Jaqueline & Toni Simon: Stadt als Schule? Zum Zusammenhang von Schul(raum)entgrenzung und inklusiven Schulentwicklungsprozessen[1]

Abstract: Das inklusionspädagogische Paradigma hat nicht nur weitreichende Implikationen für didaktische Konzeptionen und die ‚innere‘ Umgestaltung von Lernsettings i. S. der Anpassung von Schule an das Kind (und nicht wie traditionell umgekehrt!) bis hin zur Auflage der Umgestaltung des gesamten deutschen Bildungssystems, welches sich derzeit nach wie vor als hoch selektiv und wenig inklusiv präsentiert. Mit der Forderung nach Inklusion können auch Überlegungen zur Deformalisierung von Bildungsprozessen (Bollweg 2008) einhergehen. In diesem Beitrag soll daher der Gedanke des Zusammenhangs von Inklusion und inklusionspädagogischen Konsequenzen für Schulentwicklungsprozesse in Richtung einer Schul(raum)entgrenzung entfaltet werden. Diese Gedankenskizze wird durch einzelne Bezüge zu Typologien schulischer Raumentwürfe (Böhme & Herrmann 2011) ergänzt. Während die Notwendigkeit einer Entgrenzung von Schule als logische Konsequenz des inklusionspädagogischen Paradigmas dargestellt werden wird, wird ebenso die Determiniertheit von Innovationsprozessen durch tradierte Strukturen und Raumentwürfe im Fokus der Auseinandersetzungen stehen, allem voran der Fakt, dass die Mehrheit deutscher Schulen dominant auf Homogenisierung und die Sicherung von Machtverhältnissen ausgerichtet zu sein scheint. Am konkreten Beispiel des Konzeptes „Stadt als Schule“ wird darüber hinaus zu zeigen versucht, wie Raumkonzepte von Schule und damit auch das Verständnis und die Praxis von Lernen verändert werden können und welche Implikationen dies ferner für die Inklusionsbewegung an sich haben kann, wenn Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird und zur Veränderung der Mehrheitsgesellschaft beitragen soll.
Inhaltsverzeichhnis
1. Vorwort: Zum Verhältnis von Integration und Inklusion
2. Inklusion als Deformalisierungsmotor?
3. Zur Deformalisierung von Bildung als Aspekt inklusiver Schulentwicklungsprozesse und ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Etablierung des Inklusionsgedankens
4. Bat Yam und das Konzept der „Stadt als Schule“
5. Rück- und Ausblicke
Literatur

1. Vorwort: Zum Verhältnis von Integration und Inklusion

Integration bedeutet gemeinhin, es wird zusammengeführt (integriert), was zuvor getrennt war. Bezogen auf das Bildungssystem meint dies, alle Kinder und Jugendliche, die bisher im Rahmen des auf Selektion und Homogenisierung ausgelegten Bildungssystems von der Allgemeinen Schule exkludiert wurden, haben das Recht darauf, an der Allgemeinen Schule zu lernen, welche sich demnach als Schule für alle Kinder versteht respektive verstehen muss. Dies wurde durch die UN-Behindertenrechtskonvention völkerrechtlich besiegelt. Inklusion fußt auf Grundlagen, die eine Integration gar nicht erst erforderlich machen (Schöler 2011: 3f.) und stellt die kritisch-reflexive Weiterführung von Integration auf dem Weg zu einer Allgemeinen Pädagogik dar (vgl. Hinz 2002, Sander 2002). Verstanden als ‚gesamtgesellschaftliches Konzept’ bedeutet Inklusion für alle gesellschaftlichen Teilsysteme die Notwendigkeit der Garantie gemeinsamer Lern- und Lebensfelder unter dem Postulat egalitärer Differenz (Prengel 1993). Die Konsequenz der Aufhebung der Separation bzw. Exklusion von Kindern im und durch das (allgemeine) Bildungssystem stellt einen Aspekt schulischer Inklusion dar. Im Rahmen dieses Beitrags soll der Fokus jedoch auf einen anderen Aspekt von Inklusion gelegt werden.

2. Inklusion als Deformalisierungsmotor?

Schulen schaffen und verteidigen „Grenzziehungen zwischen dem schulpädagogischem Innenraum und dem außerschulischem Raum“ und konstruieren sich „als kulturelles Bildungsmonopol“ (Böhme/Herrmann 2011: 162). Jeanette Böhme und Ina Herrmann haben in ihren Studien zum „Verhältnis von Schulraum und Schulkultur“ eine Typologie schulischer Raumentwürfe fundiert, auf deren Grundlage „die dominanten schulkonzeptionellen Vorstellungen zur Ausformung von Machtrelationen im pädagogischen (Interaktions-)Raum“ (ebd.: 11) beschrieben werden können. Unter Bezug auf raum-, schul- und machttheoretische Konzepte haben die Autorinnen schulische Raumentwürfe herausgearbeitet, die in je spezifischer Weise mit dem Umgang mit Entgrenzungsdynamiken, dem Umgang mit Heterogenität und der Ausgestaltung von Machtverhältnissen korrelieren. Auch sie thematisieren die „Bedeutungszunahme informellen Lernens und […] außerschulischer Lernräume für Kinder und Jugendliche“ (ebd.: 40) und fassen im Rahmen ihrer raumwissenschaftlichen Analysen „Die Begründungs-, Entgrenzungs- und Heterogenitätsproblematiken […] in den schulischen Raumentwürfen als schulisches Krisenpotenzial“ auf (ebd.). In ihrer Zusammenfassung kommen sie zu folgendem Ergebnis: „In den untersuchten Schulen dominieren deutlich geschlossene Raumentwürfe, die auf eine homogenisierende Vermassung der Schülerschaft zielen. […] Die Studie zeigt damit auf, dass in den schulkulturellen Orientierungen ein institutionelles Homogenisierungsstreben deutlich überwiegt.“ (ebd.: 138)  
An diese Ergebnisse anknüpfend und Inklusion im Rahmen von Schule auf die Akzeptanz von Bildungsvielfalt, also auf eine Akzeptanz bzw. Offenheit gegenüber Lernformen und Lernorten beziehend, erscheint die Öffnung von Schule als wichtiger, logischer und dringend notwendiger Aspekt eines gelungenen Umgangs mit Heterogenität. Die Öffnung von Schule kann durchaus auch als Gegenpol zur zunehmenden Institutionalisierung von Kindheit (vgl. Schweizer 2007: 435f.) sowie als konkreter Anspruch von Erziehungs- bzw. Bildungskritik (vgl. Stern 2006) verstanden werden. Sie trägt vor allem aber der Erkenntnis Rechnung, dass informelle Bildungsprozesse erstens auch innerhalb der Schule ablaufen, zum Beispiel in den Pausen oder auf dem Schulhof (vgl. Bollweg 2008: 24). Zweitens finden sie außerhalb von formalisierten Bildungsinstitutionen statt und halten über die Lernenden Einzug in die Bildungsinstitutionen und die dort stattfindenden Lernprozesse – ob dies gewollt wird oder nicht. Konsequent gedacht steht eine Öffnung des Systems Schule nach außen in besonderem Zusammenhang zur Inklusion bezogen auf Bildungsinstitutionen, denn eine Begrenzung des Lern-Ortes auf den Raum Schule verbunden mit der Nichtanerkennung von Lernleistungen in außerschulischen Kontexten ist in besonderem Maße prekär:

Typisch

Der Lehrer nimmt den Bach durch.

Er zeigt ein Bild.
Er zeichnet an die Wandtafel.
Er beschreibt.
Er schildert.
Er erzählt.
Er schreibt auf.
Er diktiert ins Heft.
Er gibt eine Haussaufgabe.
Er macht eine Prüfung.

Hinter dem Schulhaus
fließt munter
der Bach
vorbei.

Vorbei.
(Schulmann 1973)

  • Damit wird kindliches Lernen parzelliert und strikt aus dem natürlichen Kontext gerissen; der Raum Schule schränkt als Pflicht-‚Angebot‘ inhaltlich und räumlich ein.
  • Was Alltags- oder Lebensweltbezug respektive -relevanz ist, wird ‚im Interesse des Kindes‘ überwiegend durch Pädagog_innen bestimmt, aus Pragmatik für gesamte Klassen oder Schultypen generalisiert und gemäß einer ‚Top-Bottom-Philosophie’ im Rahmen von Lehr-Lern-Prozessen umgesetzt.
  • Wie diskriminierend diese Umstände sind, wird vor allem dann deutlich, wenn wir uns ins Bewusstsein rufen, dass Lernart, -ort, -inhalt etc. für keine andere Altersgruppe konsequenter aufdiktiert werden als für Kinder und Jugendliche. Diese Formalisierung und zwanghafte Institutionalisierung kindlichen Lernens steht prinzipiell konträr zum Inklusionsgedanken, bei dem es um die Akzeptanz von Vielfalt und das Zulassen von Heterogenität geht. Individuelle Bedürfnisse nach Lernzeit, Lernort, Lerngegenstand und Lernpartner müssen als Ausdruck von Vielfalt verstanden und entsprechend der inklusionspädagogischen Logik ebenso reflexiv gehandhabt werden. Die Formalisierung und Fixierung kindlichen Lernens auf formalisierte Bildungsinstitutionen folgt derweil einer anderen Funktion, nämlich der Sicherung von Machtrelationen im schulischen Raum und der schulkulturellen  „regelgeleiteten Homogenisierung“ (Böhme/Herrmann 2011: 12). Entgrenzungen im Pädagogischen richten sich damit explizit gegen derartige Tendenzen der Machtabsicherung und Homogenisierung und folgen dem modernen Verständnis lebenslangen Lernens. Der Begriff der Entgrenzung weist darauf hin, „dass Lernen und Bildung nicht mehr an einem Ort, nicht mehr nur zu einer Zeit und nicht mehr nur über einzelne Inhalte möglich ist, sondern in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht losgelöst erscheint (vgl. Böhnisch/Schröer 2001, Kirchhöfer 2000, 2002; BMFSFJ 2006)“ (Bollweg 2008: 21). Eine Öffnung des Raumes Schule kann als Konsequenz der Forderung eines inklusiven, im wortwörtlichen Sinne barrierefreien Bildungssystems interpretiert werden. Nach dieser Lesart stellt die Inklusionsbewegung ohne Zweifel einen Anreiz zur Deformalisierung von Bildungsprozessen dar. Die Entkoppelung von Lernprozessen und formalisierten Bildungsinstitutionen kann es Kindern erstens erlauben, sich stärker gemäß ihrer Interessen und individuellen Stärken auch über den Raum Schule hinaus frei zu entwickeln und zweitens Anerkennung für Ergebnisse selbst regulierter, explizit außerschulischer Lernprozesse in Bezug auf ihre individuelle schulische Lernbiographie zu erfahren.  

    3. Zur Deformalisierung von Bildung als Aspekt inklusiver Schulentwicklungsprozesse und ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Etablierung des Inklusionsgedankens

    Durch die Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2009 hat sich auch die BRD dazu verpflichtet, ihr Bildungssystem inklusiv zu gestalten. Einen praktikablen und mittlerweile bundesweit etablierten Leitfaden zur Anregung vor allem schulinterner Veränderungen stellt der Index für Inklusion dar (vgl. Booth/Ainscow 2002, Boban/Hinz 2003). Als praxisorientiertes Instrument zur Initiierung und Begleitung inklusiver Prozesse vermag dieser zum Abbau von innerschulischen Barrieren für das Lernen sowie zur Teilhabe aller Schüler_innen beizutragen, was im Idealfall zur Veränderung von Schule zu einer sich an der vielfachen Heterogenität ihrer Schülerschaft orientierenden Schule für alle Kinder – ohne Einschränkung – führt. Weitere Materialien mit Hilfestellungen und Impulsen für Schulen, die sich auf den Weg zur inklusiven Schule machen, hat beispielsweise der Raabe-Verlag im Jahr 2011 veröffentlicht (Raabe-Verlag 2011, 2011a, 2011b, 2011c).
    Die Nicht-Öffnung von Schule respektive das Nichtzulassen außerschulischer Bildungsorte i. S. des Festhaltens an einem ausschließlich formalisierten Bildungs- und einem damit einhergehenden Räumlichkeitsverständnis bzw. Raumkonzept kann als deutliche Barriere zwischen Schule und Außenwelt gedeutet und soll als solche kritisch hinterfragt werden. „In dem Entwurf als geschlossener (Interaktions-)Raum verteidigt die Schule ihr Machtmonopol die Kriterien zu definieren, was kulturell als Bildung gilt und was bildungsfern ist. Die metaphysische Begründung damit verbundener Normalitätsmodelle, Bildungsstandards und Selektionstechniken machen die Schule kritikresistent.“ (Böhme/Herrmann 2011: 156f.) Die Konsequenz des Abbaus von Barrieren nach außen haben wir als die Notwendigkeit einer Schulraumentgrenzung (als räumlicher Aspekt von Deformalisierungsprozessen, vgl. Bollweg 2008: 22) thematisiert. Im Rahmen solcher Deformalisierungsprozesse kommt es zu einer Verschiebung der Grenzen „zwischen schulischem und außerschulischem Lernen, da Lernen gleichermaßen Lernen innerhalb wie außerhalb von Bildungsinstitutionen umfasst (vgl. Büchner/Krah 2006).“ (ebd.)
    Eine solche Entgrenzung des Raumes Schule hat für die Inklusionsbewegung eine doppelte Bedeutung. Erstens: „Wenn Heterogenität nicht nur phrasenhaft, sondern raumtheoretisch fundiert als Chance für Bildung ausgewiesen wird, bedarf es einerseits der Anerkennung und Rekonstruktion von Bildungspotenzialen differenter Erfahrungswelten und ihrer je spezifischen Möglichkeiten für eine Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Andererseits bedarf es der Anerkennung und Rekonstruktion von Bildungspotenzialen, die sich über den Vergleich dieser Erfahrungswelten eröffnen. Pädagogik könnte dann zur Profilierung dieser alltagsweltlichen Kontrastvalidierung dienen.“ (Böhme/Herrmann 2011: 152f.) Das heißt, eine Schulraumentgrenzung trägt zur Erweiterung[2] kindlicher Lern- und Erfahrungswelten bei, ergänzt jene institutionalisierter Settings und führt darüber hinaus zum Abgleich dieser unterschiedlichen Erfahrungswelten und ihrer je spezifischen Gehalte. „Als positive Programmatik verweist der Begriff der Entgrenzung auf mehr Möglichkeiten und mehr Räume für Lernen und Bildung“ (Bollweg 2008: 14). Eine solche Anreicherung wird im Rahmen schulpädagogischer Anstrengungen über Exkursionen, Projektunterricht oder projektorientiertes Lernen und ähnliche den Rahmen von Schule aufweichende Konzepte temporär zu gewährleisten versucht. Über derartige methodische Fragen hinaus geht eine Deformalisierung von Lernen über die räumliche Öffnung auch mit der Individualisierung von Lernprozessen einher. Das heißt, nicht nur der Lernort, sondern auch Lernzeiten, Lerninhalte und mögliche Lernpartner werden zu individuell aushandelbaren Variablen.
    Zweitens unterstützt eine Entgrenzung von Schule die Etablierung von Inklusion über den Rahmen von Bildungsinstitutionen hinaus – insofern sich eine Schule als Schule auf dem Weg zur Inklusion versteht. Damit verbindet sich unsere Überzeugung, dass Inklusion keine räumliche Eingrenzung erfahren darf, da es sonst zur Verhinderung von Gemeinschaft und gemeinschaftlichem, inklusiven Leben und Lernen in der Gesellschaft kommt, indem inklusive Prozesse im Mikrokosmos Schule bleiben und als Innovationsprozess durch die Struktur des Schulraumes eingegrenzt werden. Inklusion kann nicht per se hergestellt oder lediglich durch veränderte Schul- oder Sozialpolitik herbeigeführt werden, dies ist wohl eine Binsenweisheit. Verbinden wir den Inklusionsgedanken mit der Aufgabe der Deformalisierung und Entgrenzung respektive Urbanisierung des Pädagogischen (vgl. Böhme/Herrmann 2011: 163) – oder zumindest mit dem Hinterfragen der starken Formalisierung und Institutionalisierung von Bildungsprozessen –, so verschiebt sich der Fokus des Prozesses der Inklusion. Im Zentrum stehen nun nicht mehr nur einzelne Kinder, Klassen bzw. Lerngruppen oder einzelne Schulen als Interaktions- und damit Lern- und Lebensraum, innerhalb dessen inklusives Leben und Lernen gestaltet und ermöglicht wird respektive werden soll. In den Fokus der Betrachtungen rückt nun die unmittelbare Lebenswelt: die Bezirke, Städte und Kommunen, in denen wir tagtäglich leben und lernen. Damit fungiert die alltägliche Lebenswelt als das verbindende Element einer zusammenführenden, interaktionalen (Weiter)Entwicklung von Beziehung und eines inklusiven ‚Wir-Verständnisses’ und fördert die „pädagogische Urbanisierung“ (ebd.) als Ausdruck deformalisierten Lernens.

    Im Kleinen funktioniert viel: doch es bleibt klein!
    So wie Pflanzen ihr Gewächshaus müssen auch Reformen und Innovationen den Schutzraum des funktionierenden Mikrokosmos verlassen, um sich frei verbreiten und entwickeln zu können. Verbleibt der Inklusionsgedanke (nur) im System Schule, so wird er schwerlich gesamtgesellschaftlich Fuß fassen können.
    (Grafik: Sebastian Höger)

    Diese Vorstellung ist anschlussfähig an die Kritik von Hartmut von Hentig, nach dem es „eine Ur- und Erbschwäche aller Reformen im deutschen Erziehungs- und Bildungswesen“ ist, „dass sie innerhalb der Institutionen vor sich gehen sollen, denen „education“ obliegt“ (Hentig 2006: 68). Soll die Inklusionsidee nicht nur im Rahmen von Bildungsinstitutionen als Absicht der Veränderung des Status Quo hin zur Akzeptanz von Heterogenität als ‚Normalität’ verstanden werden, können es eben nicht nur einzelne Mikrosysteme sein (hier Schulen), die sich ändern sollen. Soll das Menschenbild einer Gesellschaft geändert werden, sollte der Raum der Auseinandersetzung dann nicht die Gesellschaft selbst sein?

    4. Bat Yam und das Konzept der „Stadt als Schule“

    Im Folgenden soll am konkreten Beispiel von Bat Yam, einem Stadtteil der israelischen Metropole Tel Aviv, skizziert werden, inwiefern es gelingen könnte, zur räumlichen Öffnung von Schule beizutragen und sich damit von einer homogenisierenden Vermassung loszusagen und stattdessen die Akzeptanz von Heterogenität im Innen wie auch im Außen von Bildungsinstitutionen zu ermöglichen und voranzutreiben. Vertreter der israelischen Demokratischen Erziehungsbewegung lockern in Bat Yam mit ihrem Konzept der „Educating City“ (vgl. Schwartzberg 2009, Schwartzberg/Dvir 2011) seit Jahren die Grenzen ihrer Schulgebäude auf, indem sie die Bildungsaufgabe explizit auch in die Hände der Gemeinschaft legen. „Creating a better society“ lautet das Motto, das auf Basis demokratischer Grundwerte verstanden und praktiziert wird und davon ausgeht, dass Lernen viel mehr ist als Unterricht. Desweiteren zeigt sich am Beispiel Bat Yams ein besonders reformfreudiger, pragmatisch-erfrischender Grundgedanke, nämlich: Neue Wege werden erreicht, indem sie beschritten werden.
    Für die Bürger_innen von Bat Yam ist Bildung ein Schlüsselelement zur (stadt-)eigenen Weiterentwicklung. Durch kooperative Netzwerke zwischen den Gemeindemitgliedern, Institutionen sowie privaten und öffentlichen Organisationen soll eine Gemeinschaft entstehen, die den lebenslangen Lernprozess ihrer Schüler_innen begleiten und verwirklichen soll. Diese Öffnung der Schule soll Raum geben für ein Ich-Erproben und -Entfalten. Die Möglichkeit sich selbst in und mit der Gemeinde zu entwickeln, lässt eine besondere, vor Ort spürbare kollektive Identität entstehen. Die Grundprinzipien der auf demokratischen Werten basierenden „Education City” sind:

    Die praktische Umsetzung der „Education City“ stützt sich v. a. auf so genannte „Excellence Centers“, welche städtische Zentren in Bereichen wie Kultur, institutionelle und informelle Bildung, Wissenschaft etc. sind. Sie sollen allen Bürger_innen zur Entfaltung von spezifiziertem (Fach)Wissen dienen. Jedem Kind wird es so bspw. ermöglicht, sich außerhalb der Institution Schule Wissen in Bereichen anzueignen, die seinen persönlichen Bedürfnissen und Interessen entsprechen, um so Examen, Diplome o. a. Qualifikationen zur Erweiterung und Ergänzung seines Schulabschlusses abzulegen. In Bat Yam wird explizit gefordert und gefördert, was bei uns in Deutschland schwer möglich scheint: die Anerkennung informeller aber vor allem außerschulischer Lernprozesse und derer Ergebnisse für schulische Abschlüsse. Curricula bzw. Rahmenrichtlinien verlieren innerhalb einer solchen Schulraumentgrenzung ihre einschränkend wirkende Bedeutung – stattdessen werden individuelle Lehr- und Lern- und Förderpläne von den Schüler_innen und ihren Mentor_innen erarbeitet. In gemeinsam arrangierten Zukunftskonferenzen werden Perspektiven entwickelt. Bat Yams Schüler_innen ist es möglich, ihre Lernprozesse zu großen Teilen selbst zu regulieren und Erfahrungen für ihre (Aus)Bildung zu sammeln, ohne dabei ausschließlich an den Ort Schule gebunden sein zu müssen. Zudem haben sie die Chance unmittelbar zu erfahren, „was eine Gemeinschaft ist, was sie gibt und fordert – eine größere als die Familie […] und eine weniger künstliche und zufällige, als die Schulklasse, in die man sie hineinverwaltet…“ (von Hentig 2006: 17).
    Die „Stadt als Schule“ trägt dazu bei, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der jede/jeder durch ihre/seine Individualität zum Aufbau und zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft beiträgt und von ihr profitieren kann. Inklusive Werte wie Akzeptanz, Unterstützung und Selbstbefähigung werden hier zur potentiellen Grundlage der Lernprozesse aller Bürger_innen. Darüber hinaus ist die „Education City“ Bat Yam ein zukunftsweisendes Projekt, das gerade in Bezug auf die ethnische Vielfalt Israels sowie den Umgang mit Menschen mit Behinderung zeigt, wie eine Öffnung von Institutionen Räume schaffen kann, die als gemeinsames Drittes, Menschen zusammenführendes Element und gleichsam ‚entgrenztes’ Lernfeld wirken können.

    5. Rück- und Ausblicke

    Blicken wir nach Deutschland zurück, so scheint ein solches Vorgehen aus rein strukturtheoretischer Sicht zunächst schwierig. Das deutsche Bildungssystem klammert sich nach wie vor fest an den tradierten Status Quo. „So lässt sich also die These formulieren, dass in den [dominant vorherrschenden, d. A.] Raumentwürfen [deutscher Schulen, d. A.] Orientierungen deutlich werden, die wenig Innovationspotenzial im Bereich der Schulentwicklung aufzeigen, vielmehr auf eine Tradierung der institutionalisierten Ordnungen des pädagogischen Raums abzielen.“ (Böhme/Herrmann 2011: 163). „Wenn wir nun als dominante Orientierung in den schulischen Entwürfen eine Monopolisierung, Schließung, Normierung des schulpädagogischen (Interaktions-)Raums ausmachen, drängt sich [erstens, d. A.] die Frage auf, inwiefern hier zentrale Strukturmomente von Machtrelationen herausgearbeitet wurden, die jede institutionalisierte Form des Pädagogischen kennzeichnen“ und zweitens „inwiefern in Programmen wie […] ‚Öffnung von Schule‘ oder ‚Individuelle Förderung in der Schule‘ zwar die Umsetzbarkeit einer schulpädagogischen Praxis unterstellt wird, dabei jedoch genau die Strukturmerkmale ihrer institutionalisierten Gestalt ignoriert werden.“ (ebd.: 162) Mit diesen Überlegungen soll keinesfalls ein einseitiger Strukturdeterminismus in Bezug auf Innovationsprozesse suggeriert werden. Gleichwohl legen die Ausführungen von Jeanette Böhme und Ina Herrmann nahe, dass eine „Heterogenitätsforschung, die ihren Fokus lediglich mikrosoziologisch auf die konkreten Interaktionsprozesse einstellt“ auf einem Auge blind bleibt, solange sie „die strukturierende Rahmung des Interaktions-(Raums) nicht mit einbezieht“ (ebd.: 138) und damit letztlich Gefahr läuft, dass innovative Konzeptionen an den Barrieren schulpädagogischer Räume mindestens ins Straucheln kommen, im schlimmsten Falle scheitern.
    Ideen der Entgrenzung von Schule und der Deformalisierung von Bildung sind auch in der BRD kein Neuland und werden in der alltäglichen Schulpraxis zum Beispiel von der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, welche sich als demokratische und humane Schule versteht und damit einen Gegenentwurf zum überwiegend fremdbestimmten Lernen in Schule liefern will, angeregt respektive praktiziert. Ferner hat beispielsweise Hartmut von Hentig mit seiner Monographie „Bewährung“ ein relativ gemäßigtes, praktikables Konzept zur Entschulung der Mittelstufe durch die Einführung eines einjährigen, außerschulischen Gemeinschaftsdienstes vorgelegt (vgl. Hentig 2006). Von Hentigs Manifest ist vielleicht gerade ein passendes Beispiel dafür, dass auch gemäßigte Schulreformideen hierzulande schwer Akzeptanz zu finden scheinen. Auf welchen Widerstand Ideen stoßen, die bis an die Wurzel des deutschen Bildungssystems gehen, ist daher leicht denkbar. Dies mag eine mögliche Erklärung dafür liefern, warum Resümees zu Veränderungen im deutschen Bildungssystem in Richtung eines inklusiven Bildungssystems eher ernüchternd ausfallen (vgl. Dorrance/Dannenbeck 2011, Eichfeld/Schuppener 2011, Hinz 2011, Hudelmaier-Mätzke/Merz-Atalik 2011, Katzenbach 2011, Löser/Werning 2011, Mahnke 2011, Schumann 2011).
    Will das deutsche Bildungssystem wirklich barrierefrei und inklusiv werden, so gilt es im Inneren (z. B. die Ausgrenzung von bestimmten Schüler_innengruppen aus der allgemeinen Schule) und im Äußeren (z. B. die Eingrenzung des Lernraumes sowie die Beschränkung auf ausgewählte Schulkonzeptionen) noch viele Barrieren zu beseitigen. So vielfältig wie das kindliche Lernen ist, so vielfältig sollte ebenso ein Erziehungs- und Bildungssystem sein, das Kindern wirklich gerecht werden will. In diesem Sinne stellt die Idee von Schul(raum)entgrenzungsprozessen u. E. nach eine weitere – zumindest diskussionswürdige – Möglichkeit inklusiver Schulentwicklungsprozesse dar, um der Vielfalt der Kinder und Jugendlichen durch echte Bildungsvielfalt zu begegnen. Der Index für Inklusion als bewährtes, hilfreiches Instrument könnte zur Anregung von Entgrenzungstendenzen beitragen und helfen, diese produktiv zu nutzen.

    6. Literatur

    Boban, I. (2003): Aktiv zuhören, was Menschen möchten – Unterstützerkreise und Persönliche Zukunftsplanung. In: Zur Orientierung, Heft 4, S. 42-45
    Boban, I. (2007): Moderation Persönlicher Zukunftsplanung in einem Unterstützerkreis – "You have to dance with the group!". In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 1/2007
    Boban, I./Hinz, A. (2003): Index für Inklusion. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität
    Böhme, J./Herrmann, I. (2011): Schule als pädagogischer Machtraum. Typologie schulischer Raumentwürfe. Wiesbaden: VS Verlag
    Bollweg, P. (2008): Lernen zwischen Formalität und Informalität. Zur Deformalisierung von Bildung. Wiesbaden: VS Verlag
    Booth, T./Ainscow, M. (2002): Index for Inclusion. Developing Learning and Participation in Schools. London: Center for Studies on Inclusive Education
    Doose, S. (2011): "I want my dream!" Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer individuellen Hilfeplanung mit Menschen mit Behinderungen, 9. überarb. und erw. Neuauflage. Kassel: Netzwerk People First Deutschland e.V.
    Dorrance, C./Dannenbeck, C. (2011): Die Inklusionsdiskussion in Bayern – Stand und kritische Würdigung. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Eichfeld, C./Schuppener, S. (2011): Länderbericht Sachsen. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Hentig, H. von (2006): Bewährung. Von der Erfahrung nützlich zu sein. München/Wien: Hanser
    Hinz, A. (2002): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 2002, S. 354-361
    Hinz, A. (2011): Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Land Sachsen-Anhalt. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Hudelmaier-Mätzke, P./Merz-Atalik, K. (2011): Länderbericht Baden-Württemberg Der Wechsel beginnt: Vom Außenklassenkonzept und anderen kooperativen Modellen zu einer inklusiven Gemeinschaftsschule! In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Katzenbach, D. (2011): Umsetzung der UN-Konvention in der hessischen Bildungspolitik. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Löser, J. M./Werning, R. (2011): Inklusion in Niedersachsen: Gesetze, Aktionen und Perspektiven. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Mahnke, U.  (2011): Hardliner Sachsen – Sächsische Positionen bildungspolitischer Akteure zur UN-Behindertenrechtskonvention. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Prengel, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Opladen: Leske & Budrich
    Raabe-Verlag (2011): Auf dem Weg zur inklusiven Grundschule - Praxisbegleitung für die Schulleitung, Grundwerk. Stuttgart: Raabe
    Raabe-Verlag (2011a): Auf dem Weg zur inklusiven Grundschule - Ideen und Materialien für Lehrkräfte, Grundwerk. Stuttgart: Raabe
    Raabe-Verlag (2011b): Auf dem Weg zur inklusiven Schule – Schulleitung. Praxisbegleiter für die Schulleitung Grundwerk Inklusion. Stuttgart: Raabe
    Raabe-Verlag (2011c): Auf dem Weg zur inklusiven Schule - Lehrkräfte . Ideen und Materialien für Lehrkräfte Grundwerk Inklusion. Stuttgart: Raabe
    Sander, A. (2002): Von der integrativen zur inklusiven Bildung - Internationaler Stand und Konsequenzen für die sonderpädagogische Förderung in Deutschland. In: Hausotter, A./Boppel, W./Meschenmoser, H. (Hrsg.): Perspektiven Sonderpädagogischer Förderung in Deutschland. Middelfart (DK), European Agency etc., S. 143-164
    Schöler, J. (2011): Über Integration hinaus – Was Inklusion bedeutet. In: Auf dem Weg zur Inklusion. Praxisbegleiter für die Schulleitung. Stuttgart: Raabe
    Schönig, W. / Schmidtlein-Mauderer, C. (Hrsg., 2013): Gestalten des Schulraums. Neue Kulturen des Lernens und Lebens. Bern: hep Bildungsverlag
    Schuhmann, B. (2011): Bericht zur Umsetzung der UN-BRK in NRW. In: Zeitschrift für Inklusion Online, Ausgabe Nr. 2/2011
    Schulmann, H. (1973): Fibel für Lehrer. Im Schulton zu lesen. Hitzkirch: Comenius
    Schwartzberg, Y. (2009): The Education City. Tel Aviv, Israel: The Institute for Democratic Education. Als Download unter: http://www.democratic.co.il/uploads/The%20Education%20City.pdf
    Schwartzberg, Y./Dvir, R. (2011): The Education City Concept. Tel Aviv, Israel: The Institute for Democratic Education. Als Download unter: www.democratic.co.il/uploads/english1/Education%20City%20white%20paper.pdf
    Schweizer, H. (2007): Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn. Wiesbaden: VS Verlag
    Stern, B. (2006): Schluß mit Schule! Das Menschenrecht, sich frei zu bilden. Leipzig: Tologo


    [1] Dieser Beitrag entstand im Jahr 2011 und war ursprünglich für die Inklusions-Ausgabe einer Fachzeitschrift gedacht, die aus redaktionellen Gründen letztlich nicht zustande kam. Der Artikel wird daher um zwei Jahre verspätet hier in der Zeitschrift für Inklusion Online erstveröffentlicht, wurde dazu jedoch nicht überarbeitet. Zum Thema passende, aktuelle Veröffentlichungen (vgl. bspw. Schönig/Schmidtlein-Mauderer 2013) finden daher in diesem Beitrag keine Berücksichtigung.

    [2] Es soll uns im Rahmen dieses Beitrages explizit um die Frage nach Möglichkeiten der Erweiterung von Lernräumen gehen, nicht nur um eine Rhetorik contra formalisierte Bildungsinstitutionen. Vielmehr ist es der Zugewinn, der interessiert, wenn es zu einer zunehmenden Schulraumentgrenzung käme.

    [3] Diese Planungskonferenzen ähneln dem Konzept der persönlichen Zukunftsplanung (vgl. bspw. Boban 2003, 2007, Doose 2011).