Abstract: Anhand ausgesuchter Zeitungsrezensionen wird die öffentliche Diskussion des Theaterstücks Disabled Theater untersucht. Wie wird die künstlerische Darstellung wiedergegeben? Welche Perspektiven sind dabei zu erkennen? Und daraus resultierend: Was für ein Bild von Behinderung wird in der Diskussion dieser künstlerischen Produktion gezeichnet? Diskutiert wird die Frage, ob das Anliegen von Jérôme Bel, Repräsentationen (von Behinderung) zu problematisieren und zu überbrücken, in der Rezeption aufgegriffen wird.
Stichwörter: Inklusives Theater, Medialer Diskurs, Behinderungsbild, Repräsentation von Behinderung
Inhaltsverzeichnis
„Das Theater darf nicht danach beurteilt werden,
ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt,
sondern danach,
ob es sie zu ändern vermag.“
(Bertold Brecht)
Behinderung und Kunst und Behinderung in Kunst? Wie werden künstlerische Produktionen von Menschen mit Behinderung gesellschaftlich wahrgenommen und diskutiert? Welches Bild von Behinderung wird in diesen gezeichnet? Und welche Repräsentation von Behinderung erfolgt daraufhin in den Medien?
Im Kontext der Inklusionsdebatte ergeben sich bezüglich dieser Fragen neue Beobachtungsschwerpunkte: Werden Werke von Künstler*innen mit Behinderung anders diskutiert? Werden sie gar in einen anderen Rezeptionsmodus gestellt? Wie leistet die Kunst einen Beitrag zur Inklusion? Was lösen künstlerische Produktionen, welche mit dem Thema Behinderung verknüpft sind, bei den Rezipient*innen aus? Werden durch die Kunst neue Denkmuster über Behinderung und Lebenswirklichkeiten mit Behinderung angestoßen und wird so eine inklusivere Gesellschaftsform geschaffen?
Anhand der öffentlichen Diskussion des Theaterstückes Disabled Theater des französischen Choreographen Jérôme Bel soll nach Antworten auf diese Fragen gesucht werden. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive werden exemplarisch ausgewählte Zeitungsartikel von einzelnen Rezensionen der künstlerischen Produktion analysiert. Diese Analyse soll die stattfindende öffentliche Diskussion über künstlerische Produktionen mit Akteur*innen mit Behinderung offenlegen und diese auf ihren inklusiven Wert prüfen. Die Rezensionen werden unter der Prämisse, dass die mediale Aufbereitung – hier im konkreten Fall durch das Printmedium der Zeitung - die öffentlichen Wahrnehmungsmuster von Behinderung maßgeblich prägen und beeinflussen, analysiert.
Kaum eine andere Theaterproduktion, welche um das Themenfeld der Behinderung kreist, hat nach ihrer Erstaufführung im Jahr 2012 für mehr polarisierende Diskussionen unter Theaterbesuchern und in den Kulturfeuilletons gesorgt. Das Disabled Theater spaltet ihre / seine Rezipient*innen in zwei gegensätzliche Hälften: Sehen die einen das Theaterstück als Bloßstellung der Schauspieler*innen mit Behinderung und äußern moralische Bedenken über die „Freakshow, die die Behinderten manipuliert und bloßstellt“ (Dürr, 2014), betrachten die anderen den Theaterbesuch als „eine neue Ebene“ (Klaeui, 2014) der Theaterarbeit mit Menschen mit Behinderung und zählen sich selber „[…] zu den glücklich Beschenkten, die Disabled Theater nicht oft genug sehen können.“ (Muscionico, 2014)
Wie erzeugt der Choreograph und Regisseur solch gegensätzliche Reaktionen? Welche Elemente des Stückes provozierten und irritierten die Zuschauer*innen so sehr? Wie werden diese starken Gefühlsregungen medial aufbereitet? Kann durch eine solche Irritation der Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft bereitet werden?
Elf Stühle stehen zu einem Halbkreis aufgebaut auf einer sonst leeren Bühne, neben jedem Stuhl befindet sich eine gefüllte Wasserflasche. Kein Bühnenbild, keine Kostüme, keine sonstigen optischen Ablenkungen zieren den Auftrittsort. Nacheinander werden die Akteur*innen des Theaterstückes auf die Bühne gerufen und nehmen auf den Stühlen Platz. Das Publikum kann alle Darsteller*innen gut sehen und beobachtet, wie diese den Worten einer am Rand der Bühne sitzenden Moderatorin folgen. Diese richtet in immer gleichen Formulierungen („Dann hat Jérôme Bel gefragt,…“, „Jérôme Bel will….“) verschiedene Aufforderungen an die Darsteller*innen – beispielsweise sich selbst mit Namen, Alter und Beruf vorzustellen oder seine individuelle Behinderung zu nennen. Aufbauend auf dieses Konzept wird das Theaterstück fortgeführt. Jede*r Darsteller*in wird im Verlauf gebeten, ein fünfminütiges Solo zu einem selbst ausgewählten Lied vorzutanzen. Die Auswahl reicht hier von Michael Jacksons They don’t care about us über schnelle Technostücke bis hin zu Abbas Dancing Queen. Das Theaterstück schließt mit einzelnen Reflexionen der Schauspieler*innen, in welchen sie mitteilen, wie sie ihr eigenes Spiel empfanden und die Reaktionen ihres Umfeldes auf ihre schauspielerische Arbeit ausfielen.
Konzipiert und durchgeführt wurde das Stück Disabled Theater von dem französischen Choreographen und Regisseur Jérôme Bel in Zusammenarbeit mit dem Theater Hora, dem „bekanneste[n] professionelle[n] Theater von und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung aus der Schweiz“ (n.d., Index: Theater Hora, 2014). Das Ensemble des 1993 vom Theaterpädagogen Michael Elber gegründeten Theaters setzt sich aus Schauspieler*innen mit verschiedensten geistigen Behinderungen zusammen, welche unter der Zielsetzung „[…] die künstlerische Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu fördern und ihnen auf einem professionellen Niveau zu ermöglichen, ihr außergewöhnliches Können einem breiten Publikum zu zeigen.“ (n.d., Index: Theater Hora, 2014) bis heute über 50 Produktionen realisiert haben. Seit dem Jahr 2009 ist es für Menschen mit einer Behinderung möglich, eine staatlich anerkannte Schauspiel-Ausbildung am Theater Hora zu absolvieren. Die aktuelle Besetzung von Disabled Theater besteht unter anderem aus Julia Häusermann, welche 2013 mit dem renommierten Alfred-Kerr-Nachwuchspreis geehrt wurde. Sowohl national als auch international feiert das Stück große Erfolge, wovon die Teilnahme beim Berliner Theatertreffen im Jahr 2013 sowie Gastauftritte in New York und Südkorea zeugen.
Der 1964 in Montpellier geborene Jérôme Bel gilt als einer der populärsten Vertreter und Choreographen des modernen Konzepttanzes, welcher die Darbietung als solche zum zentralen Gegenstand der Aufführungen macht. Bel studierte von 1984 bis 1985 Tanz am Centre National de Danse Contemporaine in Angers und tanzte in den darauffolgenden Jahren von 1985 bis 1991 für viele namhafte französische und italienische Choreographen. 1992 assistierte er bei der choreographischen Konzeption und Umsetzung der Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Winterspiele in Albertville und Savoie (n.d., RB Jerome Bel, 2014). Er ist mehrfacher Preisträger renommierter Tanzkunstpreise, so wurde er für eines seiner Bühnenstücke im Jahr 2005 mit dem Bessie Award für innovative Leistungen in Tanz und Performance ausgezeichnet. Zu seinen bekanntesten und preisgekrönten Werken gehören unter anderem die Produktion The show must go on aus dem Jahr 2001, innerhalb welcher er 19 Schauspieler*innen keine Rolle auferlegte, sondern sie zu – von einem sich auf der Bühne befindenden DJ – ausgesuchten Liedern tanzen ließ (Witzeling, 2014). Die Produktion gehörte in den Jahren 2000 bis 2005 trotz anfänglich heftiger Kritik zum festen Spielplan des Hamburger Schauspielhauses. Sowohl innerhalb des Publikums als auch unter Theaterkritiker*innen rufen Bels Produktionen stets eine starke Polarisation hervor - Betitelungen wie „Ausnahmekünstler“ (Witzeling, 2014) oder „[…]ein Theater, das blöder tut, als es selbst ist.“ (Dell, 2014) veranschaulichen die gegensätzlichen Meinungen.
Bel bricht in vielen seiner Produktionen mit den klassischen Konventionen des Theaters. So wird eine seiner Produktionen in der Begleitbroschüre mit den Worten „Everything you think dance is – Jérôme Bel is not.“ beworben. Für Tanztheoretiker gilt er gar als der „[…] Begründer eines Diskurses über den Tanz, der die Sprachlichkeit von Körper und Choreografie zum Thema macht.“ (Luzina, 2014) Ein sich wiederholendes Motiv in Bels Werken ist die Repräsentation und Wahrnehmung des Individuums. Der als „[…]sanfte[r], wilde[r] Konzepttanz-Rebell“ (Witzeling, 2014) bezeichnete Regisseur sucht in seinen Werken immerfort nach der Wahrheit, Echtheit und der Überbrückung von Repräsentation. Er strebt an, die geläufige Konvention, welche das Theater als ein als ob widerspiegelt, mit seinen Werken zu durchbrechen und beruft sich auf philosophische Hintergründe von Michel Foucault, Jacques Derrida und Roland Barthes.
Jerome Bel begann seine Zusammenarbeit mit den Darstellern des Züricher Theaters nach einer eigenen bewegenden Erfahrung als Zuschauer. „[…] I wanted to know why I had been so deeply moved, I was crying watching them perform. I couldn’t explain this emotion to myself, so I needed to work with them to try to understand this totally unexpected reaction […].“ (Kourlas, 2014) Nach diesem prägenden persönlichen Erlebnis beschäftigte sich Bel erneut mit dem Themengebiet der Repräsentation. Er reflektierte seine eigene Sozialisation, innerhalb welcher er gelernt hatte, bei sichtbaren Behinderungen wegzusehen und nicht zu hinterfragen, warum Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit kaum vertreten sind. Bel erkannte die Chance, diese bisher fehlende Repräsentation von Menschen mit Behinderung innerhalb des Theaters möglich zu machen und einen Ort zu schaffen, an welchem eine realistische Darstellung von Behinderung erlebt werden kann (ebd.). Die Möglichkeit, eine Theaterproduktion ohne bloße Reproduktion von Einstudiertem, sondern mit echter, gegenwartsbezogener Bühnenpräsenz zu erschaffen, übte einen großen Reiz auf den Choreographen aus. Um dem laut Bel weit entfernten Ziel der Inklusion näher zu kommen, wirkt der Choreograph einer Darstellungentgegen, indem er den Fokus auf die Behinderung legt und so den betroffenen Menschen eine Stimme verleiht (Pawelke, 2014). Bel fasst seine Erlebnisse mit dem Ensemble des Theaters Hora wie folgt zusammen: „Sie bringen uns neue Erfahrungen, weil sie Qualitäten haben, die wir uns nicht mehr erlauben. Sie versuchen nichts zu sein, sie sind. Ihre Lebendigkeit und Freude, die Beziehung zum eigenen Körper und den Anderen ist so grundsätzlich und direkt, dass Intellektuelle nur staunen können.“ (ebd.) Der Choreograph ist sich jedoch auch um die irritierende Wirkung seiner Produktion bewusst: „Ich als Zuschauer identifiziere mich normalerweise mit dem auf der Bühne. Bei Disabled Theater ist die Irritation anfangs am größten, weil der Zuschauer sich nicht identifizieren will. Er möchte sicher nicht behindert sein.“ (ebd.) Bel präsentiert seinem Publikum kein idealisiertes Bild von Behinderung, sondern nutzt seine anfängliche Berührungsangst und die Konfrontation mit dem ungewohnt Anderen zu einem anderen Zweck: Er lässt das Publikum in den Darsteller*innen etwas entdecken, was auch ihnen selbst bekannt ist. „Das berührt und wir stellen fest, dass wir im Leben auch oft behindert sind.“ (ebd.) Um eine solche Wahrnehmungsverschiebung zu erreichen und in den Köpfen des Publikums eine veränderte Repräsentation von Behinderung anzustoßen, ist es nach Bel notwendig, sich selbst der Herausforderung zu stellen, bewusst hinzuschauen und diesem Blick standzuhalten. Hier sieht Bel das Medium des Theaters geeignet: „Was macht man im Theater? Man bezahlt, um zu schauen. Die Essenz des Theaters ist, etwas anderes zu sehen, als sich selbst.“ (ebd.)
Das Disabled Theater erfuhr in den Jahren nach der Erstaufführung 2012 eine große Aufmerksamkeit in den Feuilletons sowohl namhafter überregionaler Zeitungen als auch in den Lokalprintmedien seiner jeweiligen Spielstätte. So erleben Zeitungsleser*innen, welche nicht der unmittelbaren Theatererfahrung der Produktion Jérôme Bels beigewohnt hatten, das Stück aus der Sicht der jeweiligen Journalistin oder des jeweiligen Journalisten.
Im Folgenden soll analysiert werden, inwieweit das Printmedium Zeitung die Repräsentation von Behinderung beeinflusst und so als unmittelbare Folge die Leserschaft in ihrer Wahrnehmung von Behinderung lenken kann. Die Analyse erfolgt unter der Prämisse, dass durch die sprachliche Darstellung im Sinne des Konstruktivismus Wirklichkeit erzeugt wird. Hierzu werden zunächst verwendete sprachliche Mittel untersucht, um dann wiederkehrende Diskussionsschwerpunkte der publizierten Artikel zu nennen und anhand kulturwissenschaftlicher Perspektiven auf Behinderung zu erklären. Daraus ergibt sich ein erster Erklärungsansatz der empfundenen Irritation und Provokation des Disabled Theaters, welcher abschließend zusammenfassend auf seine inklusive Wirkung dargestellt wird. Die 16 untersuchten Artikel stammen sowohl aus überregionalen Tages- und Wochenzeitungen und regionalen Tageszeitungen, zwei der Artikel stammen aus der amerikanischen Presse.
Die untersuchten 16 Artikel, welche alle eine eigene Position zum Disabled Theater beziehen, weisen neben ihren heterogenen Wertungen über die künstlerische Produktion verschiedenste sprachliche Stilmittel auf, welche eine sowohl negativ als auch positiv geprägte Repräsentation von Behinderung stützen. Durch die Sprache werden so bestimmte Bilder von Behinderung gezeichnet und spezifische Verhaltensmuster und Denkweisen eindeutig Menschen mit Behinderung zugeordnet. Wie also wird das Theaterstück Disabled Theater mit dem Ensemble des Theaters Hora in Zeitungspublikationen diskutiert? Welches Menschenbild von Behinderung wird durch die verwendete Sprachwahl transportiert? Welche Themengebiete werden wiederholt diskutiert und angesprochen?
Eine häufig zu findende sprachliche Kategorie betrifft eine pathologisierende Wortwahl. Beschreibungen wie „Es ist kein erbauendes Vergnügen, deformierte Körper über die Bühne zappeln zu sehen.“ (Schumann, 2014), „[….]er ist nicht größer als ein Kleinkind.“ (Dürr, 2014) und „[…] and many of them were barefoot on their stocking feet.“ (Young, 2014) sind Beispiele der klaren medizinisch defizitären Einordnung von Behinderung. Die Ensemblemitglieder des Theaters Hora werden in ihrer Darbietung nicht unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern mit einem Vokabular beschrieben und rezensiert, welches sich in das Wortfeld körperlicher Krankheiten einordnen lässt.
Parallel zu der pathologisierenden Wortwahl lässt sich in vielen Publikationen eine defizitäre und negative Repräsentation von Behinderung finden. Wenn Britta Helmbold (Helmbold, 2014) in den Ruhrnachrichten zwar die Intention Bels darlegt, aber ausführt: „Bel, […], sieht gegen die Verlegenheit gegenüber Behinderten als einziges Mittel die Konfrontation. Mit dieser Arbeit will er sie als Menschen mit eigener Persönlichkeit sichtbar machen“, bedient sie sich einer diskriminierenden und abwertenden Wortwahl. Es wird nicht die geläufige Bezeichnung Menschen mit Behinderung verwendet, sondern die Substantivierung Behinderte des Adjektivs behindert gewählt. Die Schauspieler*innen werden so auf lediglich eines ihrer persönlichen Merkmale, ihre Behinderung, reduziert. Auch der nachgeschobene Satz, Bels Intention sei es, die individuelle Persönlichkeit in den Fokus zu rücken, erscheint als diskriminierender Zusatz, da die Journalistin die Notwendigkeit sieht, zu unterstreichen, dass die Wahrnehmung von individueller Persönlichkeit und Behinderung sich oftmals ausschließen. Es bleibt zu hinterfragen, ob eine solche erklärende Ergänzung auch bei Schauspieler*innen ohne Behinderung beigefügt worden wäre. „Die Behinderten stehen selber im Zentrum“ (Klaeui, 2014), „er führt die Zuschauer an die Behinderten heran“ (Dürr, 2014) und der sich wiederholende Ausdruck „die behinderten Schauspieler“ (Stälzer, 2014) sind weitere Beispiele für eine negativ geprägte Darstellung der Schauspieler*innen des Theaters Hora. Auch wohlwollend gemeinte Formulierungen wie „aber die Darsteller besitzen durchaus Performer-Qualitäten“ (Luzina, 2014) wirken im Kontext einer Rezension eines Theaterstückes diskriminierend und defizitär. Die Gleichsetzung von Behinderung und Defizit wird in Formulierungen wie „Macht Bel die Darsteller hier zu Ausstellungsstücken, deren Defizite das Publikum begafft?“ (Stiftel, 2014) sichtbar. Nicht nur die klare Betonung, dass Behinderung vielmehr mit einem Defizit als mit einem Potential für die Bühnendarbietung gleichzusetzen sei, macht diesen Satz zu einem diskriminierenden, sondern auch die Verwendung des Passivs. Die Schauspieler*innen mit Behinderung werden hier zu einem Gegenstand des Regisseurs und von ihm zu „Ausstellungsstücken“ „[ge]macht“. Eine aktive Betonung, dass sich die schauspielerische Leistung darauf bezieht, sich selber den Blicken des Publikums auszusetzen, fehlt an dieser Stelle.
Eine solch passive Wortwahl, welche die eigene kunstschaffende Leistung aberkennt, findet sich auch in Formulierungen wie „Theaterarbeit mit Behinderten“ (Klaeui, 2014) wieder. Hier wird nicht auf die eigene kreative Leistung von Menschen mit Behinderung verwiesen, sondern auf die bloße Beteiligung innerhalb der Arbeit eines Regisseurs, welcher sich dazu entschlossen hat, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Eine solche Absprache der Fähigkeit, eigenständig persönliche Entscheidungen zu treffen, findet sich auch in der Rezension von Matthias Heine, erschienen am 02.11.2012 in der überregionalen Wochenzeitung Die Welt. Er kommt am Ende seines Artikels zu dem Fazit: „Und Behinderte hat man in Berlin beim Theater RambaZamba und bei Christoph Schlingensief schon in Produktionen gesehen, wo sie weitaus mehr tun mussten, als nur sich selbst darzustellen. Andererseits ist ein bisschen Heiterkeit vielleicht genau das, was diese düstere Stadt Berlin in diesen grauen Novembertagen braucht.“ (Heine, 2014). Hier lässt sich sowohl die Verwendung des Passivs finden, welche den betroffenen Schauspieler*innen erneut ihre eigene Entscheidungsfähigkeit abspricht, als auch die Substantivierung des Adjektivs behindert.
Durch die klare Zuweisung der passiven Rolle wird den Schauspieler*innen mit Behinderung ihr eigener Subjektstatus abgesprochen und es wird ein Bild von Behinderung gezeichnet, welches klar von Abhängigkeit und Bevormundung geprägt ist. Deutlich wird dies auch in der Verwendung des neutralen Relativpronomens was in der Rezension von Dominik Wolfinger: „[…]was man auf offener Straße nicht angaffen sollte, wird ungeschminkt und zum Greifen nahe präsentiert.“ (Wolfinger, 2014). Der Journalist verwendet nicht ein auf Personen bezogenes Personalpronomen, sondern ein den Subjektstatus vermeidendes es. Dieser Subjektstatus wird ebenso reduziert und abgewertet, indem in einigen Artikeln nur die Vornamen der einzelnen Schauspieler*innen genannt werden. „Sie heißen Miranda, Raymond, Tizian, Julia.“ (Göpfert, 2014) oder „‘Speziell‘ nennt es Sarah diplomatisch. Damien findet es super, seine Mutter bezeichnete es als ‚Freakshow‘, aber gefallen habe es ihr trotzdem.“ (Helmbold, 2014) sind Beispiele dafür, dass den Ensemblemitgliedern des Theaters Hora die Zurechnung ihres Erwachsenenstatus verwehrt wird. Ob namhafte Schauspielkolleg*innen ebenfalls nur mit ihrem Vornamen genannt würden, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Neben diesen angeführten Beispielen, welche eine mangelhafte und negative Repräsentation von Behinderung hervorrufen, lassen sich jedoch ebenfalls Rezensionen finden, welche anhand ihrer Wortwahl beweisen, den von der defizitären Sichtweise abgekehrten Paradigmenwechsel vollzogen zu haben und durch ihre Publikation einen wertvollen Beitrag zur Inklusion zu leisten. Wenn Daniele Muscionico in der ZEIT von der „großartigen Schauspielerin Julia Häusermann“ (Muscionico, 2014) und den anderen „Akteure[n] mit einer geistigen Behinderung“ (ebd.) schwärmt, wird deutlich, dass hier nicht die Behinderung, sondern die schauspielerische Leistung im Vordergrund steht. Eine ressourcenorientierte Sichtweise wird ebenfalls ersichtlich, wenn Matthias Dell im Freitag über Jérôme Bel schreibt, dass dieser „mit den spezifischen Fähigkeiten seiner Schauspieler nichts anzufangen wusste.“ (Dell, 2014)
Auffällig ist bei den untersuchten Rezensionen die häufig auftretende Diskussion um die Authentizität des Schauspiels des Hora-Ensembles. Ausführungen wie „Energiegeladen verausgaben sie sich, wenn jeder nach selbst ausgewählter Musik eine eigene Choreografie zeigt. Interessiert verfolgen sie die Darbietungen ihrer Kollegen, pflegen einen liebevollen Umgang untereinander.“ (Schuman, 2012) oder „Gianni kräht ins Mikrophon: ‚Ich will das Publikum zum Lachen bringen.‘ Und prustet dann ein Pups-Geräusch ins Mikrophon. Er selbst lacht zuerst, aber nicht allein. Ein unterhaltsames Lehrstück über das Theater, Behinderungen und Tanz“ (Stiftel, 2014) verdeutlichen, dass oftmals nicht die Theaterproduktion im Fokus des Interesses steht, sondern die Sympathie erweckende, als authentisch charakterisierte Darstellungsweise.
Durch eine solche inhaltliche Verschiebung und die Abkehr von der eigentlichen darstellerischen Leistung hinterfragen einige Rezensionen grundlegende theaterwissenschaftliche Ansätze und diskutieren, inwieweit Bels Produktion die konventionelle Theaterwelt in Aufruhr versetze. DIE ZEIT schreibt: „Um ein Motiv für mein Interesse am Theater zu haben, hielt ich mich früher an einen Satz von Bertold Brecht. Er hat gesagt: Die Sicherheit treibe ich mir auch noch aus. Das ist mir endlich gelungen - dank Disabled Theater. Diese Menschen in diesem von Jerome Bel eng gezurrten Korsett treiben mir auch noch die letzte Sicherheit darüber aus, was Theater sei - und was Schauspieler. Was ist Authentizität, was Spiel, Verschleierung, Illusion. Ist der letzte Glaube der Glaube an die Fiktion?“ (Muscionico, 2014) und „Wenn Julia Häusermann auf der Bühne zu Michael Jacksons „They don’t care about us“ eine zärtlich-wilde Choreografie inklusive Moonwalk hinlegt, weiß ich, wieso ich Theater meistens unerträglich finde. Weil es oft zu anmaßend, läppisch, aufgeblasen, besserwisserisch, semipsychologisch, weltfremd ist.“ (ebd.). Andere befinden: „Anders als bei einer klassischen Freakshow, die vor allem dazu dient, sich seiner eigenen Normalität zu versichern, hebelt Disabled Theater alle Normen des Theaterbetriebs aus.“ (Dürr, 2014).
Die häufige Betonung des authentischen Spiels untermauert eine defizitäre Wahrnehmung von Behinderung und zeichnet eine gegenteilige Perspektive zu einem ressourcenorientierten und starken Bild von Behinderung. Es wird in den untersuchten Rezensionen nicht von einer „außerordentliche[n] Fähigkeit zur Geistesgegenwart, die niemals billig oder aufgesetzt wirkt, sondern einmalig ist und einfühlsam und geschmackssicher vorgetragen wird“ (Decruydt & Schubert, 2001, S. 198), welche in einer Form der „inneren Wahrheit“ (ebd.) münde, gesprochen, sondern vielmehr von der Annahme ausgegangen, „dass sie [die Darsteller*innen] die Grenzen zwischen Rollenträger und Rollenfigur nicht klar zu ziehen vermögen“ (Himstedt, 2001, S. 191). Eine solche Beschreibung transportiert einen fragwürdigen Authentizitätsbegriff, welcher laut Wartemann eher darin liegt, den durch aktuelles Zeitgeschehen begründeten Wunsch des Publikums zu spiegeln, allgegenwärtigen Inszenierungen in verschiedensten Lebensbereichen zu entkommen und so dem „Verlust des Realen“ (Wartemann, 2001, S. 200) zu entfliehen. Dass Schauspieler*innen mit Behinderung so zu einer „Projektionsfläche einer Authentizitätssehnsucht“ (ebd.) werden, sieht er darin begründet, dass „die Emotionalität und Herzlichkeit der behinderten Akteure […] das herrschende Konkurrenzdenken ablösen“ (ebd.) sollen. Durch den verschobenen Blickwinkel auf das Publikum rückt ein neuer Themenschwerpunkt der analysierten Zeitungsartikel in den Vordergrund. Einige Journalist*innen beschreiben, dass während des Zuschauens das Publikum selbst in den Fokus rücke und durch ambivalente Reaktionen letztlich zum Hauptdarstellungspunkt werde.
Auch die kulturwissenschaftliche Sichtweise arbeitet heraus, dass die Gratwanderung zwischen tatsächlicher Akzeptanz und einer bevormundenden positiven Sichtweise der Schauspielleistung trotz Behinderung eine schwierige sei (Witte 2007). Tervooren beschreibt, dass die irritierende Wirkung beim Publikum dann einsetze, wenn das Dargestellte nicht mehr eindeutig der Rolle oder den Persönlichkeitseigenschaften der/des Schauspielerin/ Schauspielers zugeordnet werden könne (Tervooren, 2002). So würde hier die Frage aufgeworfen, an wie viel Behinderung im Alltag das Publikum tatsächlich gewohnt sei und wie eine plötzliche Konfrontation mit veränderten Sehgewohnheiten sich auf seine Wahrnehmung auswirke (Himstedt, 2001, S. 191). Die Thematisierung dieses Phänomens innerhalb der publizierten Zeitungsartikel kann zu einer veränderten Wahrnehmungsweise der Rezipient*innen führen, indem diese sich selber und ihre eigenen Umgangsweisen mit Behinderung in Frage stellen. Zusammenfassend zur Zuordnung der thematischen Themenschwerpunkte der untersuchten Zeitungsartikel und der kulturwissenschaftlichen Perspektiven scheint ein Zitat von Himstedt geeignet: „Was steht für uns auf dem Spiel? Wir müssen nicht nur unsere theatralen Kategorien und Bezüge hinterfragen, gleichzeitig lassen uns die ‚heiligen‘ aufklärerischen Kategorien von Freiheit, freiem Willen, Selbst-Reflexivität und Vernunft im Stich. […] Haupt-Herausforderungen bestehen darin, von vorgefertigten Bildern, Wahrnehmungs- und Erklärungsmustern loszulassen. Dieser Herausforderung müssen wir uns ebenso als ZuschauerInnen und BetrachterInnen des Geschehens stellen. Vorgefertigte Antworten und Lösungen gibt es keine, außer denen, die wir in der Praxis finden. Die ethische Haltung liegt darin, diese Herausforderung anzunehmen, sich selbst, gewohnte Bezüge und standardisierte Formwillen immer wieder zu hinterfragen. Und sie ist der ästhetischen verwandt, denn das ethische Erlebnis gestattet ebenfalls, sich dem eintretenden Unbekannten anheimzugeben. Es ist die Identifikation mit einer neu entdeckten Welt.“ (Himstedt, 2001, S. 193)
Die untersuchten Zeitungspublikationen über das Disabled Theater sowie die Zuordnung der kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Behinderung scheinen deutlich die aktuelle Sichtweise auf Behinderung im künstlerischen Bereich aufzuzeigen. Indem viele Rezensionen die Theaterproduktion nicht in den künstlerischen, sondern in den sozialen und pädagogischen Bereich einordneten und durch eine sprachliche und themenspezifische Wortwahl deutlich machten, die betreffenden Ensemblemitglieder des Theaters Hora nicht als professionelle Schauspieler*innen anzusehen, zeigte sich ein defizitäres Bild von Behinderung. Allerdings bergen das Disabled Theater und sein medialer Diskurs angelehnt an das Einstiegszitat von Bertold Brecht eine große Chance, die Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster des Publikums zu verändern, was Brecht als Qualitätsmerkmal für ein Theaterstück postulierte. Das unkonventionelle Disabled Theater entlässt die Zuschauer*innen nicht so, wie sie zuvor in den Theatersaal gekommen sind. Vorherige, als selbstverständlich angenommene Denkmuster über Behinderung können aufgerüttelt und neu überdacht werden. Auch der mediale Diskurs erfährt eine Erweiterung und die vermehrte Thematisierung von Behinderung ist ein bedeutender Schritt in die Richtung Inklusion. Ein reflektierter Umgang sowohl mit eigenen als auch mit medial vermittelten Menschenbildern scheint ein weitreichendes Ziel künstlerischer Produktionen von und mit Menschen mit Behinderung zu sein.
Bollmann, S. (2001). Theatrale Maßnahmen für Wahrnehmungsfragen. Zur Arbeit mit Contact 17. In A. Müller, & J. Schubert, Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen. (S. 170-175). Hamburg: Tiamat.
Decruydt, B., & Schubert, J. (2001). Die Compagnie de L'Oiseau Mouche. Ein zwanzigjähriges Theaterexperiment. In A. Müller, & J. Schubert, Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen (S. 194-198). Hamburg: Tiamat.
Dell, M. (04. 03 2014). 50.Theatertreffen - Mit großem Abstand. URL: http://www.freitag.de/autoren/mdell/mit-grossem-abstand
Dürr, A. (04. 03 2014). Normal ist anders. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/kulturspiegel/d-92990915.html
Göpfert, P. (04. 03 2014). Theatertreffen / Theater Hora "Disabled Theater". URL: http://www.kulturradio.de/rezensionen/buehne/2013/theatertreffen-disabled-theater.html
Heine, M. (04. 03 2014). Theater HAU: Hier darf man über geistig Behinderte lachen. URL: http://www.welt.de/
Helmbold, B. (04. 03 2014). Ruhrtriennale: "Disabled Theater": Ein Chromosom mehr als das Publikum. URL: http://www.ruhrnachrichten.de/
Himstedt, S. (2001). Moments of being. Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik in der Theaterarbeit von und mit geistig behinderten Menschen. In A. Müller, & J. Schubert, Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen (S. 156-169). Hamburg: Tiamat.
Klaeui, A. (04. 03 2014). Mich selber zu sein oder jemand anderes. URL: http://www.nachtkritik.de/
Kourlas, G. (04. 03 2014). Jérome Bel talks about Disabled Theater. URL: http://www.timeout.com/newyork/dance/jerome-bel-talks-about-disabled-theater?pageNumber=2
Luzina, S. (04. 03 2014). Die Grenzverletzer. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/die-grenzverletzer/8163352.html
Müller, A., & Schubert, J. (2001). Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen. Hamburg: Tiamat.
Muscionico, D. (04. 03 2014). Unter Freaks. URL: http://www.zeit.de/2014/10/schweiz-kultur-zuerich
n.d. (16. 03 2014). Index: Theater Hora. URL: http://www.hora.ch/2013/
n.d. (17. 03 2014). RB Jerome Bel. URL: http://www.jeromebel.fr/biography/details2
Pawelke, G. (04. 03 2014). Die Menschlichkeit des Menschen - Laurent Chétouane und Jérôme Bel im Interview. URL: http://www.goethe.de/kue/tut/tre/de10308970.htm
Radtke, P. (2001). Als behinderter Künstler im Staatstheater. In A. Müller, & J. Schubert, Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen (S. 156-169). Hamburg: Tiamat.
Radtke, P. (2006). Das Bild behinderter Menschen in den Medien. Spektrum Freizeit, 2, S. 120-131.
Schuman, M. (2012). Oben ohne. Hamburger Feuillton.
Schumann, M. (04. 03 2014). Oben ohne. Jérôme Bels integratives Theater-Projekt "Disabled Theater" auf Kampnagel. URL: http://www.hamburger-feuillton.de
Siebers, T. (2009). Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld: transcript Verlag.
Stälzer, T. (04. 03 2014). Julia Häusermann: Ihr behindert mich! URL: http://www.zeit.de/2014/04/julia-haeusermann-downsyndrom-theater
Stiftel, R. (04. 03 2014). Jérôme Bels "Disabled Theater" bei der Ruhrtriennale. URL: http://www.wa.de/nachrichten/kultur/nrw/jrome-bels-disabled-theater-ruhrtriennale-2474017.html
Tervooren, A. (2002). Von Sonnenblumen und Kneipengängern. Repräsentation geistiger Behinderung in Bild und Performance. Forum Kritische Psychologie, 44, S. 14-21.
Theunissen, G., & Großwendt, U. (2006). Kreativität von Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen. Grundlagen, Ästhetische Praxis, Theaterarbeit, Kunst- und Musiktherapie. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Wartemann, G. (2001). Selbstdarstellung und Rollenspiel geistig behinderter Akteure. In A. Müller, & J. Schubert, Weltsichten - Beiträge zur Kunst behinderter Menschen (S. 199-221). Hamburg: Tiamat.
Watty, C. (04. 03 2014). "Für mich sind das Künstler". URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/
Wihstutz, B. (16. 03 2014). Über die Emanzipation bei Jérôme Bels "Disabled Theater" - Impulsvortrag beim Symposium "Behinderte auf der Bühne" des Berliner Theatertreffens. URL: http://www.nachtkritik.de/
Witte, K. (2007). Ein Podium für mich. Zur Bedeutung von Bühne und Auftritt für Menschen mit Behinderung und Benachteiligung. Behinderte Menschen, 2, S. 42-49.
Witzeling, K. (16. 03 2014). Kampnagel: Jérôme Bel kommt wieder nach Hamburg - Nicht reden, tanzen! URL: http://www.abendblatt.de/kultur-live/article889476/Nicht-reden-tanzen.html
Wolfinger, D. (04. 03 2014). So ehrlich, das es schmerzt - Jérôme Bel und "Disabled Theater". URL: http://www.kulturkritik.ch/2012/jerome-bel-theater-hora-disabled-theater/
Young, P. (04. 03 2014). Look at me: Jérôme Bel and Theater Hora's "Disabled Theater". URL: http://www.artinamericamagazine.com/news-features/news/look-at-me-jrme-bel-and-theater-horas-disabled-theater/