Abstract: Mit dem Ausbau der institutionellen Betreuung von Kindern unter drei Jahren und der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen eine professionelle integrative Arbeit mit dieser Altersgruppe stattfinden kann. Tagesablauf, Eingewöhnung und das pädagogische Arbeiten muss auf die Bedürfnisse der unter Dreijährigen hin ausgerichtet werden. Eine gelingende integrative Erziehung setzt voraus, dass PädagogInnen ein Bewusstsein dafür haben, welche, auch unbewussten, Reaktionen ein Kind mit Behinderung in seinem Umfeld hervorrufen kann und wie sich diese sozialen Prozesse im Praxisfeld auswirken können. Die Bereitschaft von PädagogInnen zur Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Haltung und emotionalen Beteiligung ist nötig, um integrative Gruppenprozesse zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten.
Stichworte: Integration, Inklusion, Elementarpädagogik, unter Dreijährige, Übertragung / Gegenübertragung, Selbstreflektion, innere Haltung
Ausgabe: 3/2010
Mit dem Kinderförderungsgesetz (BMFSFJ 2008) und der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN 2008) haben für die pädagogische Praxis Fragen nach angemessenen Strukturen und Methoden für die integrative[1] Arbeit in und mit Kindergruppen von unter Dreijährigen an Bedeutung gewonnen.
Im Folgenden möchte ich mich dem hier umrissenen Praxisfeld aus zwei Richtungen nähern:
1. Die angemessene Betreuung von unter Dreijährigen in Krabbelstuben kann nicht nur durch einen bloßen Transfer der Strukturen und Methoden der „klassischen“ Elementarpädagogik für Kinder ab drei gewährleistet werden. Die ganz Kleinen stellen andere Ansprüche an die Gestaltung von Rahmenbedingungen und pädagogischen Prozessen. Diese Ansprüche bestehen unabhängig vom Vorliegen einer Behinderung, sie werden dadurch lediglich modifiziert. Im ersten Teil des Textes werde ich die Besonderheiten des Praxisfeldes Krabbelstube im Vergleich mit dem Praxisfeld Kindergarten anhand einiger grundlegender Begriffe beschreiben.
2. Die Arbeit mit Kindern mit einer Behinderung stellt besondere Anforderungen an die pädagogische Fachkompetenz von PädagogInnen. Auch bei einem individualisierenden Arbeitsansatz stellt das Vorliegen, die Definition oder die Befürchtung einer Behinderung bei einem Kind besondere Bedingungen auf allen Ebenen des pädagogischen Geschehens - Eltern, PädagogInnen, Gruppe, das betroffene Kind - her. Die Anforderungen, die hieraus erwachsen, stellen sich unabhängig von der betreuten Altersgruppe und werden durch das Alter der Kinder lediglich modifiziert.
Altersstruktur, Gruppengröße, Organisationsform
Um seine Ressourcen zum Spielen und Lernen freisetzen zu können, muss ein Kind sich sicher und gehalten fühlen. Es muss davon überzeugt sein, dass es keine „unvorhersehbaren Handlungen“ befürchten muss, die es mit all seinen „Antennen vorausahnen muß, um davon nicht überrascht und überwältigt zu werden“ (Konrad 2000, S. 48).
In einem solchen haltenden Rahmen kann das Kind „allein sein in Anwesenheit eines Anderen“ (Winnicott 2002, S.59). Diese Sicherheit gewinnt ein Kind in haltenden Beziehungen und dann, wenn es sein räumliches und zeitliches Lebensumfeld erfassen und die Regeln überblicken kann.
Die hier umrissenen Bedingungen sind am ehesten in einer klassischen Krabbelstube umgesetzt, da hier das Angebot ganz auf die Altersgruppe abgestimmt ist. Auch in alterserweiterten Gruppen können die ganz Kleinen durch Binnendifferenzierungen im Angebot und durch die Abgrenzung der größeren Kinder in eigenen Spielen ihren Platz finden. Da die Peergroups durch eine verringerte Kinderzahl nicht so groß sind, entstehen immer wieder auch Spiele und Bindungen zwischen älteren und jüngeren Kindern. Dies kann sehr anregend für die Kleinen sein. Aber es ist definitiv anstrengender. Natürlich spielt auch hier wieder die fachliche Kompetenz des Personals eine große Rolle.
Im Bereich der klassischen Kindergartenarbeit hat sich das offene Arbeiten etabliert. Hier wird von den Kindern ein hohes Maß an Selbstständigkeit und –organisiertheit erwartet. Sie spielen in wechselnden Gruppen und Räumen, die Stammgruppe hat eine mehr oder weniger geringe Bedeutung. Wenn in solchen offenen Einrichtungen Kleinkinder betreut werden, lohnt es sich, sehr genau hinzuschauen, ob nicht vielfache Überforderungen auf die Kinder warten. Dabei darf das Kriterium für eine Bewertung nicht sein, ob die Kinder ihren Tag ohne Weinen überstehen, sondern ob die Kinder so gebunden sind, dass sie sich angstfrei ihren Interessen überlassen können.
Pädagogische Fachkompetenz
Die Kompetenzen von Kindern unter drei Jahren unterscheiden sich erheblich von den Kompetenzen von Kindergartenkindern. Folgende Bereiche sind hier zu nennen:
Dementsprechend müssen die Bezugspersonen auch andere fachliche Kompetenzen vorweisen. Dies ist vor allem wichtig, wenn eine Kindergartengruppe sich für jüngere Kinder öffnet. Für PädagogInnen stellen sich damit neue Anforderungen an ihre Professionalität:
Eingewöhnung
Der Übergang in den neuen Lebensbereich Kindergruppe ist ein zentrales Ereignis und muss sehr sorgfältig gestaltet werden. Dies gilt umso mehr für kleine Kinder und viele Kinder mit Behinderung (vgl. Laewen, H.-J. u.a. 2006).
Sich in eine Kindergruppe einzugewöhnen bedeutet für ein Kind, für einen längeren Zeitraum auf die direkte Präsenz der primären Bezugspersonen zu verzichten. Dies kann gelingen, wenn das Kind emotionalen Halt in der Gruppe findet. Dieser kann in der Bindung an eine Bezugsperson bestehen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, über die Kinder in der ersten Zeit Sicherheit beziehen. Für manche ist das ein bestimmter Ort in den Räumen oder ein Spiel, auch der ritualisierte Tagesablauf kann Sicherheit geben. In jedem Fall ist es wichtig zu erkennen, in welcher Form ein Kind in die Gruppe findet und diesen Weg möglichst bedingungslos zur Verfügung zu stellen.
Eine andere Aufgabe, die sich dem Kind stellt, ist die Aufrechterhaltung der inneren Repräsentanzen der primären Bezugspersonen. Gelingt dies nicht, löst jeder Abschied die Angst aus, sie könnten sich quasi in Luft auflösen. Hier können Übergangsobjekte (vgl. Winnicott 1984, 143 ff.) eine wichtige Rolle spielen. Das ist z. B. ein Schnuller, eine Decke, ein Kleidungsstück, das von dem Kind wie ein Teil der Mama erlebt wird und sie somit auch im getrennten Zustand repräsentiert. Auch ein Foto der Familie kann helfen, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Der emotionale Halt durch die Fachkräfte und ihre Versicherung, dass der Papa bald wiederkommt, kann die Kinder unterstützen.
Die Eingewöhnung ist auch für die Eltern ein zentrales Ereignis, das muss bei der Gestaltung der Eingewöhnung unbedingt beachtet werden: Im Grunde müssen auch die Eltern eingewöhnt werden. Ihr Vertrauen in die Betreuung wird gebraucht, damit die Kinder eigenes Vertrauen entwickeln können. Die Eingewöhnung findet im Dreieck Eltern-Kind-Bezugspersonen statt: Zweifel und Unsicherheit an einer dieser drei Ecken wirkt sich auf die anderen zwangsläufig aus. Doch ebenso können von jeder Ecke aus stabilisierende Impulse in das System entsandt werden.
Wie also sollte ein gelingender Eingewöhnungsprozess aussehen?
Integrationsmodell
Eines vorweg: Die Betreuung in einer integrativen Gruppe ist grundlegend anders als Frühförderung oder Therapie. Es geht hier um einen gemeinsamen gelebten Alltag. Der Fokus der GruppenpädagogInnen liegt darauf, das Zusammenleben in einer Gruppe zu organisieren und möglich zu machen. Es geht in der Elementarpädagogik immer auch um die individuelle Förderung jedes Kindes, doch dieser Individualisierung sind durch die Arbeitsbedingungen Grenzen gesetzt. Und es ist auch gut, wenn Krabbelstube / Kindergarten ein Lebensbereich ist, der sich nicht über das Vorliegen einer Behinderung definiert. Das Kind geht in die Kindergruppe, weil es ganz normal ist, dies zu tun.
Die finanzielle Umsetzung von Integrationsmaßnahmen erfolgt in Hessen in der Form, dass die Einrichtung Geldmittel zur Einstellung von mehr Personal erhält (Familienatlas 2009). Im Falle der teilstationären Einrichtungen bedeutet dies, dass insgesamt und auf Dauer mehr Personal eingestellt werden kann. Bei Einzelintegrationen können pro Kind mit Behinderung für die Dauer dieser Maßnahme 15 Personalstunden wöchentlich finanziert werden. Dabei steht es den Einrichtungen offen, in welcher Form sie diese Stunden in ihr Personalkonzept einbinden:
Beide Modelle haben Vor- und Nachteile. Im Idealfall erwerben alle KollegInnen Handlungskompetenz in Bezug auf ein Kind mit Behinderung. Darüber hinaus nimmt eine KollegIn die Aufgabe wahr, die Kontakte zu den Fachdiensten und den Eltern zu organisieren und den Verlauf der Integrations- und Fördermaßnahmen im Blick zu behalten.
Konzept
Es lohnt sich immer, in einer Einrichtung nach dem pädagogischen Konzept zu fragen. Nachdem im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan das Thema Integration nur am Rande erwähnt wird, während gleichzeitig ein Bildungsideal umrissen wird, das die Ansprüche der Regelgrundschule an die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder zum Ziel hat (vgl Hessisches Sozialministerium 2007, 30 f.), stellt sich die Frage, wie eine Einrichtung die Vereinbarkeit dieses Anspruches mit Integration leisten will. Das mag für den Krabbelstubenbereich noch nicht im Vordergrund stehen, doch gibt es auch hier bereits spürbaren Druck in Richtung auf mehr kognitiv orientierte Bildungsangebote.
Integrative Pädagogik bedeutet, dass PädagogInnen Fachwissen über Behinderung haben und in der Lage sind, sich auf Besonderheiten im Umgang mit einem behinderten Kind einzustellen. Es ist ihnen klar, dass man Kinder nicht mit dem immer gleichen Maß messen kann, sondern es individuell große Unterschiede im Entwicklungsstand und in den Entwicklungsmöglichkeiten gibt.
Vorschulpädagogik bewegt sich nicht im wertfreien Raum. Selbst wenn PädagogInnen keine aktive Werteerziehung betreiben wollen, so sind sie doch in ihrem Reden und Handeln Identifikationsfiguren für die Kinder. Von einer integrativen Pädagogik ist zu erwarten, dass sie sich kritisch mit Fragen von Aussonderung und Diskriminierung auseinander setzt. Ebenso muss sie hinterfragen, wenn in unserer Kultur ein immer größerer Anpassungsdruck an Normen der Leistungsfähigkeit und körperlichen Ausstattung entsteht. Dabei geht es nicht primär darum, ob PädagogInnnen solche Themen aktiv in die Arbeit einbringen, sondern darum, ob sie eine innere Haltung dazu entwickeln: zum Beispiel dann, wenn die Entwicklung eines Kindes nicht im erhofften Maß voranschreitet.
Das Leben eines Kindes mit Behinderung und seines sozialen Umfeldes hat noch eine weitere Dimension, die für gelingende integrative Pädagogik von großer Bedeutung ist. Es geht darum, welche emotionalen Reaktionen die Behinderung im sozialen Umfeld auslöst, wie diese oft ambivalenten Emotionen auch unbewusst in das Beziehungsgeschehen einfließen und die Entwicklung des kindlichen Selbstbildes und Selbstbewusstseins mitgestalten. Die Entstehung eines Selbst-Bewusstseins, also die Entstehung von Gedanken, wer man selbst eigentlich ist, geschieht über die Wahrnehmung der Reaktionen von Anderen auf die eigene Person. In diesen Wahrnehmungen sind auch die emotionalen Einstellungen der anderen Personen zur eigenen Person enthalten. Diese werden über Mimik und Gestik vermittelt, über den Tonfall, über die positiven oder negativen emotionalen Reaktionen anderer Personen (vgl. Trippel 2004, 142 ff.). Es sollen im Folgenden mögliche beeinträchtigende Faktoren für die Selbstentwicklung beschrieben werden. Dies soll nicht heißen, dass die beschriebenen Personengruppen nicht auch extrem förderliche Kompetenzen und Fähigkeiten besitzen.
Die Eltern eines behinderten Kindes
Die Feststellung (oder Befürchtung) einer Behinderung bei einem Kind ist eine extreme Traumatisierung für die Eltern. Die eigenen Fantasien über die mögliche Zukunft des Kindes zerplatzen, die eigene Lebensplanung ist gefährdet, es entstehen Schuldgefühle und vielleicht auch Aggressionen oder Todeswünsche, die aber aus der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen werden müssen. All diese Emotionen finden sich in den Reaktionen der Eltern auf ihr Kind wieder und sind oftmals sehr ambivalent (vgl. Jonas 1990, 95 ff.). Die Umgehensweisen von Eltern mit dieser Situation sind ganz individuell, doch kann man davon ausgehen, dass der Blick, der auf dem Kind ruht, kein strahlender und zukunftsfreudiger Blick ist. Nicht selten löst sich die ambivalente Spannung in einem Elternsystem dadurch, dass eine Aufspaltung der Gefühle stattfindet. Ein Elternteil empfindet dann im Übermaß die Schwere und die Sorge um das Kind und seine Zukunft. Der andere Elternteil neigt dazu, die „Sache“ leicht zu nehmen und konzentriert sich auf die Aspekte, die Mut und Hoffnung machen. In dieser Aufteilung geht schnell der gemeinsame und realistische Blick auf das Kind in seiner Gesamtheit verloren. Hier tut eine Begleitung der Eltern not, die versucht, beide Positionen wieder zusammenzubringen.
Auch die Frage nach einer Betreuung vor dem Kindergartenalter kann bei den Eltern eines Kindes mit Behinderung sehr ambivalente Gefühle auslösen. Die Aussicht auf eigene Entlastung und Förderung des Kindes liegt im Widerstreit mit einem unbewussten schlechten Gewissen, weil man sich von einer „Last“ befreit, die man doch als Schuldige/r zu tragen hat. Unter Umständen werden im Umfeld auch Vorwürfe der Verantwortungslosigkeit erhoben. Diese Ambivalenzen finden oft Ausdruck in der Frage, ob es für eine Betreuung nicht doch noch zu früh sei. Die Frühförderung kann die Eltern unterstützen bei der Beurteilung der Gruppenfähigkeit ihres Kindes und sie in ihrem Vorhaben bestärken.
Auch in der Eingewöhnung sind die Eltern oftmals sehr vorsichtig und unsicher, sie brauchen immer wieder Bestätigung und Bekräftigung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Eingewöhnungsprozess länger dauert und die PädagogInnen viel Zeit darauf verwenden müssen, eine positive Übertragung der Eltern herzustellen und sie von ihrer Kompetenz zu überzeugen.
Ein Vorteil der Betreuung im Krabbelstubenalter ist der, dass Entwicklungsdifferenzen zwischen den Kindern insgesamt noch nicht so groß sind und auch als normal angesehen werden. Dies kann es den Eltern leichter machen sich auf die öffentliche Erziehung einzulassen. Allerdings entsteht mit fortschreitendem Alter der Kinder oft eine sehr belastende Situation für die Eltern, wenn ihre Kinder in der Entwicklung zurückbleiben und überholt werden.
Die Krabbelstube ist oftmals die erste Institution, zu der das Kind nicht primär wegen seiner Behinderung Zugang hat. Dies gilt auch für die Eltern und kann für sie bei allen Schwierigkeiten auch eine Entlastung und ein Moment positiver Elternschaft sein.
Das pädagogische Personal
Als Menschen, die in einer Gesellschaft groß geworden sind, tragen auch die PädagogInnen die dort vorherrschenden Bilder zum Thema Behinderung mit sich herum. Dessen sind sie sich durchaus nicht immer bewusst. Die Konfrontation mit Behinderung kann bedrohlich sein, denn hier ist man mit der Tatsache konfrontiert, dass die eigene körperliche und geistige Unversehrtheit nicht garantiert ist. Die von gesellschaftlicher Prägung und inneren Ängsten gespeisten Bilder können sich durchaus um die Themen Ekel, Wertlosigkeit, Angst und Wut drehen und den Wunsch wecken, sich zu distanzieren und das Thema Behinderung aus der Wahrnehmung auszuschließen. Im schlimmsten Fall befürworten PädagogInnen die Integration, weil doch „jeder ein bisschen behindert“ ist, also ohne ein Bewusstsein für die tatsächliche Problemlage.
Im pädagogischen Umgang mit Kindern mit Behinderung sind PädagogInnen oft in der Situation, dass ihr alltagspraktisches Wissen zur Entwicklung und zu den Bedürfnissen von Kindern, das ihnen Sicherheit im Zugang auf Kinder gibt, nicht greift. Ein Kind mit Behinderung reagiert unter Umständen ganz anders als sie erwarten und sie können nicht auf ihre vertrauten Verhaltensmuster zurückgreifen. Es drohen Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz. Die unbewusste Reaktion auf diese Infragestellung der eigenen Kompetenz und professionellen Identität kann darin bestehen, dem Kind Entwicklungsunfähigkeit oder -unwilligkeit zu attestieren und sich innerlich aus der Förderung zurückzuziehen.
Die Tatsache „Behinderung“ ist geeignet, den Blick auf das eigentliche Kind zu verstellen. Behinderung erscheint als Konstante, die alle Lebensäußerungen eines Kindes ausbildet. Jedes nichtbehinderte Kind hat das Recht auf „Macken“, das ist ganz normal. Sie werden als Ausdruck von Individualität begriffen. Die Macken eines behinderten Kindes jedoch sind immer der Ausdruck der Behinderung und weisen das Kind als nicht normal aus. Solche Zuschreibungen und Diffamierungen sind alltäglich und beruhen wohl auf Fremdheit und Angst im Umgang mit Behinderung. Auch PädagogInnen sind nicht gefeit vor diesen Zuschreibungen.
Wohlgemerkt: Die hier skizzierten unbewussten Prozesse sind unvermeidlich und betreffen auch PädagogInnen. Die Frage der Professionalität entscheidet sich daran, ob PädagogInnen bereit dazu sind, sich durch Selbst- und Teamreflektion immer wieder über ihre unbewussten Einstellungen klar zu werden versuchen. Auf diesem Weg haben sie die Chance, zwischen objektiv vorliegenden Problemlagen und Zuschreibungen, die aufgrund der eigenen aktuellen Befangenheit oder unbewusster Vorurteile vorgenommen wurden, zu unterscheiden.
Bei der Individualität kindlicher Entwicklungsverläufe sind PädagogInnen immer wieder vor die Frage von „Halten oder Zumuten“ (vgl. Leber 1988, 41 ff.) gestellt: Ist einem Kind mit Behinderung ein erweiterter Schonraum zuzugestehen, weil man es nicht mit überhöhten Ansprüchen an Normalität überfordern will, oder behütet man ein Kind zu sehr, weil man ihm aufgrund der Behinderung nichts zutraut. Diese gegensätzlichen Positionen sind immer wieder neu auszuhandeln und tauchen oft in einer Spaltung auf verschiedene Teammitglieder verteilt auf. Professionelle Pädagogik begreift diese Differenz nicht als auszufechtenden Machtkampf, sondern vielmehr als Möglichkeit, sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinander zu setzen und in gemeinsamer Reflektion zu einem Ergebnis zu kommen. Diese Reflektion beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit der je eigenen emotionalen Beteiligung an dem Geschehen.
Wenn wir gut arbeiten, entwickelt sich eine positive und empathische Bindung zu den Eltern der von uns betreuten Kinder. Wir ziehen möglichst gemeinsam an einem Strang, um den Kleinen gute Entwicklungschancen zu bieten. In einer solchen Erziehungspartnerschaft finden auch emotionale Austauschprozesse statt. Dies beinhaltet die Möglichkeit, dass wir auch die Emotionalität der Eltern in Bezug auf ihr Kind aufnehmen, mitschwingen und unreflektiert selbst ähnliche Positionen übernehmen. Im Falle belasteter familiärer Beziehungsstrukturen bedeutet dies, dass sich diese Strukturen auch in unserem Arbeits- und Beziehungsfeld herstellen können. In der Reflektion des Beziehungsgeschehens im Team können Konfliktdynamiken als Übertragungsphänomene (vgl. Trescher 1993, 173 ff.) erkannt werden. Dies ermöglicht dem Team, die eigene Arbeitsfähigkeit zu erhalten und Hypothesen über mögliche Konfliktdynamiken im Elternsystem zu formulieren. Diese können in der Arbeit mit dem Kind und den Eltern genutzt werden.
Die Kindergruppe
Kinder im Vorschulalter haben, abhängig von ihrem Alter, noch keine konturierte Vorstellung von Behinderung. Sie sind im Prinzip noch frei von einer gesellschaftlichen Definition und Bewertung einer Behinderung. Die Zusammengehörigkeit definiert sich über die Frage, wer immer da ist und zur Gruppe gehört. Die Kinder gehen unbefangen auf andere Kinder zu und sind dann irritiert, aber vielleicht auch interessiert, wenn ein anderes Kind sich nicht ihren Erwartungen entsprechend verhält. Aber sie verlieren auch das Interesse, wenn ein Kind nicht zum Spielen taugt.
In bestimmten Phasen entwickeln Kinder eine Abneigung gegen andere Kinder, die zeigen, dass eine von ihnen selbst gerade angestrebte Entwicklung auch scheitern kann. Wer gerade gelernt hat und sich darum bemüht, halbwegs ordentlich zu essen, will vielleicht nicht neben einem Gleichaltrigen sitzen, der sich nicht darum schert, wie es auf dem Essensplatz aussieht. Gleichzeitig kann genau so etwas auch ganz faszinierend und lustvoll sein. Integration kann nicht erzwungen werden. Darum muss es Kindern möglich sein, sich von Kindern mit Behinderung abzugrenzen. Es ist dann die Aufgabe der Pädagogik, integrative Prozesse des Akzeptierens und Aushaltens von Fremdheit (wieder) zu ermöglichen.
Die Kinder in Krippe und Kindergarten sind auf dem Weg, ihr eigenes Selbstbild und Definitionen für gut und schlecht, richtig und falsch zu entwickeln. Dabei bedienen sie sich ihrer Identifikationsfiguren, die ihnen Modelle liefern dafür, was richtig und falsch, gut und schlecht ist. Dies bedeutet, dass die Kinder sehr genau beobachten und wahrnehmen, auf welche Situationen, Verhaltensweisen und Kinder die Pädagoginnen in welcher Weise reagieren. So wirken sich deren bewusste und unbewusste Einstellungen auf jeder Ebene und auch zu bestimmten, z. B. behinderten Kindern auch auf die Kindergruppe aus.
Das Kind mit Behinderung
Wie bereits beschrieben findet der Prozess der Selbst-Werdung als sozialer Prozess im Austausch und abhängig von der je eigenen personalen Umwelt statt. Ein Kind nimmt die Signale auf, die es als Spiegelung seines eigenen Tuns versteht und baut sie in sein entstehendes Selbst-Verständnis ein. Wir haben gesehen, dass das Vorliegen einer Behinderung sich auf diesen Prozess nicht nur über die primären Beeinträchtigungen auswirkt. Auch die Reaktion des Umfeldes auf die Tatsache „Behinderung“ ist ein maßgeblicher Faktor der Beeinflussung. Das Kind wird unter Umständen mit Ablehnung oder unterdrückter Aggression konfrontiert, bekommt das Gefühl vermittelt wertlos oder dumm zu sein, wird nicht beachtet oder erhält keine angemessene Reaktion auf seine Äußerungen. Wie ein Kind auf diese Situation reagiert, ist nicht vorhersehbar und gänzlich individuell. Es kann zu aggressivem oder zurückgezogenem Verhalten kommen, zur Selbstisolation oder zum Anklammern, zur Selbstüberforderung oder zur Dummheit (vgl. Gerspach 2004, 50 ff.).
Natürlich lässt sich nie klären, ob auffälliges Verhalten oder Entwicklungsstagnation direkter Ausdruck einer Behinderung sind oder das Ergebnis von sekundären, sozial entstandenen Beeinträchtigungen. Da uns die Neurobiologie aber lehrt, dass die cerebrale Entwicklung immer auch von den sozialen Erfahrungen abhängig ist (vgl. Gerspach 2009, 171 ff.), können wir davon ausgehen, dass wir durch pädagogische Arbeit immer auch einen (hoffentlich positiven) Einfluss auf das Wachsen und Werden eines Kindes haben.
Die PädagogInnen sind nicht die Eltern der von ihnen betreuten Kinder und das bedeutet: Sie sind durch die Behinderung nicht in ihrem tiefsten Inneren betroffen. Gleichzeitig sind sie als Bezugspersonen für die Kinder und (im besten Fall) die Eltern involviert in das Beziehungsgefüge der Familie mit all seinen emotionalen Traumatisierungen und Abgründen. Die empathische Offenheit und die Kompetenz zur Reflektion bietet PädagogInnen die Chance, sich mit diesen und den eigenen mitgebrachten Emotionen und Einstellungen auseinander zu setzen, sie zu be- und verarbeiten. Eine solche Auseinandersetzung macht es PädagogInnen möglich, immer wieder einen angemessenen Umgang mit einem Kind mit Behinderung zu finden, eine verstehende und kooperative Erziehungspartnerschaft mit den Eltern herzustellen und integrative Gruppenprozesse zu initiieren und zu begleiten. Die Auseinandersetzung mit Fremdheit und Irritation und ihre Überwindung ist sozusagen die Integration im eigenen Kopf, die die Integration im Arbeitsfeld möglich macht.
BMFSFJ: Gesetz zur Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und in Tagespflege (Kindertagesförderungsgesetz - KiföG), 2008
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/kifoeg-gesetz,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
Familianatlas: Internetseite. Mitherausgeber: Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit. 2009 http://www.familienatlas.de/ca/b/rn/
Gerspach, M.: Die Idee vom Kind und seine Behinderung. In: Mainkrokodile gGmbH (Hrsg.) 2004
Gerspach, M.: Psychoanalytische Heilpädagogik. Stuttgart 2009
Hessisches Sozialministerium (Hrsg.): Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. 2007 http://www.bep.hessen.de/irj/BEP_Internet?cid=3e886b03e3f606fd667ca109d53a53f4
Iben, G. (Hrsg.): Das Dialogische in der Heilpädagogik. Mainz 1988
Jonas, M.: Trauer und Autonomie bei Müttern schwerstbehinderter Kinder. Mainz 1990
Konrad, R.: Die Fähigkeit zum Alleinsein als Fähigkeit zur Selbstregulation: Stern und Winnicott. In: Fachtexte zur Entwicklung von Psychotherapie in Theorie und Praxis. 2000 http://www.psychotherapie.org/fachtext/pdf/rk_self.pdf
Laewen, H.-J. u.a.: Ohne Eltern geht es nicht. Weinheim, Basel 2006
Leber, A.: Zur Begründung des fördernden Dialogs in der psychoanalytischen Heilpädagogik. In: Iben, G. (Hrsg.): Das Dialogische in der Heilpädagogik. Mainz 1988
Mainkrokodile gGmbH (Hrsg.): Die gespiegelte Behinderung. Gelungene Integration in Krabbelstube und Kindergarten. Lüneburg 2004
Muck, M.; Trescher, H.-G.: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993
Trescher, H.-G.: Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, M.; Trescher, H.-G.: Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993
Trippel, R.: Wer oder was macht Integration möglich? In: Mainkrokodile gGmbH (Hrsg.) 2004
UN: Übereinkommen über die Rechte behinderter Menschen. 2008. Offizielle deutsche Übersetzung: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/kifoeg-gesetz,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
Winnicott, D.W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2002
Winnicott, D.W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt am Main 1984
[1] Wenn ich in diesem Text den Begriff Integration anstelle von Inklusion benutze, soll dies keine Stellungnahme im Kontext eines Begriffsstreites sein. Es sind zwei Gründe, die zur Benutzung des Begriffes Integration führen: Zum einen beschreiben wir unsere Arbeit seit über 15 Jahren mit diesem Begriff. Zum anderen scheint mir auf der semantischen Ebene der Begriff Inklusion eher die Beschreibung eines Zieles zu sein, während im Begriff Integration meiner Meinung nach eine Betonung des zurückzulegenden Weges, des pädagogischern Prozesses steckt.