Christiane Quadflieg, Uli Streib-Brzič :„wenn’s jeder hätte, dann ist es ja eigentlich nicht mehr peinlich“ – Strategien von Kindern aus Regenbogenfamilien. Interventionen für die pädagogische Praxis.

Abstract: Welche Erfahrungen Kinder, die mit Eltern, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* identifizieren, aufwachsen in der Schule machen, inwieweit sie Diskriminierung erfahren und welche Strategien sie entwickelt haben,  hat die europäische Studie ‚School is out?!‘ (2011) untersucht. Das aus den Ergebnissen entwickelte pädagogische Material gibt Anregungen, wie mit Schüler_innen zum Thema Zugehörigkeit und Konstruktionen von ‚Normal- und Anders-Sein’ gearbeitet werden kann.

Stichwörter: Kinder aus Regenbogenfamilien, Diskriminierung, Normalisierungsstrategien in Schule

Inhaltsverzeichnis:

  1. Einleitung
  2. Studie
  3. Erfahrungen in Deutschland
  4. Interventionen für die pädagogische Praxis
  5. Literatur

 

1. Einleitung

Regenbogenfamilien und damit Lebensentwürfe und -realitäten von Menschen, die  sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* (LGBT) identifizieren und Eltern sind, werden in Schule ‚normalerweise’ kaum wahrgenommen bzw. thematisiert. In Lernmaterialien, in Curricula tauchen diese selten bis gar nicht auf, in den Köpfen der meisten Pädagog_innen scheinen Regenbogenfamilien weder präsent noch relevant. Dass sich LGBT-Personen als Eltern explizit Gehör verschaffen, sich nach ihrem Outing, selbst häufig fortgesetzt ‚enttabuisieren’ müssen, bevor sie wahrgenommen werden (und dann teilweise auch sehr fruchtbare Formen der Zusammenarbeit als Eltern mit Schule entstehen), bestätigen unsere Untersuchungen. Auf Schulhöfen hingegen sind ‚lesbisch’ und vor allem ‚schwul’ als Zuschreibungen allgegenwärtig. Schüler_innen reproduzieren dabei alltagsdiskursive Mechanismen von Abwertung und Abgrenzung, wenn sie Haltungen, Verhaltensweisen und auch Dinge als ‚schwul’ bezeichnen oder angeben, sich gegen vermeintliche ‚Kampflesben’ behaupten zu müssen. Kinder, die auf dem Schulhof Mutter, Mutter, Kind oder gar Vater, Vater, Kind spielen finden sich dagegen eher selten.
Die heftigen Abwehrreaktionen gegenüber einer Öffnung der Perspektive auf die Vielfalt (sozio-) sexueller Lebensweisen in Schule und Unterricht und die massiven Proteste und Bedenken in Teilen der Bevölkerung gegenüber Forderungen nach umfassender rechtlicher Gleichstellung von LGBT- lebenden Menschen auch und gerade als Familien (z.B. Adoptionsrecht) werden häufig von Debatten darum begleitet, was ‚Normal bzw. Normalität’ ist oder sein bzw. werden sollte. Es geht dabei – aus unterschiedlichen Perspektiven – um Anerkennung und Zugehörigkeit, um Anpassung und Einordnung. Umkämpftes Terrain sind hierbei, in Gendernormen regulierte gesellschaftliche Reproduktionsbedingungen und mit Genderkonstruktionen assoziierte Zugänge zu symbolischer, ökonomischer und sozialer Macht. Um Teilhabe und Zugehörigkeit geht es auch den allermeisten Kindern und Jugendlichen aus Regenbogenfamilien, die wir in unserer Studie zu ihrem Umgang mit ihrem familiären Hintergrund in der Schule befragt haben. Diese  möchten ausdrücklich und dringend, dass sie und ihre Familie als „ganz normal“ wahrgenommen werden: „…es ist nicht unnormal, es ist einfach halt anders als andere Familien und es ist nicht schlimm, und es ist ganz normal so“(Cristina, 13). Die meisten der befragten Kinder und Jugendlichen bekräftigen dies mit der Aussage, selbst „kein Problem damit“ zu haben. Dieses Statement „ich habe kein Problem damit“ verweist als Klassiker liberaler Positionierung gegenüber LGBT auf eine un/bewusste Selbstverortung der meisten der befragten Kinder und Jugendlichen in einen heteronormativen Kontext.
Dabei erleben die befragten Kinder und Jugendlichen einerseits ihren familiären Alltag als alltäglich und in diesem Sinne ‚normal’. Andererseits befürchten bzw. wissen sie, dass diese subjektive Erfahrung von ‚Normalität‘ von den meisten ihrer Peers und Lehrer_innen nicht geteilt wird und vor allem, dass diese möglicherweise eben doch ‚ein Problem damit’ haben.
Wir haben in unserer Studie die Erfahrungen der befragten Kinder und Jugendlichen in Schule untersucht und deren Strategien als Normalisierungsstrategien bzw. Strategien im Umgang mit De-Normalisierung, d.h. der Markierung als ‚Nicht-Normal/Andere’, konzeptualisiert. Dabei haben wir  verschiedene Strategien wie das De-Naming, das Einnehmen klassischer heteronormativer Haltungen gegenüber LGBT wie Abwertung, Abgrenzung, Vermeidung und Distanzierung sowie Strategien offensiver Positionierung  herausgearbeitet.
Schule versteht sich als Ort, an dem gesellschaftliche Werte und Normen vermittelt und eingeübt werden – Werte, die innerhalb der Schüler_innenschaft gelten, die im Lehrplan und in den Unterrichtsmaterialien formuliert, transportiert und thematisiert werden und nicht zuletzt von Pädagog_innen vermittelt werden. Schule gibt sich - in Schulgesetzen festgeschrieben (z.B. Schulgesetz des Landes Berlin 2004 §12) - den Auftrag, allen Schüler_innen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Religion dieselben Bildungschancen zu ermöglichen.
‚Inklusive Schule’ bietet sich dazu an, Ansätze normenkritischer Pädagogik aufzugreifen, weiter zu entwickeln und Diskussionen um Anerkennung, Heterogenität und individueller Entfaltung  in der Schule  mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und gleichberechtigter Teilhabe zu verbinden.

2. Studie

Das europäische Forschungsprojekt ‘Erfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien im Kontext Schule’ (2009-2011)[] wurde in Schweden, Slowenien und Deutschland als vergleichende Studie durchgeführt. In einem qualitativen, re-konstruktiven und diskursanalytisch inspiriertem Verfahren[] wurden Erfahrungen von insgesamt 33 Kindern im Alter von 8-23 Jahren, deren Eltern sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* bzw. queer identifizieren, untersucht. Begleitend und zur Kontextualisierung des Analyseprozesses wurden Interviews mit 61 Eltern und 30 Expert_innen[] durchgeführt.
Die zentrale Frage dieser Studie war, welche Erfahrungen Kinder und Jugendliche mit  LGBT-identifizierten Eltern im Kontext Schule machen und welche Strategien sie im Umgang damit entwickeln. Ziel war es, mehr darüber zu erfahren, ob und wie Kinder und Jugendliche, die in Regenbogenfamilien aufwachsen, Schule als heteronormativ geprägten Ort antizipieren und erleben und wie sie mit möglichen Formen von Diskriminierung umgehen. Uns interessierte dabei auch, wie sich diese Kinder und Jugendlichen in Lehrplänen, Unterrichtsmaterialien und -gesprächen repräsentiert fühlen und welche Verhaltensweisen von Lehrer_innen und Eltern von ihnen als unterstützend empfunden werden. Darüber hinaus war es uns ein Anliegen zu erfahren, welche Veränderungswünsche und Empfehlungen Kinder und Jugendliche in Bezug auf die Institution Schule formulieren.
Unser Fokus lag auf der Analyse von Aushandlungsprozessen von Zugehörigkeit und Ausschluss im Sozialraum Schule und Befürchtungen bzw. Erfahrungen von Diskriminierung als Teil davon.
Schule verstehen wir als einen Ort, an dem gesellschaftlich dominante Einstellungen und Verhaltensweisen sowohl von Pädagog_innen vermittelt als auch auf Seiten von Peers re-produziert und bestätigt werden, wie z.B. heteronormative Genderkonstruktionen, ethnische Zuschreibungen, Diskriminierungen aufgrund einer ‘Be-hinderung‘ (Hornscheidt 2011) oder wegen prekärer sozio-ökonomischer Verhältnisse. Dies geschieht unter Peers zum einen subtil durch das Aushandeln von Kleider-, Sprech- und Verhaltenskonventionen. Zum anderen wird dies aber auch mit gewaltförmigen Mitteln wie Beleidigen, Ausschließen und Mobbing durchgesetzt, Anpassung wird erzwungen und soziale Rangordnungen hergestellt (Bower & Klecka 2009).
Gleichzeitig ist für uns Schule aber auch ein Ort, an dem neue, andere Erfahrungen gemacht werden, ein Ort, der es ermöglichen kann, sich für die Perspektiven, die Denk- und Lebensweisen anderer zu öffnen und der dazu ermutigt, kritische Positionen einzunehmen und diese mit anderen auszuprobieren. Dies ist abhängig vom Engagement einzelner Pädagog_innen, die den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag ernstnehmen, soziale Normen und Werten kritisch – entlang grundgesetzlich garantierter und darauf sich berufender Rechte (wie z.B. dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz) – zu reflektieren.
Die Strategien der Befragten in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutete für uns, die Kinder und Jugendlichen als soziale Akteur_innen anzusprechen und deren Handlungsmächtigkeit und Selbstwirksamkeit hervorzuheben. Gleichzeitig verfolgten wir damit den Effekt, eine Perspektive der De-Viktimisierung anzubieten.
Strategien zu erfragen, bedeutet auch, die Komplexität der damit verbundenen Bedingungen und sozialen Kontexte zu thematisieren und zu reflektieren. Auf Strategien zu fokussieren, betont das Bewegliche, das Umkämpfte, das Prozesshafte und Veränderbare in der Auseinandersetzung mit alltäglichen - nicht nur heteronormativen - Normalisierungspraxen.
Im Anschluss an das Konzept der Normalisierung von Foucault und dessen genderkritischen Rezeption durch Butler haben wir für die Analyse den Begriff der ‘De-Normalisierung‘ entwickelt, um die Effekte der Normalisierung zu verdeutlichen. De-Normalisierung meint hier den Prozess oder Akt der Ausschließung/Ausgrenzung von Personen und darin verkörperten Praktiken und Ideen, die (damit) als nicht-normal, d.h. als nicht den (Hetero-)Normen entsprechend, dargestellt werden. Diese Ausschließung und Markierung als ‘deviante Andere‘ (Hark 1999) funktioniert gleichzeitig als Bestätigung der bestehenden Normen und Normalitätsvorstellungen (Butler 2009).
Normalisierung bzw. De-Normalisierung wirkt auf diskursiver und dabei vorzugsweise auf verbaler bzw. nonverbaler Ebene gerade dadurch, dass bestimmte soziale Normen und Verhaltensweisen vorausgesetzt werden. Gleichzeitig werden Verhaltensweisen, die den angenommenen vermeintlich nicht entsprechen, als anders bzw. deviant markiert, be-/verschwiegen und unsichtbar gemacht.
Mit dem Begriff der De-Normalisierung zu arbeiten, betont eine Perspektive auf die regulativen Machteffekte von (Hetero)Normativität sowohl im Kontext von Aushandlungsprozessen sozialer Macht, Fragen nach Hierarchie und Status innerhalb von Peergroups als auch auf interpersoneller und struktureller Ebene innerhalb der Institution Schule, in Schulstrukturen, Lehrplänen und in Haltungen von Pädagog_innen im Umgang mit nicht-heteronormativen Lebensweisen und Familienformen.
Unserem Ansatz liegt dabei ein Verständnis der Interdependenz(en) verschiedener Formen von Diskriminierung, wie z.B. rassistischer und ableistischer[] Diskriminierung zu Grunde, da Kinder, Eltern ebenso wie Schule, in die verschiedenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen sozialen relationalen Prozesse eingebunden sind (Spradlin & Parsons 2008, Winker & Degele 2009).

3. Erfahrungen in Deutschland [].

Insgesamt wurden in Deutschland 22 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 8 und 20 Jahren, die in einer Regenbogenfamilie aufwachsen, interviewt. Bei der sukzessiven Zusammenstellung des Samples wurden unterschiedliche soziale Kategorien wie Geschlecht, sozio-kulturelle bzw. -ökonomische Bedingungen und körperliche ‘Besonderheiten‘ berücksichtigt. Die für das jeweilige familiäre Selbstverständnis und deren Wahrnehmung durch das Umfeld möglicherweise relevante ‘reproduktive Hintergründe‘ (z.B. ob ein Kind durch Insemination[] oder in einem heterosexuell organisierten Kontext entstanden ist) wurden ebenfalls einbezogen.
Von den interviewten Kinder besuchen fünf die Grundschule, 17 eine weiterführende Schule. Eine Gesamtschule besuchen zehn Kinder, zwei eine Realschule und fünf ein Gymnasium. Neun Eltern wählten für ihre Kinder Privatschulen (Waldorf-, Montessori-, bzw. konfessionsgebundene Schulen) aus. Die meisten Eltern geben an, dass sie die Schulwahl sehr bewusst getroffen haben, auch im Hinblick darauf, ob Lehrer_innen und Schüler_innen Familienformen und Lebensweisen, die vom Mainstream abweichen, mit Offenheit begegnen. Dies wurde ganz explizit von Eltern formuliert, deren Kinder aufgrund von Zuschreibungen bezogen auf ihre ethnischen Hintergründe (5 Kinder) oder körperlichen Besonderheiten (1 Kind) mit entsprechenden Vorurteilen konfrontiert sind.
Die Befragten kommen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, die meisten leben in mittelgroßen bzw. kleinen Städten, ein Drittel in Großstädten, ein Fünftel in ländlicher Umgebung. Die teilnehmenden Eltern sind in der Regel der gut ausgebildeten Mittelschicht’ zuzurechnen.
Die Teilstudie für Deutschland zeigt, dass Kinder, die mit LGBT-Eltern aufwachsen, unterschiedliche Erfahrungen im Kontakt mit Peers wie auch mit Lehrer_innen in der Schule machen. Manche berichten davon, dass sie beneidet werden, Eltern zu haben, die außerhalb des heteronormativen Lebensmodells Beziehungen und Familie leben, die überwältigende Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen teilt allerdings mit, dass sie – zuweilen auch parallel dazu – immer wieder diskriminierenden (Sprach)Handlungen ausgesetzt sind oder es zumindest schon einmal waren. Zwar berichtet keins der Kinder wegen seines Familienhintergrundes physischer Gewalt ausgesetzt (gewesen) zu sein. Fast alle Kinder und Jugendlichen, die für die Studie interviewt worden sind, teilen jedoch mit, dass sie zum Einen die Befürchtung haben, ihr Familienhintergrund könnte ihre Mitschüler_innen veranlassen, sie auszugrenzen, zu beleidigen oder auch körperlich anzugreifen und viele nennen darüber hinaus ganz konkrete (Re)Aktionen ihrer Mitschüler_innen und Lehrer_innen, die sie als belästigend, abwertend bzw. diskriminierend empfinden. Diese Akte haben wir als Praxen heteronormativer De-Normalisierungen bezeichnet.

3.1. Praxen heteronormativer De-Normalisierung

Die Kinder und Jugendlichen beschrieben folgende Verhaltensweisen, die sich im Wesentlichen auf verbaler oder auch non-verbaler Ebene abspielen, als diskriminierend:

Mit der sexuellen Orientierung ihrer Eltern identifiziert zu werden.Das Nicht-Vorkommen von LGBT-Familien und -Lebensformen in Unterrichtsmaterialien und als Thema im Unterricht.Vor der Klasse durch Lehrer_innen – ohne zuvor die Zustimmung dazu gegeben zu haben - exponiert zu werden.
Diese von den Kindern genannten Erfahrungen und damit verbundene Befürchtungen lassen sich als strukturell und interpersonell reproduzierte heteronormative Formen von De-Normalisierung beschreiben. Dies bedeutet für das betreffende Kind im Moment einer solchen Erfahrung, auf einen einzelnen Aspekt seines familiären Hintergrundes verwiesen und infolgedessen als Teil eines als ‚nicht-normal’ Markierten re-konstruiert zu werden. Konkret bedeutet dies für das Kind, zu erleben oder zu befürchten, abgelehnt, ausgegrenzt, entwertet oder nicht wahrgenommen zu werden. Auch wenn solche Erfahrungen und Gefühle von den betreffenden Kindern häufig als temporär und nur punktuell, d.h. auf einen Aspekt ihrer komplexen Identität bezogen, beschrieben werden, sind sie doch davon betroffen und damit beschäftigt, sich mit Hilfe unterschiedlicher Strategien zu schützen bzw. damit umzugehen.
Einige der befragten Kinder berichten, dass sie zusätzlich bzw. gleichzeitig mit rassistischen bzw. auf ihre ‚Behinderung‘ bezogene Formen von Diskriminierung konfrontiert sind. So erlebten sie rassistische, speziell an sie adressierte verbale Angriffe als De-Normalisierung, wenn sie diese von Wörtern, die sie als „normale Wörter und Schimpfwörter“ einordnen, „die öfter benutzt werden“, abgrenzen.  In diesem im Sinne lässt sich die analytische Kategorie der De-Normalisierung als interdependente Perspektive nutzen.

3.2. Strategien

Die Strategien, die Kinder und Jugendlichen einsetzen, um Diskriminierungserfahrungen zu minimieren oder zu vermeiden, haben sie zum Teil mit Bezugspersonen, d.h. ihren Eltern oder Freund_innen erarbeitet oder aber nach intensiver Auseinandersetzung mit der Situation und einem Abwägen selbst entwickelt. Die Strategien, die Kinder einsetzen um De-Normalisierungserfahrungen zu vermeiden, sind:

i (=Interviewer_in): ist das für dich auch so, dass du das allen Kindern erzählst, oder überlegst du so ein bisschen, wem du das erzählst?
Enno: och nö, das ist mir ganz egal.
i: das ist dir ganz egal.
Enno: ist mir normal.
i: ist dir normal. Und hast du das Gefühl, den andern Kindern ist das auch ziemlich normal?
Enno: nee, denen ist das irgendwie nicht so normal.
i: aha, woran merkst du das, dass das denen nicht so normal-
Enno: hö, sonst würden sie mich nicht fragen ((lacht)).

Gleichzeitig wird in Ennos Aussage deutlich, dass dieses Wissen um unterschiedliche Normalitäten eine weitere Strategie erfordert, nämlich die, auszuwählen, wem die Informationen über den eigenen Familienhintergrund mitgeteilt werden kann und wem nicht.

Es zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen sehr genau überlegt, wem, wann, auf welche Weise mitgeteilt wird, dass die Mutter lesbisch oder die Väter schwul sind. Jean-Marie beschreibt das Dilemma, in dem sich Kindern bei der Überlegung, ob die Veröffentlichung des Familienhintergrunds richtig platziert und formuliert ist oder nicht, häufig wiederfinden:
„ … also, man kann‘s sagen, muss man aber nicht. Also man kann‘s sagen, zum Beispiel, wenn man jetzt im Urlaub war- also man muss es nicht verheimlichen, …außer wenn es eben diesen Bösen in der Klasse gibt, dem dann bitte nicht sagen, weil dann wird-, wirst du gehänselt oder so… und nicht die Freunde der bösen Kinder, weil die erzählen es dann dem Bösen… ((lacht))“.
Was viele Kinder immer wieder betonen ist die Entscheidung, „es“ zu erzählen oder auch nicht. Wenige der befragten Kinder und Jugendlichen entscheiden sich dafür, von sich aus, offen und direkt über die Lebensform der Eltern zu sprechen. Eine derjenigen, die diese Strategie wählt, ist Cristina, 13. Sie beschreibt, dass sie damit gute Erfahrungen gemacht habe, weil sie sich dann in der machtvolleren Position befindet, wenn sie „daraus gar kein Geheimnis“ (Cristina, 13) macht. Viele Kinder jedoch entscheiden sich dafür, nur über ihre Familienkonstellation zu sprechen, wenn sie gefragt werden. Die meisten bevorzugen die Strategie, die Janne, 16, sehr treffend formuliert hat: „ich schmeiß‘ es jetzt nicht jedem ins Gesicht“. Und doch gibt es bei vielen Kindern und Jugendlichen immer auch die Möglichkeit, sich für die andere Option zu entscheiden. In einem Umfeld, in dem sie sich sicher fühlt, erzählt Janne auch offen, wie sie gezeugt worden ist: „zum Beispiel kommt auch ganz direkt die Frage: aber deine Mama hatte ja anscheinend dann mal ‚n Freund? Und dann sag‘ ich, nee, meine Mama hatte ‚ne künstliche Befruchtung und das finden alle total interessant, die wollen das dann alles wissen, wie das gelaufen ist und so und sagen dann immer, das ist ja cool ((lacht)), so völlig bekloppt eigentlich“ (Janne, 16).

Ähnlich  lässt sich die Strategie, heteronormative Pejorisierung zu normalisieren, einordnen. d.h. Situationen, in denen „schwul“ oder „Lesbisch“ und noch deutlicher „trans“ diffamierend konnotiert benutzt wird, als „eigentlich ganz normal“ zu betrachten und den Umgang mit „krassen Wörtern“ der Sprache, die zur Jugendlichen-Kultur gehöre, zuzuordnen. Damit ist auch eine eigene Beteiligung nicht ausgeschlossen, die ebenso erklärt und gerechtfertigt wird.

Welche Strategien Kinder und Jugendliche einsetzen, um auf bereits erfolgte De-Normalisierungsakte zu reagieren, sie zu beenden oder ihnen entgegenzusteuern soll im Folgenden an dem Beispiel des Gefragt-Werdens, das oft als Ausfragen erlebt wird, wenn scheinbar harmlose Fragen wiederholt gestellt werden, wenn die Kinder kein Interesse der Fragenden spüren, sondern wenn, wie Cristina es formuliert, Fragen „als Machtmittel“ missbraucht und so zum Einfallstor für Beleidigungen werden.
Besonders Fragen, die die eigene biologische Entstehung oder die Verwandtschaftsverhältnisse betreffen, werden von den Kindern und Jugendlichen als grenzüberschreitend erlebt. Cristina berichtet, dass sie die Frage „wie entstehst du eigentlich, hm, wie kann denn das sein, wo ist dein Vater?“ (Cristina, 13) als besonders verletzend empfindet, zumal dies eine Infragestellung ihrer Existenz beinhaltet. Sie teilt mit „ich erzähl das auch jedem, aber […] also, wenn sie sich eh‘ dafür eigentlich überhaupt nicht interessieren, sondern das einfach nur so als Machtmittel nehmen […] dann sag‘ ich dazu nichts, dann sag‘ ich, ich bin da, ich bin hier und es ist jetzt auch eigentlich relativ egal“ (ebd.).
Auch Mona berichtet, dass andere Kinder „sagen, das geht doch überhaupt nicht“ (Mona, 8), wenn sie mitteilt, dass sie zwei Mütter hat. Sie kontert dann „das geht sehr wohl“ (ebd.).
Dass es wichtig sei, über Strategien zu verfügen, wie sie als unangemessen erlebte Befragungen abkürzen oder beenden können, bekunden alle der befragten Kinder und Jugendlichen einvernehmlich.
Einige unserer Interviewteilnehmer_innen sagen, dass ihnen dabei ihre Eltern Vorbild und Ratgeber_innen seien. So formuliert Janne: „also irgendwie hab‘ ich von meiner Mama immer ‚nen coolen Spruch gelernt oder so, weil sie selber immer so ist, dann immer gleich was sagen kann und mir fällt auch immer schnell was ein und dann sag‘ ich immer nur irgendeinen blöden Spruch oder so und dann ist es gut“ (Janne, 16).

3.3. Unterstützungsfaktoren

Was sich unterstützend und Resilienz stärkend auf Kinder und Jugendliche aus LGBT-Familien auswirkt – dazu gab es in den Interviews deutliche Hinweise.
Als zentraler Faktor konnte die unterstützende Haltung der Eltern identifiziert werden. Die Eltern als verlässliche Ratgeber_innen hinter sich zu wissen wurde von allen Kindern und Jugendlichen geschätzt – übrigens auch noch im Teenager-Alter, wenn die Adoleszenten ihre Autonomie ausgestalten und ausdrücken – gleichwohl sich in ihren Statements eine ambivalente Haltung mitformuliert findet: „also es ist immer gut zu wissen, wenn die Eltern hinter einem stehen und dann mal doch noch mal schnell zu Mama rennen und sagen, nee, der der ist jetzt mir aber doof gekommen oder so. Doch das ist schon angenehm. Aber teilweise ist es schon angenehm, wenn die sich- die Eltern dann raushalten und man das selber dann regelt, weil meistens helfen einem dann die Freunde auch noch. Aber es ist immer wirklich gut, 'ne Absicherung zu haben, dass man weiß, wenn irgendwas wirklich Schlimmes ist, dann hilft Mama noch mal“ (Paul, 15).
Unterstützend finden es die Kinder außerdem, wenn ihre Eltern von Anfang an im Kontakt mit der Schule sind, sich den Lehrer_innen als Eltern vorgestellt haben und die Familiensituation mit ihnen besprochen haben. Dies wirkt sich insofern entlastend auf die Kinder aus, als sie nicht mehr abwägen müssen, welcher Moment geeignet sein könnte, um ihren Familienhintergrund darzustellen. Auch das unabsichtlich überstürzte Exponieren im Unterricht – wenn die Lehrer_in das Thema mit der Klasse bespricht, kann so minimiert bzw. ausgeschlossen werden.
Als moderierender Effekt konnte auch identifiziert werden, wenn Mitschüler_innen und Lehrer_innen LGBT als Lebensform bekannt ist und sie Kinder, die in einer Regenbogenfamilie aufwachsen, kennen. Hier bestätigt sich, was bereits Forschungen zu Vorurteilsbildung belegen, dass persönliche Kontakte sensibilisierende Effekte haben einen entscheidenden Beitrag zum Abbau von Feindbildern und Voreingenommenheit haben und ein respektvolle, wertschätzende Offenheit für andere Lebensformen befördern können (Simon 2007). Dies kann somit als Empfehlung für den Unterricht formuliert werden, passende Maßnahmen zu entwickeln, die dieses Kennenlernen ermöglichen.

4. Interventionen für die pädagogische Praxis

Die aus den Ergebnissen der Studie entwickelten Unterrichtsmaterialien ‚Was ist eigentlich normal?! befragen Normalitätsvorstellungen und –vorgaben im schulischen Alltag. Bildkarten, die Szenen alltagstypischer Gespräche und Begegnungen zwischen Kindern und Jugendlichen darstellen thematisieren verschiedene Aspekte der Erfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien: es geht um unterschiedliche Modelle von Elternschaft, Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlechterzuschreibungen, Varianten biologischer Entstehung, sexueller Identität und gelebten sexuellen Begehrens. Die Figuren Norm_aal und Normal_aal_ini begleiten die Kinder und Jugendlichen bei der Bearbeitung der verschiedenen Themenkomplexe.

Eine Auseinandersetzung mit LGBT-Lebens- und Familienformen in der Schule bietet die Chance, die darin enthaltenen emanzipatorische Aspekte für alle Beteiligten zugänglich zu machen. So könnten erweiterte Spielräume in Bezug auf Gender und erotische/sexuelle Begehrensformen Thema im Unterricht sein. Normalisierungspraxen ließen sich mit Blick auf Ein- und Ausschlusseffekte im sozialen Alltag  kritisch befragen. Es könnte über offenere Formen der Konzeptualisierung von Familie und Verwandtschaft nachgedacht werden. Es könnte schließlich auch im Sinne eines verantwortlichen und wertschätzenden Miteinanders darum gehen, Schüler_innen anzuregen, Normalität im Plural, als prozesshaft und gestaltbar zu erfahren.

Die Materialien sind als Download verfügbar unter:
https://www.gender.hu-berlin.de/rainbowchildren/downloads/materialien/

 

6. Literatur

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Beck-Gernsheim, Elisabeth (2010). Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen. München: Beck.
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Streib-Brzič, Uli & Christiane Quadflieg (Hrsg.) (2011). School is Out?! Comparative Study ’Experiences of Children from Rainbow Families in School’ conducted in Germany, Sweden, and Slovenia. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.
https://www.gender.hu-berlin.de/rainbowchildren/downloads/studie (27.4.2014)
Winker, Gabriele & Nina Degele (2009). Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: Transcript.


[1] gefördert wurde die Studie durch das Daphne III-Programm der Europäischen Kommission, durchgeführt von Forscher_innen-Teams am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der Humboldt-Universität zu Berlin/Deutschland, der Universität Ljubljana/Slowenien (Fakultät für Soziale Arbeit) und der Universität Lund/Schweden (Zentrum für Genderstudies).

[2] Judith Baxter 2003; Kathy Charmaz 2006.

[3] Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen, Psycholog_innen, LGBTQ-Aktivist_innen und politische Entscheidungsträger_innen.

[4] "Ableismus bezieht sich auf die Vorstellung, dass Menschen mit nicht wahrnehmbaren körperlichen oder geistigen Behinderungen denjenigen überlegen sind, die als behindert bezeichnet werden.” (Spradlin & Parsons 2008: 22, Übers. C.Q.).

[5] Zugunsten einer detaillierteren Darstellung der Forschungsergebnisse der deutschen Teilstudie verzichten wir auf die vergleichende Perspektive der länderspezifischen Ergebnisse. Siehe Streib-Brzič, Uli & Christiane Quadflieg (Hrsg.) (2011). School is Out?! Comparative Study ’Experiences of Children from Rainbow Families in School’ conducted in Germany, Sweden, and Slovenia. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.
https://www.gender.hu-berlin.de/rainbowchildren/downloads/studie

[6] Als Insemination wird die Befruchtung mit Spendersamen bezeichnet, wobei der Spender anonym oder bekannt sein kann. Insemination ist mit ärztlicher Assistenz als Fruchtbarkeitsbehandlung in Deutschland verheirateten Paaren vorbehalten. Insemination ist jedoch auch ohne ärztliche Hilfe durchführbar. Das Bundesverfassungsgericht hat 1989 das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung als Teil des Persönlichkeitsrechts  festgelegt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies 2011 bestätigt.