Claudia Löwe: Schlüsselqualifikationen pädagogischer Professionalität in inklusiven Schulentwicklungsprozessen

Abstract: Pädagogische Professionalität erlangt in der Diskussion um inklusive Schulentwicklungsprozesse neue Bedeutung. Mit dem Ziel wichtige Elemente auf dem Weg zur Entwicklung eines systemisch-reflexiven Professionalitätsverständnis im inklusiven Schulkontext anzusprechen, werden Fragen des Wandels pädagogischer Professionalität, die Chancen reflexiven Denkens und Handelns und die Möglichkeiten der Etablierung einer reflexiven Beratungskultur skizziert.

Stichworte: pädagogische Professionalität, Inklusion, Schulentwicklung, Beratung, Reflexion, Schule

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung: Pädagogische Professionalität im Wandel
  2. Chancen reflexiven Denkens und Handelns im pädagogischen Kontext
  3. PädagogInnen als BeraterInnen oder BeraterInnen als PädagogInnen?
  4. Die Schule als Ort hoher Beratungskultur - Wie kann das gelingen?
  5. Fazit
  6. Literatur

1. Einleitung: Pädagogische Professionalität im Wandel

Die Frage nach den Fähigkeiten und Qualifikationsanforderungen von PädagogInnen in ihrem professionellen Handeln im pädagogischen Alltag und in Prozessen inklusiver Schulentwicklung ist eine der bedeutendsten.
Die Entwicklung von Schule erfordert eine Veränderung des Professions-bewusstseins von PädagogInnen, welche wiederum einen Wandel der Professionalisierungspraxis nötig macht. Schulentwicklung und pädagogische Professionalität können demnach als voneinander abhängig betrachtet werden. Ein zentraler Aspekt des Systems Pädagogik könnte darin liegen, Reflexionen darüber anzustoßen, wie Schulentwicklung durch eine verbesserte Vermittlung von Wissen und Professionalisierung von PädagogInnen vorangebracht werden kann. In der Rollenfunktion von PädagogInnen kulminieren vielfältige verschiedene und teilweise auch divergierende Aufträge. SchülerInnen, Eltern, KollegInnen und nicht zuletzt Lehrende selbst haben die unterschiedlichsten Erwartungshaltungen. PädagogInnen fühlen sich nicht selten für alle an sie gestellten Aufgaben verantwortlich und erleben infolgedessen ihren Beruf deshalb als so anstrengend und belastend.
Werden PädagogInnen als auch SonderpädagogInnen selbst nach Qualifikationsmerkmalen professionellen pädagogischen Handelns, nennen sie Tätigkeiten wie „unterrichten, helfen, unterstützen, verstehen, akzeptieren, fördern, Konflikte lösen, Fachwissen haben“ (Wittrock 1998, 85). Ausgehend vom Begriff Schulkultur sind drei verschiedene Rollenbilder beschreibbar, die mit spezifischen Kompetenzmerkmalen eines (Sonder-)Pädagogen assoziiert werden: die „qualifizierten Diagnostiker,qualifizierten Berater und qualifizierten pädagogisch-psychologischen Therapeuten“ (Vernooij 1997 in Wittrock 1998, 88). Wittrock benennt Kompetenzen der Profession Sonderpädagogik und weist gleichzeitig darauf hin, dass diese Kompetenzen in pädagogischen Kontexten nur in einer spezifischen Haltung zu realisieren sind. Als wesentliche Elemente einer solchen Haltung fokussiert er einerseits in Anlehnung an Rogers „Echtheit, Selbstkongruenz, Empathie, Einfühlendes Verständnis und Wertschätzung“ und andererseits das Selbstanwendungsprinzip , d.h. „nicht nur beraten wollen und beraten können, sondern auch beraten werden wollen.“ (Wittrock 1998, 92).

Leitkompetenzen

Grundkompetenz

Metakompetenz

Diagnostizieren, Beraten, Unterrichten
Erziehen, Kooperieren, Beurteilen,
Innovieren, Planen

 

Kommunikativität

 

Theoriegeleitete Reflexion

Abb. : Kompetenzen der Profession Sonderpädagogik (vgl. Wittrock 1998, 91)
Im Kontext von integrativen und inklusiven Bemühungen im Gemeinsamen Unterricht haben reflexive und beraterische Kompetenzen von PädagogInnen in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen (vgl. Jäpelt 2009). Bereits Wocken postuliert die Aufnahme der Lehrinhalte „Kooperation, Teamteaching, kollegiale Beratung und Supervision“ in die integrationsorientierte Lehrerausbildung (vgl. Wocken 1997, 73). Auch die Leitlinien der UNESCO 2009 zur Inklusion benennen als Handlungsfeld die Professionalisierung von Lehrkräften. „Lehrer und Führungskräfte [müssen demnach] Gelegenheit erhalten, ihre Praxis gemeinsam zu reflektieren und die Methoden und Strategien in ihren Klassen und Schulen zu beeinflussen.“ (UNESCO-Leitlinien zur Inklusion 2009, 20).
Im folgenden Beitrag werden die Debatte um Integration und Inklusion sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für professionelles pädagogisches Handeln auf der Makroebene betrachtet, d.h. in Beziehung zu existenten Verständnissen und Erkenntnissen des Bildungssystems. Dabei können die Ausführungen dennoch nur auf das Fundament der Mikroebene des Systems, in dem Sinne das praktische Handeln im Gemeinsamen Unterricht von PädagogInnen, aufbauen. Grundlegend wird dabei von einem Verständnis von Integration ausgegangen, das eine gesellschaftliche Teilhabe als generell zu verwirklichende Praxis meint und einen Zukunftsentwurf von Inklusion fokussiert, der „Behindertsein als eine normale Variante menschlichen Lebens“ (Bürli 2005 in Jäpelt 2009, 73) einschließt und die Konstrukte Integration und Inklusion durch eine Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens aufhebt.
Mit Blick auf die zunehmende pluralistische und vielfältige Gestalt unserer gesellschaftlichen Welt erhöhen sich die Komplexitätsanforderungen für das Handeln aller pädagogischen AkteurInnen. Auf der Organisationsebene von Schule differenzieren sich diese wachsenden Anforderungen durch die Vielzahl der existenten Interaktionsfelder von Lehrkräften in verschiedenen Schularten. Das bisherige Professionsverständnis von PädagogInnen zeigt sich derzeit vorrangig auf der institutionellen Ebene von Schule. Fände die Idee der Inklusion wertschätzende Anerkennung, so wäre die Interaktion aller im pädagogischen Kontext Beteiligten auf der konzeptionellen Ebene unausweichlich notwendig, wodurch sich alle PädagogInnen im gleichen Interaktionsfeld von Schule bewegen würden. Inklusive Prozesse werden im Nachstehenden als Entwicklungslinien einer „Integrativen/ Inklusiven Pädagogik“ hin zu einer „Allgemeinen Pädagogik“ verstanden, in denen die „Heterogenität [...] zur Herausforderung für die Entwicklung der Allgemeinen Schule und der jeweiligen (sonderpädagogischen) Professionalität [wird].“ (Jäpelt 2009, 75) Inklusive Prozesse bedingen daher auch einen Veränderungsprozess des professionellen Selbstverständnisses von PädagogInnen. Gesellschaftliche Pluralität zeigt sich im Kontext von Pädagogik in Heterogenität, d.h. vielfältigen Erscheinungsformen und Merkmalen. Vielfältige Erklärungsmöglichkeiten von Phänomen stehen in Relation gegenüber der Relevanz von Wissen. PädagogInnen sind nicht mehr nur dazu aufgerufen Wissen zu vermitteln. Die Bereitstellung vielfältiger  Formen zur Wissensaneignung und Möglichkeiten zur Herausbildung von Schlüsselqualifikationen stehen zukünftig im Vordergrund. Eng verbunden ist mit dieser Vorstellung ein Lernkulturwandel, der sich dadurch auszeichnet, dass zukünftig erfolgreiche Lernprozesse selbstorganisiert ablaufen. Grundlegend für diese Auffassung ist ein Verständnis, das Lernen als konstruktiven und eigenaktiven Prozess begreift. „Lernen bedeutet [...], dass die Lernenden die neuen Inhalte mit solchen Inhalten verbinden, die schon in ihren Wissensnetzen vorhanden sind und damit individuelle Verankerungen [...] von einem neuen Inhalt (Spitzer 2002, 34) entstehen können.“ (Arnold/ Gómez Tutor/ Kammerer 2003, 109)
Folglich impliziert ein Lernkulturwandel auch Veränderungen für die Lehrenden und ihr professionelles Selbstverständnis.„Lehren beginnt [...] mit dem Schaffen von Gelegenheiten, die den Schülern Anlass zum Denken geben. – Die Vorbedingung dafür ist, dass man Schülern die Fähigkeit zu denken zuschreibt. (...) Das stellt Anforderungen an Lehrer, die lange übergangen worden sind.“ (von Glasersfeld 2002 in Arnold et al. 2003, 23)
Diese Sichtweise ist für die möglichen Perspektiven einer systemisch-konstruktivistischen Pädagogik fundamental. Wenn die Systeme Lehren und Lernen selbstorganisiert funktionieren, dann sind sie in Bezug auf ihre Entwicklungen jeweils auf ihre eigenen Zustände rückbezogen, d.h. selbstreferenziell. Daraus folgt, dass Lehrende und Lernende sich das aneignen, was in ihr eigenes kognitives System passt. Der Mensch ist „ein Möglichkeitswesen, dessen Reaktionen und Verhaltensweisen prinzipiell unvorhersehbar sind.“ (Heinz von Foerster in Arnold/ Gómez Tutor/ Kammerer 2003, 109) Lehrerhandeln und Schülerdenken muss letztlich neu gedacht werden, um die Möglichkeiten aller beteiligten AkteurInnen zu erhöhen. Arnold spricht mit dem Terminus „ermöglichungsdidaktische Professionalität“ überspitzter Weise von einem potenziellen Wechsel „vom pädagogischen Narzismus zur pädagogischen Gelassenheit“. „Das Selbstverständnis von Lehrenden wird sich damit wandeln von dem eines Experten für das „Was“, also dem eines Vermittlers von Inhalten, hin zu einem Selbstverständnis, das neben inhaltlicher Förderung auch die Begleitung, Beratung und Moderation in Lernprozessen im Blick hat.“ (Arnold/ Gómez Tutor/ Kammerer 2003, 113)

Weiterführend beschreibt Arnold eine neue Art von Verantwortung, die den Lehrenden im Lernprozess zugeordnet werden kann wie folgt:


(1) „Ermöglichungsdidaktische LernbegleiterInnen wissen um die Relativität eigener und fremder Deutungen [...] und gehen von der Möglichkeit eigener und fremder Fehler bzw. Fehleinschätzungen aus

(Irrtumsoffenheit).

(2) Sie können Widersprüchlichkeiten [...] stehen lassen [...]

(Divergenztoleranz).

(3) Sie planen den Lernprozess [...] aufgaben- und situationsbezogen [...]

(Veränderungsoffenheit).

(4) Sie verfügen über ein reichhaltiges methodisches Instrumentarium [...]

(Methodenorientierung).

(5) Sie sind darum bemüht, die eigenen arbeits-, kooperations- und kommunikationsmethodischen Kompetenzen der Lernenden zu stärken [...]

(Methodentraining).

(6) Sie können mit Unsicherheit umgehen [...]

(Umgang mit Unsicherheit).

(7) Sie wissen, dass sie Lerneffekte bei den Lernenden nicht sicher bewirken können

(Wirkungsoffenheit).

(8) Sie arrangieren Lernsituationen, die inhaltlich und methodisch eine Vielfalt von möglichen Lernwegen eröffnen

(Lernarrangement).

(9) Sie können sich zurücknehmen und auf die Rolle der Ressourcenperson, des Lernberaters und Lernbegleiters beschränken

(Lernbegleitung).

(10) Sie sind beständig darum bemüht, [...] sich selbst sowie anderen gegenüber eine Beobachterposition einzunehmen

(Beobachterhaltung).“

(vgl. Arnold 2003, 26)
Wesentliche Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind z.B. Folgende: : Welche Wahrnehmungs-, Reflexions- und Gestaltungskompetenzen müssen PädagogInnen für die Initiierung inklusiver Prozesse erwerben? Wie und wann können diese Kompetenzen selbst erworben werden? Denn, auch Lehrende brauchen Zeit zum Erkunden und Entdecken. Jedoch fehlt Ihnen diese oft. In Modellprojekten kann dieses Lernen von LehrerInnen im pädagogischen Kontext noch am ehesten Raum finden. So berichten beispielsweise Geiling u.a. aus einem Schulversuch, dass „[je] länger die GrundschulpädagogInnen im Modellprojekt FLEX tätig sind, desto mehr richtet sich ihr Augenmerk auf die Wahrung einer ganzheitlichen Sicht auf alle ihnen anvertrauten Kinder“ (Geiling 2009, 127). Die hohe „Stabilität sonderpädagogischen Zuständigkeitserlebens [...], die dem veränderten, inklusiv orientierten pädagogischen Kontext nicht Schritt zu halten scheint“ (Geiling 2009, 129), interpretieren die AutorInnen als Ergebnis eines unterschiedlichen Berufsbildes und Professionserlebens von Regel- und SonderschulpädagogInnen. (vgl. dazu auch Benkmann 2005)
Reflexionskompetenzen sind als Voraussetzungen für schulentwicklungsbezogenes Professionswissen von SchulpraxisexpertInnen unabdingbar. Inklusive Prozesse können als Schulentwicklungsprozesse beschrieben werden, in denen das Reflexionsbewusstsein der PädagogInnen ein bedeutendes Verbindungselement zwischen Theorie- und Praxiswissen darstellt. Fried geht in diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass Inkohärenzen im Professionswissen auf Reflexionsdefizite verweisen können. Schulentwicklungsprozesse sind daher umso wirksamer, desto mehr sie zu Beginn oder im Verlauf auch an typischen Reflexionsdefiziten arbeiten (vgl. Fried 2002, 131ff.). Fried verweist darüber hinaus auf konkrete Reflexionsdefizite pädagogischer Professionen (Erziehungsfunktion vs. Leistungsfunktion, Persönlichkeitsbildung vs. Ausbildung, LehrmeisterIn vs. PädagogIn)und erörtert deren Dilemmata und neue Perspektiven.
Der Erwerb einer systemisch-reflexiven Haltung wird als eine notwendige Voraussetzung für professionelles pädagogisches Handeln angesehen. Doch wie ist es möglich diese Haltung zu entwickeln? Arnold argumentiert, dass„[eine] solche Haltung [...] nicht durch Belehrung angebahnt und grundgelegt werden [kann], sie erfordert vielmehr ein doppelbödig-transformatives Lernen, das die Systemik der eigenen Lernprozesse selbst als solche erleb- und beobachtbar werden lässt. Eine wesentliche Voraussetzung ist hierfür zunächst die Aneignung grundlegender systemtheoretischer [und konstruktivistischer] Begrifflichkeiten und Einsichten [...]“ (Arnold 2003, 26f.)als auch deren Selbsterfahrung. Nur wer die Wirkmechanismen im eigenen Lernprozess selbst erfahren und reflektiert hat, ist in der Lage diese weiterzugeben. Selbsterleben und Selbstreflexion sollten daher zu den elementaren Bestandteilen im Ausbildungskontext zählen.
Analysiert man das Konzept eines ermöglichungsdidaktischen Arrangements von Lehr- und Lernsituationen genauer, so wird schnell deutlich, dass für diese Lernkultur Selbstlernkompetenzen notwendig sind. „[Eine] konstruktivistische Ermöglichungsdidaktik [...] geht von einem Wissenserwerb aus, bei dem Bildungsinhalte selbsttätig erschlossen werden und der Wissenserwerb somit auf die Selbsterschließungskräfte der Lernenden abgestellt ist.“ (Arnold/ Gómez Tutor/ Kammerer 2003, 112) Infolgedessen ergibt sich mit der Notwendigkeit der Förderung der Selbstlernkompetenzen der Lernenden ein neues Aufgabenfeld für die Lehrenden. Als logische Konsequenz dieser Anforderung resultiert daraus wiederum die Rolle der Lehrenden als BeraterInnen für Lernprozesse. Die beratende Begleitung der Lernenden – gerade im Kontext des Lernkulturwandels und der damit einhergehenden neuen und ungewohnten Herausforderung „allein“ für das eigene Lernen verantwortlich zu sein – „kann Sicherheit und Vertrauen vermitteln und zur Einsicht verhelfen, dass Fehlschläge der Beginn für neue Fragen und Einsichten sein können.“ (Arnold/ Gómez Tutor/ Kammerer 2003, 115) Beratung ermöglicht den Lernenden sich über ihr Lernen bewusst zu werden und es zu reflektieren.
Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass inklusionspädagogische Bestrebungen weitreichende Konsequenzen für alle am Entwicklungsprozess Beteiligten nach sich ziehen. Vor allem PädagogInnen sind durch die veränderten Strukturen gefordert ihr bisheriges professionelles Selbstverständnis zu überprüfen und ihre Rolle neu zu definieren. In Bezug auf ermöglichungsdidaktische Überlegungen stehen Lehrende aufgrund der neuen offeneren Lernkultur vor der Herausforderung flexibler zu handeln. Dafür bedarf es zusätzlicher und weiterentwickelter Kompetenzen wie z.B.:

Im Folgenden werden die Perspektiven und Möglichkeiten reflexiven Denkens und Handelns im pädagogischen Alltag näher betrachtet. Es wird die Frage nach der Nützlichkeit von Beratungs- und Moderationskompetenzen für und von PädagogInnen gestellt.

2. Chancen reflexiven Denkens und Handelns im pädagogischen Kontext

„Seinen eigenen Geist zu konstruieren heißt, seine eigene Sprache zu konstruieren, statt sich das Maß des eigenen Geistes durch dieSprache, die andere Menschen uns hinterlassen, vorgeben zu lassen.“(Rorty in Deissler 1997, 158)
Jeder hat die Möglichkeit in verschiedenen Situationen auf vielfältigste Art und Weise zu reagieren. Nur die reflexive Beobachtung unseres (pädagogischen) Handelns gestattet es, Erfolge und Misserfolge unseres Vorgehens zu erkennen und zu verstehen. Reflexivität bedeutet dabei, „dass sich Denken und Handeln in einem ständigen Hin und Her aneinander brechen“ (Giddens 1995 in Opp 1998, 154). Die Reflexivisierung pädagogischen Handelns meint insbesondere den Aspekt, dass wir die zu erwartenden und möglichen Folgen und Risiken professionellen Handelns mitdenken. Begrifflich beschreibt das Prinzip der Reflexivierung einen „Doppelprozess des Reagierens auf Umweltveränderungen (Reflex) und die kognitive Verarbeitung dieser Umweltveränderungen (Reflexivität).“ (Opp 1998, 154)
„In der derzeitigen Praxis der Integration zeigt sich folgendes Dilemma: [...] Während LehrerInnen im integrativen Unterricht arbeiten, unterscheiden sie ihre SchülerInnen in ihren Köpfen. Dabei unterscheiden nicht Wenige in: behindert/ nicht behindert. Klassifikationen sind ein nützliches Hilfsmittel zum Sortieren (zum Erzeugen von Unterschieden). Aber wir sortieren nicht die Wirklichkeit, sondern wir erzeugen sie, indem wir sortieren. Dieser Gedanke ist wegweisend. Integration findet in den Köpfen statt. Die Meinungen der Beteiligten sind entscheidend für das Hervorbringen von Problemen als auch für das Hervorbringen von Lösungen.“ (Jäpelt 2009, 79)
Schließlich stellt sich die Frage danach, welche Kompetenzen PädagogInnen entwickeln müssen, um die an sie gestellten Anforderungen erfüllen zu können. Bosse und Dauber (2005) benennen vier pädagogische Basiskompetenzen - Selbstkompetenz, Handlungskompetenz, Sozialkompetenz und Systemkompetenz - und kommen zu dem Ergebnis, dass heutige PädagogInnen ihre individuellen pädagogischen Kompetenzen meist nicht als ausreichend für die derzeitigen Anforderungen im Schulkontext einschätzen. Gibt es Kompetenzen, die es ermöglichen zwischen Menschen nicht mehr zu sortieren und zu unterscheiden? Wären sie hilfreich für den pädagogischen Alltag?
Es wird davon ausgegangen, dass ein Unterschied darin liegen könnte, wie mit den existenten Klassifizierungen umgegangen und wie diese reflektiert werden können. Diese Sichtweise gründet auf der Annahme, dass Handlungen, wie das Sortieren immer selbstreproduzierend sein müssen. Vordergründig scheint der Gedanke dabei, dass nicht die Meinungen der Beteiligten, sondern deren Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion vielfältige Wirklichkeiten nebeneinander produzieren könnten. Daher wird verstärkt der reflexive Aspekt des systemischen Beratungsansatzes und nicht das beraterische Handeln selbst im Zentrum der Betrachtung stehen. (Sonder-)Pädagogisches Handeln als professionelles Handeln ist letztlich nur in Orientierung an Elementen des Beratungshandelns anzustreben. Dabei gewinnen besonders Prinzipien, die im Prozess der Beratung handlungsleitend sind an Bedeutung: „Systemisches Denken, Konstruktivistisches Denken, Konstruktionistisches Denken, Ressourcenorientierung, Sprache und Narration, Nicht - Expertentum, Prozessorientierung“ (Jäpelt 2009, 80). Veränderung geschieht jedoch nur durch Selbstveränderung: „Selbstreflexion ist die Basis für jeglichen Veränderungsschritt. Erst wenn das „Ja-Aber“ in uns leise geworden ist, können wir uns die Welt neu erfinden: Wir [...] [sind dann] in der Lage [...], die Wirklichkeit so wirken zu lassen, wie diese – unabhängig von unseren Erfahrungen und Wahrnehmungsgewohnheiten – in Erscheinung treten möchte.“ (Arnold 2009, 201)
Der fortschreitende Prozess reflexiver Professionalisierung pädagogischen Handelns verlangt nicht nur die Fähigkeit zur Selbstreflexivität und Autonomie der PädagogInnen in dem Sinne, dass Eigenkontrolle zunehmend mehr Relevanz erlangt. Er erfordert darüber hinaus eine flexible Spezialisierung der Professionellen im Umgang mit beschleunigten Innovationen, institutionellen Entwicklungen und neuen ethischen Grundsätzen ihres Handlungsfeldes. „Um kreativ und flexibel auf die veränderten Umwelten und den individuellen Hilfebedarf reagieren zu können, müssen die Einrichtungen [...] lernende Organisationen werden.“ (Opp 1998, 155) Ergebnisse der neueren Schulforschung zeigen in diesem Zusammenhang, dass vor allem die Qualität einer Schule an dem Umfang der praktizierten professionellen Selbstreflexion (sowohl individuell als auch im Team) ausgemacht werden kann. Eine Schule, die sich als „lernende Organisation“ begreift, versteht die Entwicklung reflexiver Professionalität als kontinuierlichen Lernprozess, der nur erfolgreich sein kann, wenn der Einzelne bereit ist, sich selbst zu reflektieren. „Pädagogisches Scheitern darf nicht als Niederlage verstanden werden! Es muss als Inspiration und Stimulus professionellen, auch kollegialen Nachdenkens auf der Suche nach neuen Wegen des Umgangs mit schwierigen pädagogischen Problemen interpretiert werden. Dies ist die Kernüberzeugung eines reflexiven, kollegial geteilten Professionsverständnisses“ (Opp 1998, 157).
Die Studie von Kopp zur inklusiven Überzeugung und Selbstwirksamkeit von Lehramtsstudierenden stellt den Aspekt der Selbstwirksamkeit im Umgang mit Kindern in heterogenen Schulkontexten als professionelle pädagogische Handlungskompetenz heraus. Dabei differenziert sie vier Dimensionen, die im Umgang mit „besonderen Kindern“ im Bezug auf Selbstwirksamkeit sichtbar werden (vgl. Kopp 2007, 18): adaptive Unterrichtsgestaltung, Stiftung eines inklusiven Klassenklimas, inklusive Lehrerpersönlichkeit, erfolgreiches Unterrichten. „Wenn Überzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen wesentliche Faktoren professioneller Handlungskompetenz von Lehrpersonen sind (Baumer&Kunter2006), dann müssen diese für den Umgang mit Heterogenität in Aus- und Fortbildungssituationen in den Blick genommen werden.“ (Kopp 2007, 6)
Doch wie kann die Fähigkeit von Reflexivität im Prozess der Ausbildung vermittelt werden? Reflexionskompetenzen entwickeln sich durch Erfahrungen, sie können nur schwer vermittelt werden. Zukünftige PädagogInnen müssen demnach Angebote in ihrer Ausbildung erfahren, die vordergründig auf die Entwicklung und Kultivierung von (Selbst-)Reflexivität in Bezug auf das eigene professionelle Selbstverständnis zielen.
„Inklusive Überzeugung“ ist im Kontext von Schule vor allem „in Abhängigkeit der Einschätzung von unterrichtsorganisatorischen Maßnahmen und Bedingungen des Schulsystems zu sehen“ (Kopp 2007, 21). Die Einstellungen von LehrerInnen, wie sie Lernsituationen von Kindern mit Beeinträchtigungen in heterogenen Klassensituationen beurteilen, werden durch die Zustimmung oder Ablehnung struktureller Homogenisierung von Lernzielen deutlich. Oft fehlt es PädagogInnen an Wissen und Erfahrung, ihren Unterricht lernzieldifferent und adaptiv zu gestalten. Daraus ergibt sich auf fachdidaktischer Ebene für die Ausbildungssituation von Studierenden die Notwendigkeit, Formen des lernzieldifferenten und adaptiven Unterrichts kennen zu lernen. Zum Teil ist dies seit einiger Zeit zur Realität im hochschuldidaktischen Bereich geworden. Dennoch zeigt sich auf praktischer Ebene nur wenig positive Resonanz im Umgang mit Heterogenität in inklusiven Kontexten, da die grundlegende pädagogische Haltung als Basis für das pädagogische Handeln weiterhin Vernachlässigung erfährt. Die Ausführung von innovativen Konzepten für den Unterricht bedarf nicht nur fachdidaktischen Wissens, sondern in erster Linie einer Werthaltung, welche die Lernenden aktiv an der Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse beteiligt, sie sich bilden lässt und nicht versucht, sie auszubilden. Dieser Anspruch an Unterricht wäre auch auf die Ausbildungssituation zukünftiger PädagogInnen übertragbar, wenn Seminarangebote in ihrer didaktischen Gestaltung und ihrem Dozentenverständnis auf einem humanistischen Menschenbild aufbauen würden. „Die Verhaftung an tradierten Rollenvorstellungen des Wissensvermittlers bereitet dabei vielen Lehrern Probleme auf dem Weg zu einem Lernbegleiter, der auf die Selbstlernfähigkeit der Schüler vertrauen und sie darin bestärken und unterstützen muss.“ (Anken 2010, 110) Formen selbstorganisierten, selbstbestimmten und reflexiven Lernens erhalten dabei einen neuen Stellenwert. Die Entwicklung hin zu einer reflexiven Lernkultur in der pädagogischen Professionalisierung kann als eine mögliche Antwort auf die stetig steigenden Heraus- und Anforderungen an heutige Pädagogen und als Chance zur Entwicklung einer eigenen reflektierten Haltung im professionellen Kontext gesehen werden. Reflexive Lernkulturen könnten im Optimalfall als Katalysatoren für die Entwicklung einer systemischen Grundhaltung und eines reflektierten Verständnisses des eigenen Denkens und Handelns wirksam werden. Die Entwicklung reflexiver Kompetenzen wird so zum Erleben von „Selbstwirksamkeit im Umgang mit Heterogenität“ und dem Empfinden der eigenen „inklusiven Überzeugung“ durch die Kompetenz der Reflexion eben dieser Konstrukte einen Beitrag leisten.

3. PädagogInnen als BeraterInnen oder BeraterInnen für PädagogInnen?

„Lehrerinnen und Lehrer werden als BeraterInnen gebraucht, die als „changeagents“ (Fullan 1999) die Lern- und Veränderungsprozesse ihrer SchülerInnen begleiten. Ihr Fokus richtet sich zunehmend auf die Gestaltung von Bedingungen und Beziehungen (Lernumwelten), die Lernen wahrscheinlicher werden lassen.“ (Jäpelt2009, 76)
SonderpädagogInnen werden in Zukunft mit einem veränderten professionellen Selbstverständnis konfrontiert werden, in dem die bisherigen sonderpädagogischen Tätigkeiten nicht ausgeschlossen, aber grundlegend erweitert werden. Palmowski schlägt vor, die „SonderpädagoInnen als BeraterInnen [...] zum innovativen „Werkzeug“ der Unterrichts- und Schulentwicklung von Grund- und Regelschulen“ (Palmowski 2004 in Jäpelt 2009, 74) werden zu lassen. Pädagogische Sichtweisen könnten so auf der Organisationsebene Schule neu gestaltet werden. Aber: Würden alle SonderpädagogInnenBeraterInnen, so verfiele die Sonderpädagogik zur Beratungspädagogik. Im Kontext von Inklusion bedeutet das, dass Sonderpädagogik auf dem Weg zu einer Allgemeinen Pädagogik nicht inkludiert, vielmehr exkludiert und transformiert werden müsste und ihren eigentlichen Anspruch verliere. Diese Entwicklung von inklusiven Prozessen ist keine, die zur Wertschätzung der Idee von Inklusion beitragen könnte, da die Wertschätzung von Inklusion die Wertschätzung all ihrer Elemente voraussetzt.
Betrachtet man den Beratungsansatz, den Palmowski seinem Verständnis von Beratung zugrunde legt, so wird deutlich, das systemisches Denken in der Beratung als (sonder-)pädagogische Kategorie angesehen wird. Die Bedeutung systemtheoretischer Paradigmen wird in den letzten fünfzehn Jahren zunehmend von verschiedenen Autoren betont (vgl. Palmowski 1995, 1997, Speck 1998, Hagmann &Simmen 2000, Hillenbrand 2002, Reiser 2006). Die Erkenntnistheorie des konstruktivistischen Denkens (radikaler Konstruktivismus und sozialer Konstruktionismus) bietet dafür einen Erklärungsrahmen, der von der Konstruktion unserer Wirklichkeiten ausgeht. Behinderung wird so zu einer Kategorie des Beobachters, da sie im konstruktivistischen Denken eine Konstruktion individueller Sichtweisen auf Wirklichkeit darstellt.
PädagogInnen wird im Prozess der Schulentwicklung die bedeutendste Rolle zugesprochen. Dabei entstehen unterschiedliche Ansprüche an die Rolle des Lehrenden. Von „außen“ betrachtet, soll der Lehrende den Lernstoff vermitteln und Lerngelegenheit arrangieren, d.h. Unterricht organisieren. Der Selbstanspruch des Lehrenden fokussiert im Gegensatz dazu vielmehr die Funktion des Lehrers als Pädagogen und Erzieher, der beratend tätig ist. Die große existente Divergenz zwischen fremden und eigenen Rollenanforderungen von PädagogInnen belegen zahlreiche Studien (vgl. Lutter 1999, Wulf &Groddeck 1977). Fried schildert, dass LehrerInnen – auch extra ausgebildete BeratungslehrerInnen – zumeist „Versagenserlebnisse“ erfahren, wenn sie versuchen beide Leitbilder zusammen zu bringen: „[...] selbst wenn sie die Dinge bewusst nacheinander angingen, [...] erreichten sie nicht die Ziele, die sie sich gesteckt hatten, weil sie an der Tatsache scheiterten, dass Schule vor allem auf Unterricht, kaum jedoch auf Beratung eingestellt ist.“ (Fried 2002, 149) An dieser Stelle wird deutlich, dass der Erfolg von Schulentwicklungsprozessen auch von Selbstwirksamkeitserwartungen der agierenden PädagogInnen abhängt.
Ausgehend von der Annahme Beratungskompetenzen seien eine Schlüssel-qualifikation pädagogischer Professionalität, verstehen sich vorhandene Beratungskonzepte mit ihren theoretischen Begründungsrahmen als Bereicherung für das Aus- und Weiterbildungsangebot von PädagogInnen (nur) in außeruniversitären Kontexten (vgl. Schildberg 2005, 313). Das Konzept von Beratung wurde bisher fast ausschließlich im pädagogischen Kontext im Bereich der Schul- und Unterrichtsentwicklung angewendet und evaluiert. Im hochschuldidaktischen Feld ist die Forderung nach der Möglichkeit des Erwerbs von Reflexions- und Beratungskompetenzen für PädagogInnen eher als innovativ zu bewerten. Die Umsetzung der Idee Beratungskompetenzen in den Prozess der pädagogischen Professionalisierung zu implementieren, ist bis heute deutschlandweit nur in Ansätzen registrierbar.
Die Zukunftsvision, die den Erwerb von Beratungs- und Handlungskompetenzen als festen Bestandteil der Grundausbildung von Studierenden pädagogischer Fachrichtungen an den Hochschulen sieht, gewinnt immer mehr an Bedeutung (vgl. Jäpelt 2009). Das Ziel der Entwicklung einer reflexiven Schulkultur durch Erweiterung der Professionalität der PädagogInnen um Beratungskompetenzen im Schulkontext könnte somit in den Hochschulkontext integriert werden. Auch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die Etablierung einer reflexiven Schulkultur das Vorhandensein einer reflexiven Lernkultur im Hochschulbereich voraussetzt. Eine ausführliche Darstellung, wie vorhandene Beratungskonzepte um Ideen und Perspektiven bereichert werden können, die aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen in inklusiven Prozessen im Ansatz bedenken und das Innovationspotenzial zum Anstoß neuer Denkweisen für Lehrende und Lernende entfalten können, kann aus Gründen der Komplexität der Thematik nicht im Detail besprochen werden. Jedoch wird versucht, die Frage nach der „Passung“ vorhandener Beratungsansätze für den Erwerb von Reflexions- und Beratungskompetenzen in inklusiven Kontexten auszugsweise zu betrachten.

4. Die Schule als Ort hoher Beratungskultur – Wie kann das gelingen?

„Man kann einem Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, sich selbst zu entdecken“(Galilei 1603 in Stabenau 2003, 187).
Die Herausforderung des systemisch-konstruktivistischen Denkens und dessen Implementierung in die aktuelle Schulwirklichkeit besteht darin, dass es ein epistemologisches Paradigma und keine Technik ist. Es ist ein Um-Neu-Denken erforderlich in Bezug darauf, was Erkenntnis, Wissen und Lernen heißt. Jedes lebende System konstruiert sich im Sinne eines radikal konstruktivistischen Verständnisses seine Welt-Wirklichkeit subjektiv, selbstorganisierend und systemimmanent neu (vgl. Tomaschek 2006, 49).
Schulen, die sich in Prozessen inklusiver Entwicklung befinden, bedürfen eines Beraters, der seine Rolle „als die des neugierigen, reflexiven Fragers und Beobachters [...] zu definieren“ (Tomaschek 2006, 51) versteht. Systemisch-konstruktivistische Beratung nimmt in diesem Kontext eine Ratgeberfunktion zur kollektiven Suche nach möglichen Lösungen ein und ist keine expertenorientierte Fachberatung. Das Innovationspotenzial des systemischen Ansatzes in der Beratung von organisationalen Systemen liegt darin, dass die Möglichkeiten und die Ressourcen für Veränderungen im System a priori verankert sind. BeraterInnen sind ProzessspezialistInnen. Königswieser und Pelikan skizzieren Grundzüge einer systemischen BeraterInnenhaltung: Bescheidenheit, Genauigkeit und Kontrolliertheit.

Haltung/ Weltbild

Bescheidenheit

Genauigkeit

Kontrolliertheit

Relativität der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen & Autoritätspositionen
Abschied von Omni-potenzphantasien
Fokussieren der Ressourcen

Auftragsgestaltung
Hypothesenbildung
Systemgrenzen
Reflektion der Relationen

 

Distanz zum Klienten
keine aufdeckende Intervention
Ansetzen bei Handlungen
kein pädagogisches Engagement
Übersetzungsarbeit des Gedachten in Interventionen

Abb. : Haltung in der systemischen Beratung (vgl. Königswieser/ Pelikan 2006 in Tomaschek 2007, 323)
Wir leben in einer Zeit, die durch einen beschleunigten Wandel an situativen Herausforderungen gekennzeichnet ist. Einerseits „Schnelllebigkeit“, „Kontingenz“, „zunehmend komplexere Handlungsanforderungen“ und andererseits ein Streben nach „Kontinuität“, das Bedürfnis nach „autonomen Entscheidungen“, „Ganzheitlichkeit“ und „Verhaltensvereinfachung“. Mit Blick auf die Debatte zum gesellschaftlichen Wertewandel wird offensichtlich, dass tradierte Werte wie „Disziplin, Fleiß und Pflichterfüllung“ an Bedeutung verlieren und postmaterialistischen Werten wie „Partizipation, Autonomie und Selbstbestimmung“ mehr Relevanz zufällt. Besonders im pädagogischen Bereich steigen in diesem Zusammenhang die Kompetenzanforderungen an Lernende und Lehrende gleichermaßen. Die Fähigkeit zum Umgang mit sich fortwährend verändernden Rahmenbedingungen und Unsicherheiten gehört dabei zu einer der grundlegenden Kompetenzen, sowohl für SchülerInnen als auch für PädagogInnen. (vgl. Stabenau 2003, 187f.). Lernberatung ist seit einigen Jahren eine Antwort auf die aktuellen und zukünftig anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen im Bildungssystem. Im Kontext des sich abzeichnenden Lernkulturwandels wachsen die Anforderungen an Lernende, eigenaktiv und selbstorganisiert zu arbeiten. Für die Schule entsteht daher die Konsequenz, „Lernenden durch ein Lern-/ Lehr-Setting die Reflexions-, Planungs-, Gestaltungs- und Evaluations-Freiräume zu schaffen, die es ermöglichen, „selbstorganisiert bzw. selbstgesteuert, konstruktiv und situiert (auf ihre Lebenssituation) bezogen eigene Lernprozesse zu realisieren“ (Arnold 2001, 84).“ (Klein 2003, 170)
Unweigerlich stellt sich die Frage, was für einen Beitrag Lernberatung – als ein Beratungsauftrag von Schule – auf dem Weg in eine neue Lern- und Schulkultur leisten kann. Zahlreiche bildungspolitische Veränderungen haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass heute im schulischen Bereich der Bedarf an Beratung sowie das Angebot an Beratungsmöglichkeiten breiter denn je vorhanden sind. Vor allem die sich entwickelnde und voranschreitende Eigenverantwortung der einzelnen Schule erfordert „ein bedarfsorientiertes Beratungssystem nicht nur für individuelle Belange, sondern für die gesamte Organisationseinheit Schule.“ (Huber 2010, 14) Beratung wird dabei im schulischen Kontext zunehmend als Systemunterstützung und nicht nur als traditionelle Einzelfallhilfe wirksam: „Systemberatung im Rahmen von Schul- und Organisationsentwicklungsprozessen basiert vor allem auf Kooperation und Verständigung und begleitet auf systematische Weise schulische Entwicklungsprozesse, indem Probleme analysiert, Lösungswege initiiert werden und Hilfe zur Selbsthilfe geboten wird.“ (Huber 2010, 14)
Als wichtiges Qualitätsmerkmal einer guten Schule zählt mittlerweile ein differenziertes Beratungs- und Unterstützungsangebot. Doch wie können Schulen ihre Beratungsfähigkeit steigern und schließlich eine hohe Beratungskultur entwickeln?
Beraten zählt wie Erziehen, Unterrichten und Bewerten/ Beurteilen zu den zentralen Aufgaben aller schulischen AkteurInnen. Leider wird das Beraten in seiner Bedeutung und mit seinen komplexen Anforderungen nicht selten unterschätzt und vernachlässigt. Wie gut und intensiv Beratungsgespräche an einer Schule stattfinden und angeboten werden, hängt aktuell an vielen Schulen noch weitgehend von deren persönlicher Motivation, ihrer individuellen Erfahrung und ihren jeweiligen Rahmenbedingungen ab. Ein erster Schritt in Richtung des Ziels eine Beratungskultur zu entwickeln, könnte darin bestehen, die Beratungskompetenzen der Lehrkräfte zu fördern. Durch externe und schulinterne Fortbildungen wäre es möglich, Beratungstechniken zu erlernen und weiterzuentwickeln, selbst Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, mit der Intention die eigene Beratungskompetenz zu professionalisieren. Eine Steigerung der Beratungsqualität der Lehrkräfte würde folglich wesentlich zu einer Verbesserung der Kultur der Schule beitragen. Weiterhin könnte das bisher vorhandene Beratungsnetzwerk der Schule verstärkt genutzt, erweitert und optimiert werden, um ihr ein wertvolles Unterstützungssystem zu sichern. Die Beratungsqualität einer Schule ist oft neben den personellen Bedingungen auch von den räumlichen, sächlichen und zeitlichen Umständen abhängig. Vorteilhaft wäre es daher, Lehrkräften freie Zeitfenster einzuräumen, in denen sie Beratungen mit Schülern und Eltern durchführen können. Konkretere Ansatzpunkte für die Umsetzung dieses Vorhabens könnten dabei z.B.:

Darüber hinaus ist es empfehlenswert vorhandene Beratungskompetenzen und -erfahrungen weiterer Akteurinnen im schulischen Kontext (wie z.B. die beratende Rolle des SchülerInnenrats und der Eltern) einzubinden. Hierbei können gesammeltes Wissen und erlebte Erfahrungen weitergegeben und so Schule als „lernende Organisation“ gestaltet werden. Wenn alle schulischen AkteurInnen Beratung als Erziehungs- und Führungsaufgabe betrachten, dann sollte schließlich ein individuell entwickeltes Beratungskonzept in das Schulprogramm integriert werden.

5. Fazit

LehrerInnen sind zunehmend gefordert mit mehr Widersprüchen (Fallbezug vs. Theorieorientierung, Nähe vs. Distanz) umzugehen. Hinzu kommen die steigenden Kompetenzanforderungen wie z.B. die Kultivierung pädagogischer Reflexivität und Entwicklung von Ambiguitätskompetenzen sowie von metakognitiven Kompetenzen. Mit Blick auf die Professionalisierungsdebatte um PädagogInnen ist die grundlegende Schwierigkeit pädagogischer Professionalität nicht außer Acht zu lassen. Denn Erziehung impliziert eine Intension, die nur vom Gegenüber selbst hervorgebracht werden kann. Die Diskussion um die pädagogische Professionalität darf daher nicht zur Abnahme der Verantwortung für den eigenen Lernprozess auf Seiten der Lernenden führen. Dies gilt gleichermaßen für die Seite der lernenden PädagogInnen, welche die Verantwortung für die Erfolge ihrer Bildungsbemühungen nicht auf Seiten der Anbieter der Fort- und Weiterbildungsangebote suchen, sondern selbst sicherstellen sollten.
Eine innovative und nachhaltig veränderte Lehrerbildung kann schließlich nur dann erfolgreich sein, wenn sie LehrerInnen in den Verhältnissen stärkt, die es ihnen ermöglichen mit Widersprüchlichkeiten im Schulalltag umzugehen. Die Handlungsfähigkeit von PädagogInnen in herausfordernden Situationen kann vor allem durch die Fähigkeit zum reflexiven Denken und Handeln beständig bleiben. Völkel (2005) setzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Kontingenzinklusion, welche die Fähigkeit beschreibt, sich auf ambivalente Widersprüchlichkeiten nicht nur vorzubereiten, sondern sich auch in diesen Situationen weiterzuentwickeln. Ermöglichungsdidaktische Ansätze könnten dabei Ausgangspunkt für die Verknüpfung mit reflexiven Methoden des Lehren und Lernens sein, um die Entfaltung von Reflexionskompetenzen in Ausbildungskontexten zu ermöglichen. Kontingenzinklusion zeigt sich aus konstruktivistischer Sicht im Kontext von Schule und Unterricht sowie der Lehrerbildung in einem hohem Maß an Selbststeuerung und Reflexivität in wechselseitigen Kommunikationsprozessen und einem rechten Maß an Verantwortungsübernahme und Verantwortungsüberlassung.

Im Zuge der Überlegungen zu Perspektiven einer inklusiven Schulentwicklung ergibt sich für die gegenwärtige Sonderpädagogik eine grundsätzliche Frage: Wie können zukünftig die neuen und alten sonderpädagogischen Berufsrollen im Kontext von Schulpraxis sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung miteinander kombiniert werden? (vgl. Lindmeier 2003, 50f.) Darüberhinaus könnte die entwickelte Praxis der „Pädagogik der Vielfalt“ sonderpädagogischen Handelns und die Heterogenität individueller Bedürfnisse zu weiteren Differenzierungen herausfordern. Die aktuellen und zukünftig zu erwartenden Bemühungen hinsichtlich einer inklusiven Schulentwicklung werden ein Schulsystem entstehen lassen, dass sich zunehmend durch eine Vielfalt an Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder auszeichnet. Dabei werden Irritationen und Entscheidungsfragen auftreten, die sich auf den optimalen Lernort (z.B. in Bezug auf personelle und räumliche Bedingungen) für jedes Kind beziehen. Lehrer_innenbildung muss es gleichermaßen gelingen, wissenschaftliches Wissen zu vermitteln, Reflexionsfähigkeit zu entwickelt und auf einen konstruktiven  Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Vielfalt in der pädagogischen Praxis vorbereiten. 

6. Literatur

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