Abstract: Im Jahr 2012 wurde eine Studie zu den individuellen Wohnbedürfnissen von körperlich beeinträchtigen Personen im Kanton Zürich/Schweiz durchgeführt. Hintergrund der Studie bildete dieabnehmende Nachfrage nach kollektiven Wohnangeboten bei gleichzeitig steigendem Bedarf nach individuellen Wohnformen und der damit zusammenhängenden Frage nach den optimalen Dienstleistungsstrukturen. Für die Studie wurden elf Problemzentrierte Interviews mit Betroffenen geführt, die mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Es zeigt sich, dass individuelle Wohnformen klar bevorzugt werden und sich gleichzeitig zahlreiche Herausforderungen herauskristallisieren, möchte man gleiche Teilhabechancen für körperlich beeinträchtigte Personen schaffen wie für Menschen ohne Beeinträchtigung. Diesen kann nicht einzig mit neuen Dienstleistungsangeboten begegnet werden. Es braucht darüber hinaus ein Umdenken in der Gestaltung des öffentlichen Raumes und der Konzipierung von Wohnraum.
Stichworte: Körperlich Beeinträchtigte; Wohnformen; Bedarfsanalyse; Interviews; Inhaltsanalyse; Schweiz
Inhaltsverzeichnis
Der aktuelle Trend in der Schweiz offenbart eine Abnahme der Nachfrage für kollektive Wohnformen für Personen mit körperlicher Beeinträchtigung. Gleichzeitig zeigen Anfragen an entsprechende Dienstleistungsorganisationen, dass zahlreiche Personen trotz der eigenen vier Wände nicht auf das umfangreiche und kurzfristig abrufbare Angebot an Unterstützung im Alltag und in der Pflege verzichten möchten bzw. können.
In der Praxis des Kantons Zürich zeigt sich überdies, dass die momentane politisch veranlasste Vereinheitlichung und Kategorisierung in „Werkstätten“, „Tagesstätten“, „Wohnheime“ und anderen kollektiven Arbeits- und Wohnformen der Individualität der betroffenen Menschen mit einer Beeinträchtigung und deren Bedürfnissen nicht gerecht wird. Gleichzeitig hält der zuständige Regierungsrat (Kantonsexekutive) des Kantons Zürich fest, dass für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen vergleichbare oder gleichwertige Lebensbedingungen geschaffen werden müssen wie für nichtbehinderte Personen. Die Angebote sollen so gestaltet werden, dass Personen mit einer Beeinträchtigung eine Wahlfreiheit haben (vgl. Bericht des Regierungsrates zu den Grundsätzen der Behindertenpolitik vom 26. November 2003). Es bleibt hier anzumerken, dass die Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, die UN-Behindertenrechtskonvention (noch) nicht unterschrieben und ratifiziert hat.
Aus diesem Anlass hat im Jahr 2012 eine Organisation für integriertes Wohnen eine Studie zur Abklärung der Wohnsituation von Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen in Auftrag gegeben. Ziel der Studie war es, deren aktuelle Wohnsituation und Bedürfnisse hinsichtlich der präferierten Wohnform zu erfassen. Dabei war es gleichsam Auftrag der Studie, mögliche Diskrepanzen zwischen den gesetzlichen Grundlagen und den individuellen Bedürfnissen von Betroffenen zu eruieren und Lösungsvorschläge bezüglich neuer Angebotsformen zu erarbeiten.
Um zu aussagekräftigen Schlussfolgerungen zu gelangen, kann jedoch der Bereich Wohnen nicht isoliert betrachtet werden. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere ein derart zentraler Lebensbereich mit verschiedenen Kontextfaktoren verknüpft ist und sich entsprechend mit anderen Lebensbereichen überschneidet.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Lebenqualitätskonzepts in Theorie und Praxis, insbesondere im Bereich der Entwicklung von neuen Angeboten und Dienstleistungen für Menschen mit einer Beeinträchtigung wurde das Lebensqualitätskonzept nach Seifert (2006) und Wüllenweber et. al. (2006) in der vorliegenden Studie herangezogen. Das Lebensqualitätskonzept überzeugt durch seine Integration von objektiven Lebensbedingungen und subjektiver Zufriedenheit, wobei sich die Zufriedenheit an der Erfüllung individueller Bedürfnisse bemisst und sich in verschiedenen Bereichen des Wohlbefindens niederschlägt (vgl. SEIFERT 2006a, S. 383). Das Lebensqualitätskonzept ermöglichte eine Strukturierung der Interviews auf der Grundlage der dort definierten Lebensbereiche mit Fokus auf den Bereich Wohnen.
Die methodische Vorgehensweise der Studie sah die Durchführung von qualitativen problemzentrierten Interviews (nach Witzel 1982) mit Betroffenen vor.
Das problemzentrierte Interview bietet den Vorteil, dass mittels einer offenen und an die Biographie der Befragten anknüpfenden Einstiegsfrage, der Redefluss der Befragten angeregt wird und dadurch die Situation einer natürlichen Gesprächssituation ensteht, in der die für die Fragestellung relevanten Themen bereits angesprochen werden. Im Anschluss an die offene Einstiegsfrage folgten Fragen, die sich am Lebensqualitätskonzept nach SEIFERT (2006) orientierten. Hierbei wurden die einzelnen Aspekte der Lebensqualitätsbereiche im Zusammenhang mit der Wohnsituation als auch dem Wohnbedarf erfragt. Diese wurden in den individuellen Lebenskontext der befragten Personen eingebettet.
Die befragten Personen wurden vorab durch die Auftraggeberschaft angefragt, ob sie sich für ein Interview zur Verfügung stellen möchten. Im Anschluss wurden sie durch die Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz angeschrieben und telefonisch kontaktiert, um einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Die Interviews wurden teils bei den interviewten Personen zuhause geführt, teils auch an öffentlichen Plätzen (Cafés) und ein Interview am Arbeitsplatz der befragten Person. Die Gespräche wurden allesamt aufgezeichnet und vollständig transkribiert.
Die verbalen Daten wurden gemäss den Grundlagen der qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (2008) mit Hilfe der Auswertungssoftware ATLAS.ti 6.0 ausgewertet. Die vertikale Analyse der Interviews sowie deren horizontaler Vergleich, ermöglichten zentrale Aussagen und Argumentationslinien auszuarbeiten und zu verdichten. Das Kodierschema der einzelnen Interviews orientierte sich wie bereist oben erwähnt an den Kernbereichen des Lebensqualitätskonzepts und deren Operationalisierung.
Die generierten Daten wurden anschliessend nach der Logik des Social-Impact-Modells (SIM) von FRITZE/MAELICKE/UEBELHART (2011) geordnet. Dies ermöglichte, die erhobenen Daten zu systematisieren und hinsichtlich der erfragten Handlungsempfehlungen auf unterschiedlichen Wirkungsebenen zu gliedern.
Insgesamt wurden im Zeitraum Juni/Juli 2012 elf Problemzentierte Interviews mit insgesamt sechs Frauen und fünf Männern geführt. Die interviewten Personen waren zu diesem Zeitpunkt zwischen 27 und 59 Jahre alt. Fünf der interviewten Personen leben mit einer Multiplen Sklerose (MS)-Diagnose, vier davon weisen eine progressive Form auf. Die anderen sechs Befragten leben seit Geburt mit jeweils unterschiedlichen Diagnosen.
Sämtliche Befragte massen dem Lebensbereich Wohnen eine hohe Wichtigkeit zu. Dies wurde damit begründet, dass sich bei zunehmendem Beeinträchtigungsgrad auch der Lebensraum verkleinert und sich dadurch vermehrt auf die eigenen vier Wände beschränkt.
So wohnten zum Zeitpunkt des Interviews alle Befragten in einem eigenständigen Haushalt, wobei sechs der elf Personen alleine wohnten. Acht Personen haben vor dem Einzug in ihre eigene Wohnung in Wohnheimen gelebt.
Die Befragten benannten allesamt – unabhängig von ihrer Beeinträchtigung und Mobilität (die Befragten waren mehrheitlich im Rollstuhl oder hatten eine Gehhilfe in Form von Rollatoren oder Gehstöcken) – ähnliche Massnahmen, welche beim Umbau ihrer Wohnung entweder umgesetzt wurden oder/und in Planung waren. Diese reichten von elektronischen Hilfsmitteln bis zur Vergrösserung der Räume, um sich mit einem Rollstuhl darin bewegen zu können. Diese Massnahmen bringen mit sich, dass die Wohnmobilität aus Kostengründen abnimmt. Dies ist vor allem dann ein Problem, wenn sich die Lebenssituation verändert und dadurch andere Wohnbedürfnisse entstehen. Ein Beispiel hierfür gab eine interviewte Person, welche nach langem Suchen eine Wohnung gefunden und diese trotz zu geringem Wohnraum gemietet hatte:
„Es war eine Totalsanierung einer Genossenschaft, und dann fanden die, sie hätten da etwas, das frei wird. Das würde total saniert, ob ich das wolle, und dann nimmt man natürlich an. Es war auch relativ klar, es sind Anpassungen, die eigentlich nicht so gross bestritten sind – nur, wenn man jetzt wieder in eine grössere [Wohnung, Anmerk. der Verfasser] ziehen möchte, wären das wahrscheinlich wieder Anpassungskosten in einem ähnlichen Rahmen. Das müsste man sich mal überlegen, was das dann auch heisst, wenn man zwei-, dreimal zügeln möchte; mit anderen Worten, ich weiss nicht was die IV [Invalidenversicherung, Anmerk. der Verfasser] für Druck ausüben wird, damit ich so lange wie möglich in dieser Wohnung bleibe. Aber… nur schon zu zweit, mit einer Partnerin, ist das schwierig“ (J10 #00:07:26-8#).
Da die Wohnungssuche ein grundsätzliches Problem darstellt (genereller Wohnungsmangel, hohe bauliche Anforderungen), wurden bauliche Massnahmen gewünscht, um insgesamt mehr Wohnungen rollstuhlgängig zu machen. Teilweise herrschte bei den Befragten Unverständnis gegenüber der gängigen Bauweise, da beispielsweise der Verzicht von Türschwellen keinen massgebenden Einschnitt bei einem Bauvorhaben darstellt.
Erdgeschosswohnungen, welche für Rollstuhlfahrende oder anderweitig körperlich beeinträchtigte Personen als naheliegende Lösung scheinen, erwiesen sich teilweise aufgrund der erhöhten Unsicherheit (Einbruchsgefahr) als unbeliebt. Daher sind auch hier bauliche Massnahmen insbesondere im Hinblick auf ausreichend breite Lifte mit tiefliegenden Knöpfen ausdrücklich erwünscht.
Die Massnahmen wurden nicht nur in Bezug auf das eigene Wohnen gewünscht, vielmehr könnte eine diesbezügliche gesellschafltiche Sensibilisierung dazu führen, dass auch Wohnungen von Freunden und Angehörigen zugänglich wären.
Von den Interviewpartnerinnen und -parter wurde oft der Wunsch geäussert, in einem Quartier zu leben, in dem sie ihr soziales Leben wahrnehmen können. Um ausserhalb der eigenen vier Wände soziale Kontakte pflegen zu können, spielen rollstuhlgängige Bars und Restaurants eine wichtige Rolle. Auch rollstuhlgängige öffentliche Verkehrsmittel wurden als wichtig erachtet.
Die Wohnlage muss den Lebensnotwendigkeiten der Betroffenen angepasst sein. Für fast alle Befragten war es ein Bedürfnis, die täglich anfallenden Aufgaben so gut als möglich selbst zu bewältigen oder zumindest daran teilzuhaben. Aus diesem Grund gewinnt die Infrastruktur der Wohnumgebung an Relevanz.
Um gesellschaftliche Integration resp. Teilhabe zu gewährleisten, werden Rahmenbedingungen benötigt, welche bereits im alltäglichen Handeln einsetzen. So wurden von fast allen befragten Personen die öffentlichen Verkehrsmittel angesprochen, die nur teilweise rollstuhlgängig sind. Und Freizeitangebote, welche aufgrund der fehlenden Rollstuhlgängigkeit nicht wahrgenommen werden können, schränken die gesellschaftliche Partizipation ein.
Immer wieder stehen die Personen vor Treppen, die nicht oder nur mit grossem Aufwand überwunden werden können, oder die Lifte, die zwar vermehrt gebaut werden, sind defekt oder für die Benützung mit einem Rollstuhl zu eng oder aber die Knöpfe sind im Sitzen mit eingeschränkten Armfunktionen nicht erreichbar. Dadurch werden nicht nur die Bewegungsfreiheit und die Spontanität der Betroffenen eingeschränkt, sondern auch diejenige ihrer Begleitpersonen, was oft eine zusätzliche (psychische) Belastung der Betroffenen zur Folge hat. Damit werden Unternehmungen, die für Nicht-Behinderte eine Selbstverständlichkeit sind, für Menschen mit einer Behinderung sehr anstrengend.
Die Problematik alltäglicher Barrieren kam in sämtlichen Gesprächen zum Ausdruck. Sie zog sich gar bis in den ganz persönlichen Bereich: So konnten beispielsweise Einweihungsfeste einer neuen Wohnung von Freunden oder Freundinnen nicht beigewohnt oder die eigenen Kinder nicht besucht werden, wenn sich kein Lift im Haus befindet. Dies kann dazu führen, dass sich die Personen zunehmend als „ausserhalb“ der Gesellschaft empfinden (Exklusion). Zudem wurden dadurch Tendenzen wie der zunehmende Verlust von sozialen Kontakten und Beziehungen, die primär auf die Krankheit zurückzuführen sind, verstärkt.
Auch Taxis und spezielle Transportmöglichkeiten für Behinderte sind nicht uneingeschränkt nutzbar. Eine ausdrückliche Kritik wurde gegenüber dem eingeschränkten Fahrtenkontingent für das „Behinderten-Taxi“ formuliert. Dies sei nicht nur diskriminierend und sinnlos, sondern würde in der Folge zu Mehrkosten und erheblichem Zusatzaufwand für die Betroffenen führen. Insbesondere wurde kritisiert, dass sich die Fahrtenbeschränkung nicht am Verhältnismässigkeitsprinzip orientiert, sondern – aus Sicht des Betroffenen – an Sparmassnahmen, die es in diesem Bereich gibt.
Es bestand daher die generelle Forderung, dass in Zukunft verstärkt in Richtung der Nutzergruppe gedacht würde, insbesondere bei Menschen, die selbständig leben möchten. Demnach muss nicht nur der Wohnraum der Betroffenen barrierefrei sein, sondern der Lebensraum generell, um körperlich beeinträchtige Personen nicht an der gesellschaftlichen Teilhabe zu hindern.
Von den Befragten wurden wiederholt Einschränkungen in der Selbstbestimmung erwähnt. Sachzwänge und Vorschriften in Heimen hätten bislang eine selbstbestimmte Lebensführung erschwert.
Da sich das Leben bei zunehmendem körperlichen Beeinträchtigungsgrad primär in den eigenen vier Wänden abspielt, gewinnt der eigene Wohnraum an Bedeutung. Fremden Personen aufgrund des Unterstützungsbedarfs Eintritt zu gewähren, erlebten die Betroffenen nicht nur als eine stetige Einsicht der Verminderung eigener Kompetenzen, sondern auch als Eingriff in die Privatsphäre.
„Ich habe jetzt mit der Putzfrau ein super Verhältnis, ich habe die schon sechs Jahre, ja. Und trotzdem muss ich sagen, die Privatsphäre muss man auf jeden Fall haben. Also ich will nicht- solange es geht, es gibt einen Punkt- also ich habe ja auch in der Pflege gearbeitet, ich habe auch mit MS-Patienten gearbeitet, also wir hatten das auch. Und das muss schon sein. Ja... Und das kommt dann halt sehr drauf an, auf die Leute auch“ (B2 #00:24:06-5#).
Mehrere Beispiele wiesen darauf hin, dass die Privatsphäre und die Selbstbestimmung mit dem eigenen Wohnraum zugenommen hatten, trotz teils fast ständiger Anwesenheit von assistenz-leistenden Personen.
„Ja, da musste ich mich am Anfang daran gewöhnen, ganz ehrlich. Das ist mir nicht immer leicht gefallen, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich meine, wenn ich telefonieren muss, muss ich telefonieren. Und, das ist eben, das, dass Du so nah bist, ist auch sehr offen. Ich weiss auch viel von meinen Mitarbeitern privat und sie viel von mir. Da musst Du einfach auch ein absolutes Vertrauen haben“ (D4 #00:20:00-4#).
In sämtlichen Gesprächen hat sich gezeigt, dass die Themen „Privatsphäre“ und „Selbstbestimmung“ eine sehr wichtige Rolle spielen. Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass dies zentrale Gründe darstellten, weshalb die Befragten aus dem Heimkontext ausgetreten sind resp. bislang noch nicht eintreten wollten. Neben einigen Nachteilen oder Erschwernissen, die das selbständige Wohnen mit sich bringt, wurden von sämtlichen Befragten die Vorteile und der Gewinn hervorgehoben. Es hätte die Autonomie, die eigene Identität gestärkt oder gar den „Geist gefördert“. Die eigene Wohnung sei Rückzugsraum und Begegnungsort zugleich.
„Ja ich meine, es ist lebensprägend. Man versucht natürlich immer, das etwas zu verdrängen, oder zu normalisieren. Ich habe noch von zuhause aus ähm... wie soll ich sagen - den Anreiz bekommen, in einem möglichst normen Umfeld mich möglichst normal zu geben. Und dadurch habe ich wahrscheinlich auch das Maximum an Lebensqualität realisieren können, würde ich sagen. Aber klar, die Einschränkung ist gegeben. Und... das schlägt sich in allen möglichen Lebensbereichen nieder. Da ist - verdrängt man wahrscheinlich vieles, was einem erlaubt, damit umgehen zu können. Aber am Schluss ist es natürlich auch, was das Wohnen anbelangt, dass eine selbstständige Lebensweise ohne Hilfe nicht möglich ist. Selbstständige Bewältigung ohne die Hilfe nicht möglich ist. Und halt auch sozial ist es – sind halt die Menschen auch verschieden, wie sie mit einem umgehen“ (H8 #00:04:22-1#).
Dass soziale Aspekte hinsichtlich der Wohnsituation eine zentrale Rolle spielen, wurde in mehreren Interviews bestätigt. So wurde beispielsweise von mehreren der Befragten gesagt, dass sie gerne Freunde und Familie zu sich nach Hause einladen um sie (soweit möglich) zu bewirten. Dabei wurde erwähnt, dass sich die Menschen aus dem sozialen Umfeld zuerst daran gewöhnen mussten, dass die meiste Zeit weitere Personen (persönliche Assistenz, Pflegepersonal) anwesend sind. Hinzu kommt, dass die Wohnungen der Personen im sozialen Umfeld oft nicht rollstuhlgängig und damit für die Befragten nicht zugänglich sind. Auch das Thema Sexualität spielt hier eine Rolle. Es wurde mehrfach erwähnt, dass es in den eigenen vier Wänden eher möglich sei, einen Mann bzw. eine Frau einzuladen. In einem Heim sei dies aufgrund mangelnder Privatsphäre oder Akzeptanz ein schwieriges Thema.
Rückhalt und Anerkennung innerhalb des Freundeskreises sind sehr wichtig. Das Gefühl der Zugehörigkeit war dabei in den Gesprächen ein zentrales Element. Hier sind verschiedene Ebenen angesprochen: das familiäre Umfeld, das soziale Umfeld (Freundeskreis), das erweiterte soziale Umfeld (Nachbarschaft, Quartier) und ganz allgemein die gesellschaftliche Zugehörigkeit. Insbesondere jene befragten Personen mit einer progressiven Erkrankung hatten beim Gespräch zum Ausdruck gebracht, dass sie sich zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. So kritisierten drei der elf Befragten die Segregation in Schulen. Dabei berichtete eine Person von einer langen Suche nach einer Schule resp. einer Lehrperson, die bereit war, sie mit den nichtbehinderten Kindern gemeinsam zu unterrichten.
Zu den erschwerten Rahmenbedingungen in diesen vielfältigen Bereichen (erschwerte Nutzung des öffentlichen Raums, Zugang zur gesicherten Erwerbstätigkeit, finanzielle Lage, soziale Exklusion) kommt hinzu, dass der Umgang nicht behinderter Menschen mit Menschen mit Behinderungen als sehr unterschiedlich empfunden wurde. Die Beziehungen und die Kommunikation wurden vereinzelt als eingeschränkt empfunden und eindeutig auf die Behinderung zurückgeführt. Dadurch, so eine befragte Person, sei man immer wieder auf „sozialen Goodwill“ im Freundeskreis angewiesen.
Allgemein wurden hinsichtlich der finanziellen Lage verschiedene Probleme angesprochen, welche auf die individuellen Situationen zurückzuführen sind. Manche Personen hatten Probleme mit der Invalidenversicherung (IV) und ihrer Berufstätigkeit. So wurden einer Person weniger Lei-stungen zugesprochen, da sie stetig die Stellenprozente reduziert und zuletzt nur noch 20% gearbeitet hatte. Zudem weigerte sich die IV, ihre Umschulung zu bezahlen, da sie ein progressives Krankheitsbild aufweist.
Des Weiteren wurde die Konsequenz der gesellschaftlichen Exklusion angesprochen, welche aus Sicht der Befragten durch die zu knappe Berechnungsgrundlage entsteht. Somit fehlte es manchen unter ihnen regelmässig an finanziellen Mitteln, um an sozialen Anlässen teilhaben zu können.
Sehr positiv hingegen wurden die Leistungen der IV bei den Umbaukosten der Wohnungen beurteilt. Fast alle interviewten Personen mussten Anpassungen in ihren Wohnungen vornehmen resp. es stehen regelmässig welche an, wobei sie von einer sehr guten Unterstützung der IV berichteten.
Grundsätzlich wurde betont, wie wichtig es ist, dass es Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung gibt, auch für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Tätigkeiten, Arbeitsabläufe und Aufgaben, die einst problemlos ausgeführt werden konnten, waren infolge der zunehmenden körperlichen Beeinträchtigung nicht mehr möglich. Die Konsequenzen waren Pensenreduktion, Stellenwechsel und Arbeitsplatzverlust. Obwohl die Befragten gerne gearbeitet und dadurch aus ihrer Sicht etwas Sinnvolles getan hätten, ging es oft nicht mehr. Das kann unter anderem dazu führen, dass sich die Personen „ungebraucht“ fühlen und sich „nutzlos“ vorkommen.
„…ich finde schon, nicht arbeiten zu können ist eine grosse Einschränkung. Das generiert, dass Leute wirklich komisch werden.“ (A1 #00:39:30-3#).
Die Interviewpartnerinnen und -partner, die nicht mehr im Erwerbsprozess eingebunden waren erwähnten, dass sie verschiedene Stellen ausprobiert hatten. So wurden beispielsweise Freiwilligenarbeit, Lektorat oder Telefonarbeit geleistet. Aber im Zuge ihrer (fortschreitenden) Beeinträchtigung mussten sie schliesslich ganz zu arbeiten aufhören.
Viele der Befragten beschrieben es als ihre Lebensaufgabe, sich für die Gleichstellung von behinderten und nicht behinderten Menschen einzusetzen oder sich in Arbeitsgruppen, Vorständen oder Stiftungen für die Interessen von Menschen mit Behinderung einzusetzen. Dieses Engagement fördert die gesellschaftliche Teilhabe und gibt Struktur, was von allen Gesprächspartnerinnen und -partnern als äusserst wichtig erachtet wird.
Auch wenn die tägliche Organisation des Alltags mit Assistenz als aufwendig empfunden wurde, so wünschten sich die befragten Personen kein Leben in einem Heimkontext, wie er bislang existiert. Zwar wurden die eingeschränkten Handlungsspielräume in den Gesprächen durchaus thematisiert, jedoch stand diese Einschränkung in keinem Vergleich zu den Heimstrukturen, welche von allen Befragten als unbefriedigend empfunden wurden. Sämtliche Personen mit Heimerfahrung hatten bemängelt, dass es ihnen in den Heimen an Privatsphäre und Selbstbestimmung gefehlt hatte.
Die Befragten schätzten es, wie andere erwachsene Menschen ihren Tagesrhythmus selbst bestimmen zu können. Auch die in den Heimen bestehenden fixen Essenszeiten und die Menüauswahl wurden teilweise als Belastung wahrgenommen. Entscheidungsfreiheit zu haben beinhalte auch die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können in einem spontanen Zeitrahmen. Das bedeute jedoch, dass entsprechende Begleitpersonen verfügbar sein müssen, wenn die Bewohnerinnen und Bewohner ausgehen möchten.
In Bezug auf die Selbstbestimmung im Wohnen wurde ausgesagt, dass sich der Wunsch nach Selbstbestimmung nicht von Menschen ohne Behinderungen unterscheide. Die Befragten wollten selber entscheiden können, was und wann sie etwas machen und wollten nicht zuerst eine Betreuungsperson fragen müssen. Von einer Person wurde beschrieben, dass sie nach einem Heimaufenthalt über ein halbes Jahr brauchte, bis sie das „Heimdenken“ ablegen konnte und sich bewusst war, dass sie niemanden mehr fragen musste, sondern selber entscheiden darf. Die Befragten betonten allesamt die Wichtigkeit der Wahlfreiheit. Gleichwohl wurde erwähnt, dass es wichtig sei, dass man sich nicht alles abnehmen lässt und immer wieder versucht, gewisse Dinge selber zu machen, auch wenn es anstrengend ist.
In Bezug auf den Heimkontext wurde ausgesagt, dass auch dort grösstmögliche Selbstbestimmung gewährleistet sein muss. Viele der Befragten waren der Ansicht, dass die gesetzliche Grundlage dahingehend verändert werden sollte, dass eigenständiges Wohnen gezielt gefördert wird (ohne dabei auf stationäre Angebote zu verzichten, denn auch diese würde es brauchen).
„Ja also das, was wir zum Schluss so gesagt haben, wie sollte ein Heim in Zukunft, so ein institutionelles Wohnangebot in Zukunft aussehen. Da muss ich wirklich sagen, dass ich glaube so dieses Massenwohnen, also so die... man könnte böse sagen, dieses Zusammenpferchen, ist glaube ich seit den 80er Jahren gesellschaftlich vorbei. Und es gibt immer noch sehr viele Institutionen, die diese Schiene fahren. Also so grosse Häuser mit Esssaal und so. Und ich denke, da ist auch ein grosses Problem, gerade in der Konkurrenz mit dem Assistenzbudget, überhaupt noch willige Bewohner zu finden, letztendlich. Und wenn eine Institution ausbauen will, dann müssen sie dies im Auge haben. Also an sich eben, dass die Hippiezeit und Kommunen an sich vorbei sind.“ (I9 #00:43:43-7#).
Soziale Vielfalt war eine oft gehörte Forderung in Zusammenhang mit zukünftigen Wohnformen. Vor allem das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen wurde betont. Neben Alter und Behinderung sollten weitere Kriterien einbezogen werden, z.B. Nationalität und Arten von Beeinträchtigungen. Darin zeige sich auch, so einer der Befragten, wie die Gesellschaft zu Menschen mit einer Behinderung steht und umgekehrt. Ausserdem würde damit wichtige Bewusstseinsbildung betrieben. Anreize könnten beispielsweise mit Subventionen für Genossenschaften, die soziale Vielfalt im Wohnen ermöglichen, geschaffen werden.
Des Weiteren wurde es als wichtig erachtet, die Heime nicht an der Stadtgrenze oder im Grünen zu errichten, sondern an zentraler Lage und in urbanen Gebieten. Dadurch würde eine bessere soziale Vielfalt errreicht und in der Folge Partizipation ermöglicht.
Wie aus dem nachfolgenden Zitat einer befragten Person hervorgeht, wurden in den Interviews auch mögliche Anknüpfungspunkte und Lösungsvorschläge formuliert. Diese wurden in der Studie als Basis für die datengestützen Lösungsvorschläge hinsichtlich der Entwicklung neuer Angebotsformen verwendet.
„Wenn man quasi Institutionen hätte, die sehr flexibel reagieren könnten. Jetzt nicht auf Individuen, sondern auf Bedürfnisse. Sagen wir, es gibt jetzt eine Reihe von Studenten die jetzt behindert sind. Oder Leute, die Teilzeit arbeiten. Dass man dort, ähm... eine Infrastruktur, so mehr in diese utopische Richtung geht, die ich genannt habe. Aber auch bezüglich Finanzierung versucht, etwas hinzubekommen, wo – sagen wir, es gibt einen Assistenzpool, wo das ganze Bürokratische geregelt wird, zu moderaten Preisen. Das auch jemandem ermöglicht, der nur eine Teilrente bezieht, so jemandem das auch zu ermöglichen. Also quasi eine Miete Plus. Und dann hat er immer den Notfallknopf. Sagen wir, wenn jemand nicht stark eingeschränkt ist, dass er dann auch Hilfe haben könnte.“ (H8 #00:48:07-4#).
Nach Ansicht der Befragten müsste seitens Anbieter von Wohndienstleistungen ein Weg gefunden werden, wie die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen im oben beschriebenen Sinn optimal erfüllt werden können. Die Wohnangebote müsstenderart konzipiert sein, dass sie von mehreren Zielgruppen genutzt werden können. Ein möglicher Anknüpfungspunkt hierfür scheint die konsequentere Ermöglichung von Autonomie und selbstbestimmter Lebensführung sowie eine gewinnbringende Verknüpfung von kollektiven und individuellen Wohnformen in Bezug auf die Entwicklung von neuen Dienstleistungen und Konzepten.
Hinsichtlich der Forderung nach Öffnung der Wohnheime und dem Wunsch nach sozialer Vielfalt ist beispielsweise eine Angebotsausweitung von individuellen Wohnformen denkbar, welche neben den kollektiven und betreuten Wohnformen existieren. Diese sollte sich explizit an der Nachfrage ausrichten, wobei Synergien zwischen beiden Dienstleistungsbereichen genutzt werden könnten. Insbesondere im Bereich des persönlichen Unterstützungsbedarfs könnten die Nutzerinnen und Nutzer des individuellen Wohnens von den Personalressourcen und der Fachkompetenz kollektiver Wohnangebote profitieren. Dadurch könnten formulierte Wünsche wie etwa ein Notfallknopf realisiert werden. Im Rahmen der Öffnung der Heime und der sozialen Vielfalt wurde von allen Befragten eine Wohnform präferiert, welche eine Nachbarschaft von Personen ohne Behinderung oder gar ein Zusammenleben vorsieht. Dadurch würden auch betreute Wohnformen für Behinderte möglich, welche nicht auf das Zusammenleben mit Partner und/oder Familie verzichten möchten.
Zudem fehlen bislang Institutionen, welche Unterstützung bei der Suche nach Wohnraum anbieten, Lobbyarbeit für die Interessen der Betroffenen betreiben oder sich in Wohnprojekte einbringen, um Angebote im nicht-stationären Bereich in eigenen Wohnräumen umzusetzen.
Trotz der geringen Anzahl Interviews wurde in diesen Gesprächen deutlich, wie vielfältig die Situation Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung ist und wie entsprechend unterschiedlich sie ihre Bedürfnisse formulieren. Trotzdem lassen sich gemeinsame Nenner erkennen, welche an Politik und Gesellschaft adressiert werden können.
Dies betrifft zum Einen die allgemeinen Bauweisen. Anstatt rollstuhlgängige und nichtrollstuhlgängige Gebäude zu bauen, könnten künftig alle Bauten die Bedürfnisse und Anforderungen von Menschen mit Beeinträchtigungen mitberücksichtigen. Dies spart nicht nur Kosten durch überflüssige Umbau-Massnahmen, sondern fördert auch die soziale Teilhabe. Denn damit würden die Bewegungsfreiheit und der Zugang körperlich behinderter Menschen erhöht. Dies gilt sowohl für private Wohnbauten wie auch für öffentliche Einrichtungen, Arbeitsplätze und Freizeitangebote.
Künftige Wohnangebote sollten weiter eine breite, bedarfsgerechte und vor allem individuell abrufbare Angebotspalette mit gleichzeitigem höchstmöglichem Freiheitsgrad umfassen.
Manche sozialpolitischen Instrumente tragen der individuellen Situation von Betroffenen zu wenig Rechnung. Dies ist Aufgabe für die nähere Zukunft, um den Forderungen der UN-Behindertenrechtkonvention gerecht zu werden, indem die gesetzesbedingten Barrieren abgebaut werden. Die Sicherung höchstmöglicher Erwerbstätigkeit ohne negative finanzielle Konsequenzen und auch die Berechnungsgrundlage beim Assistenzbudget müssen gewährleisten, dass Personen mit Beeinträchtigungen sich aus finanziellen Gründen nicht sozial ausgegrenzt fühlen. Ihre krankheitsbedingten Einschränkungen erfordern einen finanziellen Mehraufwand, dem Rechnung getragen werden muss. Beispiele hierfür sind der Mehraufwand beim Transport oder die Entschädigung von Assistenzpersonen beim Ausüben von Freizeitaktivitäten.
Es gilt also künftig, unter anderen an diesen Punkten anzusetzen um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen zu gewährleisten und ihre Lebenssituation zu verbessern.
Anschlussfragen für die weitere Forschung ergeben sich insbesondere hinsichtlich der Zusammenführung von individuellen Wohnbedürfnissen bei Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und den Angebotsstrukturen mit ihren gesetzlichen Grundlagen. Es gilt als Herausforderung, bedürfnisgerecht und angemessen festzustellen, wie einerseits eine individuelle Bedarf- und Bedürfniserhebung aussehen könnte und andererseits wie zudem das Unterstützungsangebot individuell auszurichten sei und den sich verändernden individuellen Bedürfnissen gerecht werden kann. Hierzu müssten allenfalls die entsprechenden Instrumente erst noch entwickelt werden. Massgeblich sind jedoch nach wie vor die gesetzlichen Grundlagen, die dahingehend angepasst werden müssen, um aktuelle Bedürfnisse an individuellen Wohnformen gerecht zu werden. Eine selbstbestimmte Lebensführung muss gewährleistet werden, sei es auf der Grundlage der Gleichstellung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen oder der UN-Behindertenrechtskonvention Art. 19.
Fritze, Agnès/Maelicke, Bernd/Uebelhart, Beat (2011) (Hg.). Management und Systementwicklung in der Sozialen Arbeit. Baden-Baden: Nomos Verlag.
Mayring, Philipp (2008). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 10. Aufl. Weinheim Beltz.
Seifert, Monika (2006). Pädagogik im Bereich des Wohnens. In: Wüllenweber, Ernst/Theunissen, Georg/Mühl, Heinz (Hg.) Pädagogik bei geistigen Behinderungen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
Witzel, Andreas (1982) Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag.
Schlussbericht unter: http://www.fhnw.ch/ppt/content/prj/s226-0043/schlussbericht