive kulturelle Darbietungen bieten u.a. das integrative Theaterfestival in Berlin No Limits, Okkupation! in Zürich, Grenzenlos Kultur in Mainz, boulevART in Wismar, ALLES MUSS RAUS! in Kaiserslautern, ansässig in Kirchheimbolanden begegnung in der KUNST und Kultur vom Rande in Reutlingen (vgl. Lebenshilfe gGMBH, Kunst und Kultur, n.d.; Kultur vom Rande, n.d.).

2. Partizipation. Ein Versuch der begrifflichen Einordnung

Ziel der Partizipation ist es, alle Menschen zu beteiligen und ihnen die Möglichkeit zu geben, zu interagieren, einzugreifen und mitzubestimmen (vgl. Seitz 2012, 2). Die Bedeutung des Wortes gewinnt auch in den verschiedenen Künsten stärkere Gewichtung (vgl. Lehmann 2011, 1). Wann von Partizipation gesprochen werden kann, ist jedoch sehr weit zu fassen. Seitz (2011) erklärt Partizipation folgendermaßen. Sie „[…] beginnt bei genauerem Hinsehen bereits bei der Wahrnehmung und steigert sich bis zur körperlichen Aktivität und Handlung […]“. (Seitz 2011, 1). Innerhalb der künstlerischen Arbeit werden verschiedene Punkte als einflussnehmende Faktoren benannt. Demnach stehen Zuschauer*innen und Ensemble-Mitglieder in einer Beziehung zueinander und sind „Gegenstand der künstlerischen Arbeit.“ Lehmann führt an, dass innerhalb der Theater-Aufführungen eine Verbindung zum Politischen, Sozialen und Pädagogischen geschaffen werden könne (Lehmann 2011, 2).
Ein weit verbreitetes Verständnis des partizipativen Theaters sind Produktionen, bei denen Zuschauer*innen mit einbezogen werden. Ein weiterer Aspekt ist die Beteiligung von Menschen mit eigenen Geschichten. Dieser ist gegeben, „wenn ‚reale‘ Menschen statt Schauspielern sich im Kunstraum Bühne manifestieren.“ (Lehmann 2011, 3f.)

3. Das Musiktheaterstück Displace Marilyn Monroe

Ein Musiktheater zeichnet sich durch eine Theaterform aus, welche maßgeblich musikalische Inhalte aufweist (vgl. Balme 2008, 21). I CAN BE YOUR TRANSLATOR hat mit dem Musiktheaterstück Displace Marilyn Monroe ihre erste Produktion auf die Bühne gebracht. Ihr Bestreben ist es, in der Ruhrregion ein professionell ausgerichtetes inklusives Musiktheaterensemble zu etablieren. Erste Ideen zur Umsetzung des Musiktheaterstücks entwickelten sich im Rahmen des Projekts Dortmunder Modell:Musik (DOMO:Musik). Das Projekt DOMO:Musik erfolgte von 2010 bis 2013 unter der Trägerschaft des Lehrstuhls Musik der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der TU Dortmund. (vgl. http://www.fk-reha.musik.tu-dortmund.de/cms/de/DOMO__Musik/index.html).
Unter der Leitung von Prof. Dr. Irmgard Merkt, Claudia Schmidt und Lis Marie Diehl wirkten Menschen mit Behinderungen aus Dortmunder Werkstätten (WfbM) gemeinsam mit semi-professionellen und professionellen Musiker*innen. DOMO: Musik hat in seinem Programm zur musikalischen Förderung sowie kulturellen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen beigetragen und ist dem Bereich der musikalischen inklusiven Bildung von Erwachsenen zugehörig (vgl. Merkt 2014, 60). Beteiligte nahmen an Musikunterricht und Workshops teil. Es sind Ensembles entstanden, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam musizieren. Verschiedene öffentliche Konzerte finden an regulären Kulturorten statt. „Ziel ist ein neuer und nicht therapeutisierender Blick auf Menschen mit Behinderung.“ (Merkt 2014, 60) Durch die Teilnahme an verschiedenen kulturellen Angeboten kann ein Beitrag für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Musikszene erreicht werden (vgl. Merkt 2014, 61).
Die aus DOMO:Musik resultierenden Erfahrungen in heterogenen Gruppen wurden genutzt, um in einer partizipativen Vorgehensweise das Stück Displace Marilyn Monroe zu entwickeln. In der Zusammenarbeit mit der Band Station 17 aus Hamburg und Akteur*innen aus dem Ruhrgebiet ist mit dem Regisseur*innenteam Lis Marie Diehl und Christoph Rodatz die Ensemblegruppe I CAN BE YOUR TRANSLATOR entstanden.
Den Rahmen für das Musiktheaterstück bilden modifizierte und modernisierte Lieder von Marilyn Monroe und der Film „Manche mögen’s heiß“. In der Aufführung beziehen sich die Darsteller*innen auf Filme, die Biographie und den eigenen Zugang zur Person und Schauspielerin Marilyn Monroe. (vgl. www.Icanbeyourtranslator.de). Das Musiktheater-Kollektiv versteht sich als partizipatives Kunst schaffendes Ensemble. Zu primären Zielen gehören das Eintreten in einen partizipativen künstlerischen Prozess und die Schaffung eines gemeinsamen künstlerischen Produkts. Allen Ensemblemitgliedern wurde von Anfang an die Chance gegeben, bei dem Kreieren des Stücks mitzuwirken. Bei der methodischen Konzeption ist deshalb die Betonung der Partizipation aller Beteiligten relevant. Im Gegensatz zu allgemeinen bekannten Arbeitsprozessen im Theaterbereich, bei denen davon ausgegangen wird, dass innerhalb einer hierarchischen Struktur Regisseur*innen ihre künstlerische Idee verwirklichen will und die Schauspieler*innen diese mit einem erlernten Handwerkszeug umsetzen, sind im Arbeitsprozess von Displace Marilyn Monroe flache Hierarchien grundlegend dafür, einen kompetenzorientierten Zugang zur Darstellung zu finden. So erarbeiten die Beteiligten des Theater-Kollektivs über die eigenen Biographien und Erfahrungen sowie Geschichten und Erfahrungen von und mit Marilyn Monroe Szenen und Haltungen (vgl. Antrag Aktion Mensch 2013, 7 f.).
Displace Marilyn Monroe zeigt, dass „offene experimentelle Ansätze“ und eine wenig hierarchische Vorgehensweise innerhalb der inklusiven, ästhetischen Arbeit geeignet sein können, Ziele zu entwickeln und nicht vorzugeben. „Das Werk ist also das Produkt eines gemeinsamen Prozesses, das an die Beteiligten angepasst wird und nicht umgekehrt.“ (Antrag Aktion Mensch, 2013)

4. Forschungsmethode und Untersuchungsdesign

Innerhalb der Auseinandersetzung mit Theaterinszenierungen, bei denen Menschen mit Behinderungen teilhaben, fällt auf, dass die Darstellung dieser immer wieder diskutiert wird (vgl. Bugiel 2014, 14). Diskussionen über sichtbare physische Behinderungen haben eine lange Historie (vgl. Tervooren 2002, 173). Nach Siebers ist Diskriminierung als Reaktion auf sichtbare körperliche Behinderungen wahrscheinlich. Es wird deshalb in den Disability Studies darauf Wert gelegt, „[…] Menschen für Vorurteile gegen alle Behinderten zu sensibilisieren […].“ (Siebers 2012, 16)
Die Disability Studies mit ihrer Auffassung der Veränderungsmöglichkeit von „Normalität“ dienen als wichtige Grundlage der zugrunde liegenden Studie (Müller 2012, 22 f.). Das Interesse der durchgeführten Studie galt der subjektiven Wirkung, die das inklusive Musiktheaterstück Displace Marilyn Monroe bei denen ausgelöst hat, die sich mit dem Stück befasst und es erfahren haben. Im Sinne des kulturellen Modells wird davon ausgegangen, dass Zuschreibungsprozesse von Behinderung veränderbar sein können (vgl. Wildfeuer 2007, 320). Das als normal Geltende steht in Beziehung zum nicht Normalen. „Normalität“ beeinflusst demnach maßgeblich die Wahrnehmung und Einordnung von Behinderung (vgl. Wildfeuer 2007, 320). „Nur in ihrer Wechselbeziehung gewinnen diese Erklärungen an Erklärungswert.“ (Bösl 2009, 31) Durch das Betrachten von heterogenen Gruppen auf der Bühne können Erwartungen und Vorurteile hinterfragt und neu bewertet werden. Aber nicht nur in der Außenperspektive, bei den Rezipient*innen des Stücks, sondern auch bei den Beteiligten innerhalb einer heterogenen Gruppe können sich Veränderungen ergeben. Die subjektiven Wahrnehmungen wurden innerhalb einer umfassenden Befragung erfasst, untersucht und bewertet.
Innerhalb der zugrunde liegenden qualitativen Studie wurden je fünf Zuschauer*innen des Stücks (Außenperspektive) sowie projektinterne Beteiligte des Ensembles I CAN BE YOUR TRANSLATOR (Innenperspektive) in einem qualitativen Interview fokussiert auf das Musiktheaterstück befragt. In der Außenperspektive sind Zuschauer*innen mit und ohne Vorerfahrungen mit inklusiven Kulturveranstaltungen vertreten. Die heterogene Gruppe bildet ein Fundament für Ergebnisse mit differenzierter Betrachtungsweise. Die Beleuchtung der Innen- und Außenperspektive wurde vollzogen, um eine ganzheitliche Betrachtung verschiedener Sichtweisen einzufangen und auf Parallelen und Unterschiede hin untersuchen zu können. Es wurden Leitfaden gestützte Interviews nach Lamnek durchgeführt, welche anschließend transkribiert und abschließend mit einer interviewübergreifenden Kategorienbildung nach Mühlfeld in einem kombinierten Verfahren mit Meuser und Nagel ausgewertet wurden (vgl. Mühlfeld 1981, zitiert nach Mayer 2013, 48 f.).

5. Partizipation und Irritationen. Ein Einblick in die Studienergebnisse

Der im Interview verwendete Leitfaden umfasst zwölf Leitfragen, die sich auf das Musiktheaterstück beziehen. Er wurde so konzipiert, dass die Antworten der Fragen thematisch zu Kategorien zusammengefügt werden können. Hieraus entstanden Kategorien, die u.a. Antworten zu nachhaltigen Erinnerungen, der Zusammenarbeit im Zusammenhang mit Partizipation und der Affekte in Bezug zu irritierenden und freudigen Momenten sowie Wahrnehmungsänderungen einbeziehen. Der folgende Abschnitt zeigt einen Ausschnitt des Auswertungsberichts.
Innerhalb der Entwicklungsphase des Stücks wurde ein besonderes Augenmerk auf das Herunterbrechen hierarchischer Strukturen gelegt. Im Sinne der Partizipation war es ein Anliegen, das Musiktheaterstück mit der gesamten Gruppe zu entwickeln.
Es stellt sich die Frage, ob diese partizipative Schaffensphase bestimmte Wahrnehmungen bei den Rezipient*innen und Darsteller*innen bewirkt. Ist die aktive Beteiligung aller Akteur*innen beim Betrachten des Stücks durch Rezipient*innen bemerkbar?
Bei Betrachtung der Verteilung der Antworten zur „Zusammenarbeit“ ist auffallend, dass neun der zehn Befragten angeben, dass ein Gleichgewicht und somit eine gute Zusammenarbeit gegeben sei. Eine negative Bewertung der Zusammenarbeit wird nicht zum Ausdruck gebracht. Bei den Zuschauer*innen mit Vorerfahrung zeichnet sich die Bewertung einer guten Zusammenarbeit dadurch aus, dass Angaben zu Beobachtungen gemeinschaftlichen Agierens getätigt werden. „Ich fand‘s irgendwie toll zu sehen, dass generell alle irgendwie sehr respektvoll miteinander umgegangen sind [...]“(Interview 1, 2014), beschreibt eine Zuschauerin. Eine andere Rezipientin fasst ihre Beobachtung mit dem Begriff „Inklusion“ zusammen und spricht von der Ausgewogenheit der Eingebundenheit der Akteure aufgrund einer gleichwertigen Aufgabenverteilung innerhalb des Musiktheaterstücks (Interview 2, 2014). Ein Zuschauer, ohne Vorerfahrungen mit inklusiven Darbietungen, bemerkt neben der Aussage zur Einbezogenheit aller Beteiligten sinngemäß, dass gegenüber Akteuren mit Behinderung Assistenz geleistet wurde (Interview 4, 2014). Auch eine leicht intervenierende Hilfestellung gegenüber Menschen mit Behinderungen wird von zwei weiteren Rezipienten beschrieben. (Interview 1 & Interview 4, 2014). Ein Zuschauer erläutert diesbezüglich seine Intentionen zu dieser Hilfeleistung bezogen auf seine Beobachtung eines Akteurs mit Behinderung: „Ich hatte so manchmal das Gefühl, die haben ihn so ein bisschen geleitet. Ja, so einen Weg schon aufgezeigt, wie er einrücken kann in das Stück. Er wurde nicht gezogen, er wurde auch nicht geschoben, aber es gab so kleine, so Hinweise. So Interaktionen […]“.

Die Beobachtungen der Rezipient*innen spiegeln die Arbeitsweise innerhalb der Proben wieder. Die gemeinsame Erarbeitung der Inhalte und der Prozess der Aufteilung der Rollen kommen zur Geltung. Unter anderem erklärt ein Befragter der Ensemblegruppe, es sei ein gemeinsames „Aufteilen“ gewesen. Alle seien darum bemüht gewesen, dafür sensibel zu sein, welche Aktivität am besten zu welcher Person passt (Interview 10, 2014).

In der Gesamtbetrachtung ist eine Transparenz der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit für die Zuschauer*innen zu erkennen. Die von den Ensemble-Mitgliedern durchweg positiv bewertete Vorgehensweise wird bei den Rezipient*innen als rücksichtsvolles, gleichwertiges Agieren beschrieben. Es fällt auf, dass Assistenz von Menschen ohne Behinderung gegenüber Menschen mit Behinderung erfolgt. Diese wird, verglichen mit den Intentionen der Disability Studies, als wenig bevormundend beschrieben.

Es stellt sich weiter die Frage, ob sich durch die Zusammenarbeit von Darsteller*innen mit und ohne Behinderungen Veränderungen im Umgang miteinander ergeben? Können bei den Zuschauer*innen Veränderungen innerhalb der Wahrnehmungen der Menschen mit Behinderungen verzeichnet werden?
Die Begegnungen, die beobachtend (vom Publikum ausgehend) oder aktiv (von dem Ensemble ausgehend) erfahren werden, bewirken positive und irritierende Gefühle. Erstaunen über die erbrachten Leistungen sowie Freude an der künstlerischen Qualität des Stücks werden genannt, aber auch Irritationen bezüglich der Erwartungen von Fähigkeiten der Schauspieler mit Behinderung und der Diskrepanz zu tatsächlichen künstlerischen Darbietungen. Die Zusammenarbeit mit und das Erleben von Menschen mit Behinderung sensibilisiert für die Wahrnehmung von Behinderung. Es zeigt sich, dass Zuschauer*innen und Beteiligte feststellen, dass sie die Darsteller*innen mit Einschränkungen unterschätzt haben. So wurde insbesondere in der Außenperspektive von einem Darsteller mit Behinderung von allen befragten Zuschauer*innen und den Ensemblemitgliedern gesprochen und beschrieben, dass sie ihn in seinen Fähigkeiten unterschätzt hatten. Es wird deutlich, dass die Fähigkeiten der Ensemble-Mitglieder bemerkt und wertgeschätzt werden. Eine Rezipientin mit Vorerfahrung berichtet von einer Veränderung ihrer Wahrnehmung, während sie beschreibt, dass eine Darstellerin im Rollstuhl aufgrund ihrer kraftvollen Stimme und Ausstrahlung Faszination auslöste, sodass der Rollstuhl zeitweise außerhalb des Blickfelds geriet. Auch einer anderen Zuschauerin fällt im Positiven die besonders ruhige, tiefe Stimme eines Darstellers mit Behinderung auf (Interview 2, 2014). Zu erkennen ist, dass bei diesen Aussagen die musikalischen Fähigkeiten der Akteur*innen und nicht die Behinderung im Vordergrund stehen.
Die beiden Befragten ohne Vorerfahrungen fokussieren hingegen das Gefühlsleben der Menschen mit Behinderungen. Ein Hineinfühlen und Mitfühlen scheint zu entstehen. Von Freude der Darsteller*innen, die sich auf das Publikum übertrug, wird gesprochen. Eine weitere Zuschauerin berichtet von einer Akteurin mit Behinderung, die sie zum Nachdenken angeregt habe. Sie beschreibt eine prägnante Liebesszene, in der die Darstellerin in das Mikrophon spricht: „[…] weil ich gerne geliebt werden möchte […].“ Sie erläutert, dass sie diese Aussage sehr eindrücklich empfand und beschreibt dann ihre Gedankengänge. Sie habe realisiert, dass Menschen mit Behinderungen auch Bedürfnisse haben (Interview 5, 2014). Ein Erkenntnisgewinn ist bei dieser Aussage zu verzeichnen. Es ist möglich, dass die Zuschauerin Parallelen erkennt und ein Vorgang der Identifikation stattfand. Weiterhin ist es möglich, dass die Rezipientin ihr Bild von Normalität überdenkt und die neuen Erkenntnisse in die Betrachtung und Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung einbezieht. Die Szene der Liebeserklärung tritt auch bei zwei Beteiligten des Ensembles in den Vordergrund. Dass diese so „kompromisslos war“ wird von zwei Beteiligten beschrieben. Ein weiteres Mitglied benennt, dass diese Liebeserklärung der Darstellerin mit einer unglaublichen Intensität dargestellt wurde und emotional tiefgreifend gewesen sei, sodass sich ihre authentische emotionale Ergriffenheit auf die Rezipient*innen übertrug (Interview 9 & Interview 6, 2014).
Eine Beteiligte führt an, dass sie irritiert sei, dass Zuschauer*innen häufig über die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderungen maßgeblich überrascht seien und dem Inhalt der Darbietungen wenig Aufmerksamkeit schenken. Innerhalb des Gesprächs erläutert sie, sie glaube es könnte daran liegen, dass Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen für viele Menschen nicht alltäglich seien. Für sie sei der Umgang normal und sie wisse um die Fähigkeiten der Künsterler*innen mit Behinderungen. Sie beschreibt auch, dass Zuschauer*innen nach mehrmaligen Besuchen eine differenzierte Betrachtungsweise gegenüber den Inhalten beschrieben (Interview 10, 2014).

6. Fazit

Der Besuch von Displace Marilyn Monroe ist zum einen an das Interesse des Erlebens eines inklusiven Projekts der Zuschauer*innen mit einer heterogenen Gruppe im professionellen Rahmen gekoppelt, zum anderen liegen auch Vorbehalte und Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderung vor. Der Effekt von Gedankenprozessen ist bei Ensemblemitgliedern und Zuschauer*innen zu verzeichnen. Es erfolgt ein ständiger Einordnungsprozess der physischen Wahrnehmung der Akteuer*innen und ihrer Handlungen. Nach dem kulturellen Modell von Behinderung kann es zu einer Veränderung des Verständnisses von „Normalität“ und Abweichung dessen kommen (vgl. Wildfeuer 2007, 320).
Bei den Zuschauer*innen ist zu erkennen, dass sie sich in Darsteller*innen und inhaltliche Geschichten hineinversetzen können und Parallelen zum eigenen Leben erkennen. Reale Geschichten der Schauspieler*innen scheinen im besonderen Maße Identifikationsprozesse anzustoßen. Allgemein ist auch zu erkennen, dass Irritationen stets Erkenntnisse nach sich ziehen und somit als wichtige, nicht zu unterdrückende Gefühlsreaktionen einzuordnen sind.
Inklusion ist ein gesellschaftlicher Prozess (vgl. Wocken 2010, 221). Dieser benötigt reflektierte Auseinandersetzungen und die Offenheit verschiedener Menschen (vgl. Dannenbeck 2011). Das Musiktheaterstück bildet einen Rahmen, der es ermöglicht durch gemeinschaftliches partizipatives Agieren, das in der Aufführung für das Publikum erfahrbar werden kann, Aspekte von Inklusion zu erleben. Das Wissen darüber, durch welche Methoden und Handlungen der Prozess zu einer inklusiven Gesellschaft weiter begünstigt werden kann, kann unter anderem durch Erfahrungswerte und somit der Weiterführung von Projekten vielfältiger Beteiligter geschaffen werden und Inklusion

„[…] wird vielleicht auch irgendwann nicht mehr so hervorzuheben sein. Und inklusives Musiktheater ist dann Theater oder ist Konzert von Leuten, die spielen wollen und fertig. Und ob jemand dann im Rollstuhl auf die Bühne kommt oder blind Musik macht, ist […] dann egal […].“ (Interview 3, 2014)

8. Literaturverzeichnis

Antrag Aktion Mensch unveröffentlicht (2013). Marilyn Monroe - ein inklusives Projekt. Antragsteller: InTakt e.V. Eingereicht von: I. Merkt Dortmund.
Balme, C. (2008). Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt Verlag.
Bösl, E. (2009). Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript.
Bugiel, M. (2014). Stichwort: Auftreten und leuchten. Theater und Behinderung - eine Spurensuche zwischen Integration und künstlerischer Autonomie. Theater der Zeit H. 4, S. 12-15.
Dannenbeck, C. (2011).Theater mit dem Museum- Inklusion und kulturelle Teilhabe [Online]. URL: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/79/79. [24.08.14].
Deuflhard, A (2014). Stichwort: Freaks like us.Die Deutsche Bühne. Schauspiel Tanz Musiktheater. Inklusion. Ein Theaterthema.3, S. 39- 41.
I can be your translator (n. d.). Über uns[Online]. URL:http://www.icanbeyourtranslator.de/p/?page_id=9 [05.10.14].
Kultur vom Rand. [Online]. Verfügbar unter: http://kultur-vom-rande.de/2014/ [10.01.15].
Laudenbach, P. (2011). Stichwort: Schwerpunkt Heimliche Helden. Jeder Mensch ist ein Künstler.brand ein Wirtschaftsmagazin. 8, S. 84-89 [Online]. URL: http://www.brandeins.de/uploads/tx_b4/084_b1_08_11_blaumeier_atelier.pdf [25.09.14].
Lebenshilfe gGmbH (n.d.). Archiv Projekte [Online]. URL: http://lebenshilfe-kunst-und-kultur.de/archiv_projekte.php [10.01.15].
Lehmann, H. T. (2011). Get down and party.together. Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern.Köln: Kölnischer Kunstverein [Online]. URL: http://www.heimspiel2011.de/assets/media/dokumentation/pdf/HSP-Doku_D_Lehmann.pdf [19.09.14].
Linzer, M. (2014). Stichwort: Inklusion - was´n ditte? Theater der Zeit, 4, S. 16- 17.
Mayer, H.O. (2013).Interview und schriftliche Befragung: Entwicklung, Durchführung und Auswertung. München: Oldenbourg Verlag.
Meine Damen und meine Herren. Anfänge [Online]. URL: http://www.meinedamenundherren.net/theater_mDuH__1A571B561095499ABB19A2697997D1C4.htm [10.01.15].
Merkt, I. (2014). Stichwort Auf dem Weg zur Inklusion. Das Dortmunder Modell:Musik. Kulturpolitische Mitteilung. Projekte. Initiativen. 144, S. 60- 61 [Online].URL: http://www.kupoge.de/kumi/pdf/kumi144/kumi144_60-61.pdf [10.09.14].
Müller, T. (2012). „Was schaut ihr mich an?“. Darstellungen von Menschen mit Behinderung in der zeitgenössischen Dramatik. Berlin: Frank & Timme.
Müller, A. /Schubert, J. (2001). Die Kunst behinderter Menschen im Kontext der etablierten Kultur. Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert. In: Müller, A. / Schubert, J. (Hrsg.). Weltsichten. Beiträge zur Kunst behinderter Menschen. Berlin: Tiamat / Klaus Bittermann. S. 9-11.
Seitz, H. ( 2012). Impulsvortrag: Partizipation. Formen der Beteiligung im zeitgenössischen Theater [Online]. URL: http://www.was-geht-berlin.de/sites/default/files/hanne_seitz_partizipation_2012.pdf .[20.09.14].
Siebers, T. (2012). UN/SICHTBAR. Observation über Behinderung auf der Bühne. In I. Schipper (Hrsg.). Ästhetik versus Authentizität? Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit.
Tervooren, A. (2002). Stichwort: Freak- Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung. In: Behindertenpädagogik, 2, S. 173-184.
TU Dortmund. Fk-reha.musik.tu-dortmund (n. d, ). Projektbeschreibung [Online]. URL: http://www.fk-reha.musik.tu-dortmund.de/cms/de/DOMO__Musik/Projektbeschreibung/index.html[01.09.14]-
UN-BRK (2006). Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 [Online]. URL: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/CRPD_behindertenrechtskonvention/crpd_b_de.pdf [ 23.10.14].
Welgand, F. (2014). Stichwort: Theater nicht Therapie. Jérôme Bel im Gespräch über Soziokultur, Inklusion und seine Arbeit an „Disabled Theater“. Die Deutsche Bühne. Schauspiel Tanz Musiktheater. Inklusion. Ein Theaterthema.3, S. 36- 61.
Wildfeuer, A., G. (2007). „Normalität“ und „Menschenbild“. Überlegungen im Kontext Bestimmung des Begriffs „Behinderung“ [Online]. URL: http://www.perennis.de/public/Publikationen/Dokumente/115.pdf [01.09.14].
Wocken, H. (2010). Inklusion & Integration. Ein Versuch die Integration vor der Abwertung und die Inklusion vor Träumereien zu bewahren. In: I. Niedieck / A. Stein / S. Krach (Hrsg.), Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume und Perspektiven (S. 204- 234). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.