Abstract: Der Beitrag soll die Notwendigkeit einer veränderten Lehrerbildung auf dem Weg zur Einlösung des Rechts auf inklusive Bildung aufzeigen und die Erfahrungen der Autoren mit einem interdisziplinären Seminar der Schul- und Sonderpädagogik an der Universität Würzburg, das unter dem Titel „Inklusive Schule gestalten“ Studierende des Lehramtes für Sonderpädagogik und der Lehrämter an Regelschulen zusammenführt, aufzeigen. Im Mittelpunkt des Beitrags soll dabei die Frage nach dem Umgang mit Heterogenität in der Schule und den daraus ableitbaren Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung stehen.
Stichworte: Inklusion; Lehrerbildung; Schulpädagogik; Sonderpädagogik; team teaching; Heterogenität; UN-Konvention
Inhaltsverzeichnis
Der bildungspolitische Auftrag zur Gestaltung eines wohnortnahen inklusiven Bildungssystems ist in Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) klar formuliert und von der Bundesrepublik Deutschland als einem von 154 Staaten ratifiziert: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen. (...) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, (...) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“ (Bundesgesetzblatt 2008, S. 1436f.)
Diese Aufgabe wirft zwangsläufig auch die Frage auf, wie die Lehreraus- und weiterbildung zukünftig gestaltet werden soll, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Auf zwei Aspekte der aktuellen Diskussion um die Umsetzung der UN-BRK in der BRD soll zur Einordnung der folgenden Ausführungen nochmals hingewiesen werden: Zum einen die Verdeutlichung der Tatsache, dass es sich bei der UN-BRK um eine menschenrechtliche Vorgabe handelt, die insofern normative Kraft besitzt und zwingend Veränderungen einfordert. Die Versuche, die bestehende Situation des erreichten Bildungsrechtes für alle Kinder in mehrheitlich separierenden Institutionen und die vereinzelten Ansätze von Integration in der BRD als ausreichend für ein inklusives Bildungssystem darzustellen, können demzufolge nicht akzeptiert werden.
Zum anderen soll nochmal ins Bewusstsein gerückt werden, dass die Umsetzung des Art. 24 die Bundesrepublik bildungspolitisch vor eine ganz spezielle Aufgabe stellt, wie sie mit den bestehenden Institutionen und der differenzierten Lehrerbildung im Sinne einer Gewährleistung eines inklusiven Bildungssystems umgeht, da sie als eines der wenigen der ratifizierten Länder ein solch differenziertes System der schulischen sonderpädagogischen Förderung aufgebaut hat.
Neben der bildungspolitischen Aufgabenstellung der Gewährleistung eines inklusiven Bildungssystems wird - und dies kann nicht häufig genug in das Bewusstsein gerückt werden – in Art. 24 auch eine Zielvorgabe für die qualitative Unterrichtsituation formuliert, die ausschließt, dass bei Kindern mit Behinderung der Aspekt der sozialen Integration im Vordergrund steht und individuelle Förderung in einem hochwertigen Unterricht vernachlässigt werden kann. Denn natürlich gilt es, die im separierenden System erreichte Qualität der sonderpädagogischen Förderung zu erhalten, die guten Erfahrungen aus der punktuellen integrativen Unterrichtung, die es seit den 70er Jahren gibt, nicht abzuwerten und gleichzeitig die notwendigen Schritte in den Aufbau des inklusiven Bildungssystems zu gehen. Dies erfordert neben den strukturellen Veränderungen im Bildungssystem zur Aufrechterhaltung der erreichten Qualität der sonderpädagogischen Förderung insbesondere didaktische Kompetenzen für den gemeinsamen Unterricht und somit ausreichend qualifiziertes schulisches Personal, das den Anforderungen des geforderten „hochwertigen integrativen“ Unterrichts gerecht wird.
Diese als evident erscheinende notwendige Priorisierung der Lehreraus- und -weiterbildung für eine Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems wird in zahlreichen Veröffentlichungen gefordert und angemahnt, spielt in den Diskussionen um Umsetzungsmöglichkeiten eine große Rolle, insbesondere auch bei ablehnenden Bedenkenträgern mit dem Hinweis, dass Veränderungen erst dann angegangen werden könnten, wenn für diese Aufgabe qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen würde.
Dieser von Befürwortern und Bedenkenträgern also gleichermaßen zu priorisierenden Aufgabenstellung stehen überraschend wenige konzeptionelle Überlegungen in den staatlichen Veröffentlichungen gegenüber.
So nehmen sich die neuen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz mit dem sperrigen Titel „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“, die im Oktober 2011, zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK in der BRD fast unbemerkt verabschiedet wurden, dieses wichtigen Themas kaum an und formulieren in enger Anlehnung an den Text der UN-BRK lediglich: „Die Länder gewährleisten, dass sich Lehrkräfte aller Schulformen in Aus-, Fort- und Weiterbildungen auf einen inklusiven Unterricht vorbereiten.“ (KMK 2011, 20)
Ebenso unbemerkt ist auch der zwei Jahre nach dem Inkrafttreten verpflichtende erste Staatenbericht veröffentlicht worden, der zur Frage der Lehrerbildung etwas konkreter Stellung bezieht: „Die Länder erarbeiten unter anderem Gesamtkonzepte, die darauf ausgerichtet sind, dass (...)die Pädagogik und nicht zuletzt die Lehrerbildung perspektivisch so gestaltet werden, dass an den allgemeinen Schulen ein Lernumfeld geschaffen wird, in dem sich alle Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung bestmöglich entfalten können.“ Gefordert wird ebenso eine „bedarfsorientierte Qualifizierung der Lehrkräfte aller Schulformen insbesondere im Hinblick auf Heterogenität und kollegiale Kooperation; „Mitnahme“ der Lehrkräfte aller Schulformen durch ein Beratungs- und Unterstützungssystem.“ (BMAS 2011, 52f) Auch in dieser ersten Rechtfertigung über begonnene Maßnahmen ist wenig konkrete Perspektive ersichtlich und es sind keine Gesamtkonzepte vorgelegt worden. Die inklusive Lehrerbildung bleibt ein Desiderat.
Die rechtlichen Vorgaben die Inklusion betreffend sind also klar und auch die Schulen in Bayern wie anderswo sind gehalten, das Recht der Eltern bzw. Schülerinnen und Schüler auf Inklusion umzusetzen. Trotz der klaren Vorgaben der UN-BRK und der Empfehlungen der KMK zeigt sich aber gerade im Bereich der Lehrerbildung, wo sonst mitunter Innovationen im Schulbereich initiiert werden, wie z.B. bei Fragen der methodischen Gestaltung von Unterricht oder im Hinblick auf fachdidaktische Überlegungen, wenig Bewegung in Richtung Inklusion. Traditionell werden in Bayern beispielsweise unterschiedliche Lehrämter studiert, für jede Schulart gibt es einen entsprechenden Studiengang und die Studierenden besuchen gemeinsam Veranstaltungen in den Fächern, Fachdidaktiken oder im erziehungswissenschaftlichen Bereich. Lediglich der Umfang der Belegungspflicht und einige besondere Fächer (z.B. Grundschulpädagogik und –didaktik) unterscheiden die Lehramtsstudiengänge voneinander. Berührungspunkte sind also durchaus gegeben, die sicher auch genutzt werden, um die unterschiedlichen Anforderungen und Erfahrungen der Studierenden auszutauschen, aber der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern und Jugendlichen wird in der Regel stärker von den Sonderpädagogen thematisiert (vgl. Ratz 2011, S. 23f.), sei es, weil das Thema „Inklusion“ zum Spektrum der sonderpädagogischen Inhalte besser passt – Differenzierung bzw. Individualisierung sind da zentrale Themen – sei es, weil die stark ausdifferenzierten sonderpädagogischen Fachbereiche respektive Schulen um ihre Existenzberechtigung fürchten.
Doch das sind nur Vermutungen, Tatsache ist, dass lediglich an zwei Universitäten in Bayern fächerübergreifende Angebote zum Thema „Inklusion“ gemacht werden: An der Ludwig-Maximilians-Universität in München widmet sich eine Grundschulpädagogin zusammen mit einer Sprachheilpädagogin in einem „sporadisch“ stattfindenden Seminar dem Thema „Inklusion als Aufgabe der Grundschule“ (Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Junglehrer im BLLV 2011, S. 3) und an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg bieten die Autoren des Artikels das Seminar „Inklusion als Herausforderung für den Lehrer“ als Kooperation zwischen den Lehrstühlen Schulpädagogik und Pädagogik bei geistiger Entwicklung an. Diese wenigen Beispiele für eine fächer- bzw. bereichsübergreifende Kooperation dürfen im Grunde nicht überraschen, haben sich die akademischen Disziplinen doch immer stärker ausdifferenziert und auch das streng gegliederte bayerische Schulsystem fordert unterschiedliche Lehramtsstudiengänge und suggeriert damit eine jeweils andere Pädagogik für jedes Lehramt[1].
Dabei ist die Frage nach dem Umgang mit Heterogenität in der Schule eine der zentralen Fragen der Schulpädagogik, die sich seit der Etablierung des akademischen Fachs Pädagogik stellt. Ernst Christian Trapp, der den ersten Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Halle innehatte, sieht die Verschiedenheit der Kinder als die zentrale Frage von Schule und Erziehung und er fragt sich in seinem „Versuch einer Pädagogik“ bereits 1780: „Und besonders wie hast du alles dis anzufangen bey einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von dir erzogen werden sollen?“ (Trapp 1780/1977, S.25). Und auch Georg Friedrich Herbart erkennt bereits die Schwierigkeit auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler im schulischen Rahmen einzugehen, auffallend modern ist dabei sein Kommentar zu den Chancen, die Inklusion unterschiedlichen Schularten bieten könnte:
„Die Verschiedenheit der Köpfe ist das grosse Hinderniss aller Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen, und alles nach Einer Schnur zu hobeln veranlassen. Der Schein des Vielleistens, wo nicht [Hervorhebung im Original] viel geleistet werden kann, muss fort. Bürgerschulen beklagen sich, wenn man ihnen die zuweist, die für Gymnasien nicht taugen. Sie begreifen nicht, dass man ihnen die Vielseitigkeit zuweist, wenn auf jenen Philologie einseitig herrscht“ (Herbart 1851, S. 453 ).
Es ist unbestritten, dass der Umgang mit Unterschieden seit dieser Zeit vielfach diskutiert wurde und besonders stark in der Zeit der reformpädagogischen Strömungen und in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Gesamtschuldebatte diskutiert wurde (vgl. Trautmann/Wischer 2011, S. 13).[2] Neu ist am aktuellen Inklusions-Diskurs die Ausweitung der Frage nach Unterschiedlichkeit auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen; die Qualität der Differenz hat sich also geändert, Unterschiede an sich wurden schon immer konstatiert und kontrovers diskutiert.
Wie eng die Frage nach dem Umgang mit Heterogenität auf schulstruktureller und bildungspolitischer Ebene mit Konzepten der Lehrerbildung zusammenhängt, zeigt sehr aufschlussreich Edith Glumpler in ihrem Aufsatz „Entwicklungen und Perspektiven der universitären Lehrerbildung“ (Glumpler 2002, S. 13-46). Der deutsche Bildungsrat hat im Strukturplan für das Bildungswesen vor dem Hintergrund der Akademisierung der Volksschullehrerbildung und der Aufwertung erziehungswissenschaftlicher Anteile im Studium für das Lehramt an Gymnasien wegweisend zur Frage nach der zukünftigen Lehrerbildung 1973 festgehalten: „ [Punkt 3.1, Anmerkung M.E.] Weil allen Lehrerberufen grundlegende Aufgaben gemeinsam sind, hat auch die Ausbildung für den Lehrerberuf viele Gemeinsamkeiten. (…) [Punkt 3.1.2 Ausbildung, Anmerkung M.E.] Wer im Lehrerberuf oder in anderen pädagogischen Berufen tätig werden will, muss Erziehungssituationen, Unterrichts- und Erziehungsaufgaben und Lernprozesse in ihren anthropologischen, gesellschaftlichen und politischen Bezügen analytisch verstehen können. Eine so begründete kritisch-wissenschaftliche Haltung gegenüber der pädagogischen Arbeit läßt sich nur durch eine Ausbildung erreichen, die auf Ergebnissen und Methoden der Erziehungs-, Verhaltens- und Gesellschaftswissenschaften aufbaut“ (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 221f.).
Die einzelnen Bundesländer sind den Empfehlungen des Bildungsrats auf unterschiedliche Weise gefolgt. Während konservativ regierte Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg an unterschiedlichen Lehramtsstudiengängen festhielten, sind sozialdemokratisch dominierte Länder stärker den Vorschlägen des Bildungsrats gefolgt und haben die Lehramtsstudiengänge stufenweise organisiert, so zum Beispiel Hessen oder Nordrhein-Westfalen. Der Anteil erziehungswissenschaftlicher Anteile in den jeweiligen Lehramtsstudiengängen ist ebenfalls sehr unterschiedlich, erst in jüngster Zeit hat durch die Einführung modularisierter Studiengänge eine gewisse Angleichung stattgefunden, so sind bspw. in Bayern erst seit der geänderten Lehramtsprüfungsordnung von 2008, die die Bologna-Vorgaben umzusetzen versucht, Veranstaltungen in den Fächern Schulpädagogik, allgemeine Pädagogik und pädagogische Psychologie Pflicht für alle Lehramtsstudenten. Vor wie nach dieser Änderung durch Vorgaben des bayerischen Kultusministeriums sind die Studieninhalte in diesen Fächern für alle Lehramtsstudierenden allerdings gleich. Die angehende Sonderpädagogin sitzt in einem Schulpädagogik-Seminar neben dem zukünftigen Gymnasiallehrer und setzt sich z.B. mit unterschiedlichen Planungs-Modellen des Unterrichts auseinander. Allgemeindidaktische Grundlagen sind für alle Lehrer identisch, die Unterschiede nach Lehramt und Fach stellen sich erst auf der konkreten fachdidaktischen Ebene ein. Aus diesem Grund kann es streng genommen keine schulartbezogenen Didaktiken geben: An der Förderschule wie am Gymnasium folgt der Lehrer bei der Planung von Unterricht anerkannten didaktischen Grundsätzen, worin sollte sich auch eine Theorie des Unterrichts für 14-Jährige an der Förder-, Haupt-, Realschule oder am Gymnasium unterscheiden? Analog gilt das auch für den pädagogischen Umgang mit Schülern sowie bei der Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse[3]. Neben dem Querschnittsbereich der erziehungswissenschaftlichen Fächer studieren die Lehramtskandidaten ihre Fächer, Fachdidaktiken und Grund- oder Sonderschulpädagogik. Die besonders im Studium für das Lehramt an Gymnasien stark dominierenden Anteile der Unterrichtsfächer führen konsequenterweise zu der Wahrnehmung bei den Studierenden, dass pädagogische aber auch didaktische Fragen für ihren späteren Beruf von untergeordneter Bedeutung sind (vgl. Erhardt 2006, S. 21-25). Zudem führt der starke Bezug auf das eigene Lehramt im Studium und die entsprechende Wahrnehmung der besonderen Inhalte hier hauptsächlich bei Studierenden des Grundschul- bzw. Sonderschullehramts zu einer Unkenntnis oder Nicht-Beachtung der Inhalte und Anforderungen der anderen Lehrämter.
Vor diesem Hintergrund haben die Autoren als Vertreter einer sonderpädagogischen Fachrichtung und der Schulpädagogik ein gemeinsames Seminar zu Fragen der Inklusion vor allem im Hinblick auf die Lehrerbildung konzipiert, das erstmalig im Wintersemester 2009/2010 mit 30 Studierenden durchgeführt wurde und seitdem von beiden Lehrstühlen im Wahlpflichtbereich für Lehramtsstudierende angeboten wird. Bei der Umsetzung zu diesem interdisziplinären Seminar waren folgende Überlegungen leitend: Das Seminar soll alle Lehramtsstudierenden erreichen. Um eine möglichst ausgeglichene Zusammensetzung der Studierenden unterschiedlicher Lehrämter zu erreichen, wurden die Plätze im Seminar nach dem Proporz 15 Teilnehmer aus dem Regelschullehramt und 15 Teilnehmer aus dem Sonderschullehramt aufgeteilt. Das war möglich, da die Nachfrage nach dem Seminar stets das Angebot an Plätzen überstieg, wobei die Nachfrage der Studierenden des Sonderschullehramts immer deutlich höher war als die aus dem Bereich des Regelschullehramts (hier waren am stärksten die Grundschulpädagoginnen vertreten), was dazu führte, dass am Seminar meist zwischen 60% und 70% Sonderpädagoginnen und -pädagogen teilnahmen. Das Thema „Inklusion“ sollte ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention, dem bayerischen Schulgesetz (BayEUG), begrifflicher Bestimmungen von Integration/Inklusion sowie der Idee der „Pädagogik der Vielfalt“ (vgl. Prengel 2006) systematisch behandelt werden und pädagogische wie didaktische Konsequenzen dieses Ansatzes (innere Differenzierung, teamteaching) für alle Lehrämter auch vor dem Hintergrund struktureller Vorgaben (Schulsystem auch im internationalen Vergleich) diskutiert werden.
Im Verlauf des ersten Durchlaufs des Seminars sowie auch im Folgesemester zeigte sich, dass die Teilnehmer am Seminar mit den offiziellen Vorgaben und den begrifflichen Abgrenzungen relativ vertraut waren, vor allem die Studierenden des Sonderschullehramts kannten sich in der Regel dabei gut aus, auffallend war die relative Unkenntnis des jeweilig anderen Lehramts. Wir hatten erwartet, dass die Studierenden der Lehrämter der Regelschule sich kaum mit den sonderpädagogischen Fachrichtungen auskannten. Überraschend war, dass die Sonderpädagogik-Studenten oft nicht die spezifischen Besonderheiten anderer sonderpädagogischen Fachrichtungen kannten, z.B. in welchem Förderschwerpunkt wird welcher Lehrplan angewandt. Als Konsequenz aus dieser Erfahrung räumten wir in den Folgesemestern der Vorstellung der einzelnen Lehrämter und ihrem Umgang mit Heterogenität einen größeren Raum ein. Diese Informationen über den Aufbau, die Strukturen und Zielsetzungen der jeweiligen Schulart, aber auch deren Schülerschaft und deren Haltung zur Frage der Heterogenität bilden eine notwendige Voraussetzung für eine perspektivische Zusammenarbeit in einem inklusiven Setting und ermöglichen es, die jeweiligen Kompetenzen der anderen Schulart, aber auch deren mögliche Vorbehalte einschätzen und bewerten zu können.
Es zeigte sich zudem, dass in der Diskussion um die Umsetzung von Inklusion die Finanzierungsfrage von Studierenden unterschiedlicher Lehrämter oft als „Totschlagargument“ eingeführt wurde, so dass zu diesem Thema auch eine eigene Sitzung eingeplant wurde. Große Unsicherheit nahmen wir bei allen Studierenden, hier vor allem bei den Studierenden der Regelschul-Lehrämter, bei der Frage nach dem didaktischen Umgang mit Heterogenität wahr. Während die angehenden Förderschullehrer Möglichkeiten von Differenzierung und Individualisierung kannten und entsprechende Erfahrungen in Praktika machten, hatten die Studierenden für die Regel-Schularten kaum einen Einblick. Eine gewisse Ausnahme bildeten hier die GrundschulpädagogInnen, die vereinzelt von Erfahrungen mit didaktischen Maßnahmen berichteten und mitunter auch theoretische Ansätze im Umgang mit Heterogenität kannten. Die Seminarteilnehmer bestätigten am Ende des Semesters, dass durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion die Vorbehalte gegenüber dem Thema abnahmen und insgesamt auch Stereotypen, die gegenüber dem „anderen“ Lehramt präsent waren, abgebaut bzw. versachlicht werden konnten.
Für die universitäre Lehrerbildung lässt sich daraus ableiten, dass Lehrveranstaltungen wo immer das möglich ist, für alle Lehramtsstudiereden unabhängig vom studierten Lehramt angeboten werden sollen, und die Belange aller Schularten angesprochen werden sollten, um so die Perspektive zu weiten und eine zu starke Konzentration auf das angestrebte Lehramt zu vermeiden. Der Umgang mit Heterogenität im Unterricht vor dem Hintergrund der Vorgabe der Inklusion aller SchülerInnen darf nicht nur Gegenstand der Schulpädagogik bzw. allgemeinen Didaktik bleiben und auch nicht nur verstärkt in sonderpädagogischen Kontexten behandelt werden, sondern muss selbstverständlich auch Thema der Stufendidaktiken, wie z.B. der Grundschuldidaktik, und der Fachdidaktiken sein. Gerade die vor allem im Schulalltag verbreitete Wahrnehmung, dass für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf schließlich Sonderpädagogen die Fachleute sind und LehrerInnen der Regelschulämter sich nicht mit diesen SchülerInnen beschäftigen müssten, gilt es bereits im Studium zu durchbrechen.
StudentInnen haben oft – wie es sich in unserem Seminar auch gezeigt hat - schon in einem frühen Stadium ihres Studiums eine Haltung entwickelt, dass sie für eine bestimmte, homogene Schülerschaft zuständig seien und Heterogenität nicht „geht“, aus welchen Gründen auch immer, seien sie didaktischer oder schulorganisatorischer Natur. Diese im Grunde auch pädagogisch unhaltbare Position ist sicherlich der starken Differenzierung der einzelnen Lehramtsstudiengänge aber auch unreflektierten Erfahrungen aus Schulpraktika geschuldet, wenn nicht sogar Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit dafür verantwortlich sind. Hier müsste universitäre Lehrerbildung ansetzen und durch Bezug auf wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Thema Inklusion im klassischen Sinn aufklären und auch Raum geben, Erfahrungen zu reflektieren und auch den Studierenden der Regelschullehrämter Praktika in Förderschulen ermöglichen.
Die Modularisierung der Lehramtsstudiengänge böte die Chance: Mit der Einrichtung von Masterstudiengängen für alle Lehramtsstudiengänge – in Bayern ist z.B. vom zuständigen Kultusministerium bisher nur der Bachelorabschluss und das erste Staatsexamen für alle vorgesehen – könnte aufbauend auf einen entsprechenden Bachelorstudiengang der Umgang mit Heterogenität behandelt und unter verschiedenen Fachperspektiven reflektiert sowie in speziellen Veranstaltungen die stiefmütterlich behandelten Schulpraktika aufgearbeitet werden. Es soll hier nicht noch ein weiterer Vorschlag gemacht werden, wie man die Lehrerbildung verbessern könnte, es gibt schon genug sinnvolle Konzepte dazu (vgl. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2006). Es müsste nur für alle an der Lehrerbildung beteiligten Konsens werden, dass nur eine auch an didaktischen und erziehungswissenschaftlichen Inhalten ausgerichtete Lehrerbildung qualitätsvoll sein kann.
Als Minimallösung einer Berücksichtigung inklusiver Inhalte sollte neben der inhaltlichen Verankerung in den einzelnen Lehramtsstudiengängen eine für alle Lehramtsstudierende verpflichtende Veranstaltung in heterogenen Lehramtsgruppen angeboten werden, die die Voraussetzungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts auch gemeinsam reflektieren, im Idealfall als Dozententeams, die „team teaching“ im Seminar praktizieren.
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Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. 3. Aufl. Wiesbaden
Ratz, Christoph (2011): Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Fachorientierung und Inklusion als didaktische Herausforderungen. Oberhausen.
Trapp, Ernst Christian (1780/1977): Versuch einer Pädagogik. Unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe Berlin 1780. Mit Trapps hallischer Antrittsvorlesung Von der Nothwendigkeit, Erziehen und Unterrichten als eine eigene Kunst zu studiren Halle 1779. Besorgt von Ulrich Herrmann. Paderborn, Schöningh.
Trautmann, Matthias/Wischer, Beate (2011): Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Wiesbaden
[2] Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass in der schulpädagogischen Diskussion wie beispielsweise bei Trautmann/Wischer bei dem Thema Heterogenität auf die Frage nach dem Umgang mit Kindern mit Beeinträchtigungen eingegangen wird (vgl. Trautmann/Wischer 2011, S. 49f.), während in einer beachtenswerten empirischen Studie aus dem Bereich der Lehr-Lern-Forschung, die die Lehrkompetenz im Hinblick auf den Umgang mit leistungsheterogenen Gruppen untersucht, Regelklassen herangezogen werden und Differenz nur im Hinblick auf Herkunft und Migrationshintergrund thematisiert wird (vgl. Beck et al. 2008, S. 72-75).
[3] Sinnvollerweise hat sich eine Unterscheidung nach Entwicklungsstufen auf universitärer Ebene und in den erziehungswissenschaftlichen Disziplinen durchgesetzt. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten sowie Bedürfnisse. Aus diesem Grund ist eine Einteilung in Elementar- und Grundschulpädagogik sowie Pädagogik für die Sekundarstufe I oder II und Sonderpädagogiken überzeugender als die schulartspezifische Betrachtung.